Verwaltungsgericht Stuttgart:
Beschluss vom 1. März 2013
Aktenzeichen: 7 K 2641/12

(VG Stuttgart: Beschluss v. 01.03.2013, Az.: 7 K 2641/12)




Zusammenfassung der Gerichtsentscheidung

Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Stuttgart betrifft eine Kostenfestsetzung nach § 164 VwGO, bei der es darum geht, welche Gebühren dem Kläger erstattet werden müssen. Der Kläger hatte eine höhere Geschäftsgebühr beantragt, als die Kostenbeamtin ihm zugestanden hatte. Das Gericht entschied, dass eine höhere Gebühr nur dann in Betracht kommt, wenn Umstände vorliegen, die diese rechtfertigen. Die bisherige "Toleranzrechtsprechung", die es Anwälten ermöglichte, den Gebührensatz ohne Begründung um 20% zu erhöhen, wird nicht mehr angewendet. Das Gericht setzte die Kosten nun auf 874,39 EUR fest, wobei die darüber hinausgehende Erinnerung zurückgewiesen wurde. Die Kosten des Verfahrens tragen jeweils zur Hälfte der Kläger und die Erinnerungsgegnerin. In den Gründen der Entscheidung wird erläutert, dass der Spielraum des Rechtsanwalts zur Bestimmung einer höheren Gebühr als der vorgesehenen 1,3-Gebühr nur besteht, wenn besondere Umstände vorliegen, die eine solche Gebührenbestimmung rechtfertigen. Die bisherige "Toleranzrechtsprechung" kann dies nicht rechtfertigen. Das Gericht stellt außerdem fest, dass die beklagte Kostenbeamtin die Geschäftsgebühr richtig angesetzt hat, jedoch wurde die Anrechnung der Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr falsch berechnet. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 VwGO. Der Erinnerungsführer hat teilweise unterlegen und teilweise obsiegt, daher werden die Verfahrenskosten hälftig geteilt.




Die Gerichtsentscheidung im Volltext:

VG Stuttgart: Beschluss v. 01.03.2013, Az: 7 K 2641/12


Ein Spielraum des Rechtsanwalts zur Bestimmung einer höheren Geschäftsgebühr als der in Nr. 2300 RVG - VV für den Normalfall vorgesehenen 1,3 -Gebühr besteht nur dann, wenn Umstände vorliegen, die geeignet sind, eine solche Gebührenbestimmung zu rechtfertigen. Der Rechtsanwalt ist nicht berechtigt, diesen Wert ohne weitere Begründung um 20 % zu erhöhen (im Anschluss an BVerwG, Urteil vom 17.08.2005 - 6 C 13/04 - ; entgegen der sog. "Toleranzrechtsprechung" des BGH, Urteile vom 08.05.2012 - VI ZR 273/11 - und vom 13.01.2011 - IX ZR 110/10 - ).

Tenor

Der Kostenfestsetzungsbeschluss vom 01.08.2012 (7 K 3471/10) wird geändert. Die nach dem rechtskräftigen Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 29.04.2012 von der Erinnerungsgegnerin dem Kläger zu erstattenden Kosten werden auf

874,39 EUR

(in Worten: achthundertvierundsiebzig 39/100 EUR)

nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz nach § 247 BGB ab 09.06.2012 festgesetzt.

Die darüber hinausgehende Erinnerung wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Erinnerungsverfahrens tragen der Erinnerungsführer und die Erinnerungsgegnerin jeweils zur Hälfte.

Gründe

Für die Entscheidung über die Erinnerung, mit der eine Kostenfestsetzung nach § 164 VwGO angegriffen wird, ist die Einzelrichterin zuständig, da das Gericht in der Besetzung entscheidet, in der die Kostengrundentscheidung in der Hauptsache getroffen wurde.

Die Erinnerung ist gemäß §§ 165, 151 VwGO zulässig und teilweise begründet.

Die Kostenerinnerung ist unbegründet, soweit der Erinnerungsführer sich dagegen wendet, dass die Kostenbeamtin die Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 RVG-VV mit 1,3 statt mit 1,5 angesetzt hat. Der Erinnerungsführer verweist für seine Auffassung auf die zivilrechtliche sog. €Toleranzrechtsprechung€. Danach stehe dem Rechtsanwalt bei Rahmengebühren i.S. des § 14 Abs. 1 S. 1 RVG, zu denen die Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 RVG-VV zählt, bei der Bestimmung der Gebühr ein Spielraum - sog. Toleranzgrenze - von 20% zu (vgl. insbes. BGH, Urteile vom 08.05.2012 - VI ZR 273/11 - und vom 13.01.2011 - IX ZR 110/10 - , jeweils juris; kritisch dazu z.B. Böhm/Figgener, Überprüfbarkeit des Toleranzspielraums bei Gebührenbemessung, NJW-Spezial 2012, 73 ff. m.w.N.). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgericht, der die Einzelrichterin folgt, besteht demgegenüber ein Spielraum des Rechtsanwalts zur Bestimmung einer höheren Gebühr als der in Nr. 2300 RVG-VV für den €Normalfall€ vorgesehenen 1,3-Gebühr nur dann, wenn Umstände vorliegen, die geeignet sind, eine solche Gebührenbestimmung zu rechtfertigen (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.08.2005 - 6 C 13/04 -, juris, m.w.N., zu § 12 Abs. 1 S. 1 BRAGO, jetzt § 14 Abs. 1 S. 1 RVG). Dies ist hier nicht der Fall.

Nach dem eindeutigen Wortlaut von Nr. 2300 RVG-VV kann eine Gebühr von mehr als 1,3 nur gefordert werden, wenn die Tätigkeit des Rechtsanwalts umfangreich oder schwierig war. Die "Toleranzrechtsprechung" kann das Abweichen von diesen ausdrücklichen gesetzlichen Vorgaben nicht rechtfertigen.

Gemäß § 14 Abs. 1 S. 1 RVG bestimmt der Rechtsanwalt bei Rahmengebühren die Gebühr im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls. Dem liegt die Erwägung zugrunde, dass über die Bestimmung dessen, was (noch) als billig oder (schon) als unbillig zu gelten hat, leicht Streit entstehen kann. Solchen Streit will der Gesetzgeber möglichst vermeiden, indem er dem Rechtsanwalt in § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG ein Beurteilungs- und Entscheidungsvorrecht eingeräumt hat, das mit der Pflicht zur Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der Bedeutung der Angelegenheit, des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit sowie der Vermögens- und Einkommensverhältnisse des Auftraggebers, verbunden ist (vgl. BTDrucks 7/3243 S. 8, 76 zur Vorgängervorschrift § 12 Abs. 1 S. 1 BRAGO). § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG ist demnach als eine am Maßstab der Billigkeit orientierte und durch bestimmte Vorgaben eingeschränkte Ermessensvorschrift zugunsten des Rechtsanwalts zu verstehen. Aus diesem Grund hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner Rechtsprechung zu § 12 Abs. 1 Satz 1 BRAGO seit jeher einen - sowohl vom erstattungsverpflichteten Dritten als auch vom Gericht zu achtenden - "gewissen Spielraum" des Rechtsanwalts anerkannt (vgl. Rechtsprechungsnachweise im Urteil des BVerwG vom 17.08.2005, a.a.O.) Diesen Spielraum hatte das Bundesverwaltungsgericht in einem Beschluss vom 01.09.1997 (- 6 B 43/97 -) dahin quantifiziert, dass der Rechtsanwalt berechtigt sei, eine Gebühr zu erheben, die bis zu 20 % über der vom Gericht objektiv für angemessen gehaltenen Gebühr liege.

Der Erinnerungsführer macht geltend, die Erhöhung des Gebührensatzes von 1,3 auf 1,5 sei schon deswegen gerechtfertigt, weil sie durch diesen Ermessensspielraum gedeckt sei. Das trifft, wie das Bundesverwaltungsgericht in seiner o.g. Entscheidung vom 17.08.2005 klargestellt hat, nicht zu.

Nach Nr. 2300 RVG-VV kann eine Gebühr von mehr als 1,3 nur gefordert werden, wenn die Tätigkeit des Rechtsanwalts umfangreich oder schwierig war. Für den €Normalfall€ geht daher Nr. 2300 RVG-VV von einer 1,3-Geschäftsgebühr aus. Mit diesem Gebührensatz ist die Tätigkeit des Rechtsanwalts immer dann angemessen bewertet, wenn sie sich nach Umfang und Schwierigkeit nicht nach oben oder unten vom Durchschnitt abhebt. Durch diese gesetzliche Wertung wird ein fester Anhalt für die Ermessensausübung gewonnen und dem verfassungsrechtlichen Gebot des Art. 3 Abs. 1 GG Rechnung getragen, gleich liegende Fälle gleich sowie unterschiedliche Fälle entsprechend ihren Unterschieden ungleich zu behandeln.

Entgegen der Rechtsauffassung des Erinnerungsführers lässt sich der in Nr. 2300 RVG-VV genannte Wert von 1,3 nicht in der Weise mit dem Ermessensspielraum des Rechtsanwalts nach § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG verbinden, dass der Rechtsanwalt berechtigt sei, diesen Wert ohne weitere Begründung um 20 % zu erhöhen. Denn durch die Maßgeblichkeit der 1,3-Gebühr im Normalfall wird wie dargelegt der Ermessensspielraum des Rechtsanwalts nach § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG im Interesse einer sachgerechten und gleichmäßigen Ermessensausübung begrenzt. Wäre es dem Rechtsanwalt gestattet, bei der Gebührenbestimmung auch in durchschnittlichen Fällen immer um bis zu 20 % über den 1,3-Gebührensatz hinauszugehen, so würde dieser Gebührensatz in der Rechtspraxis weitgehend durch eine 1,5-Gebühr abgelöst werden. Dadurch würde der Gebührenrahmen nach oben verzerrt und der Zweck des in Nr. 2300 RVG-VV genannten Wertes vereitelt werden.

Unterscheidet sich die zu beurteilende Tätigkeit des Rechtsanwalts unter den maßgeblichen Gesichtspunkten von Umfang und Schwierigkeitsgrad nicht vom Normalfall, so ist allein die Bestimmung der 1,3-Gebühr billig, die Bestimmung einer höheren Gebühr hingegen unbillig und darum für den erstattungsverpflichteten Dritten gemäß § 14 Abs. 1 Satz 4 RVG nicht verbindlich. Ein Spielraum des Rechtsanwalts zur Bestimmung einer höheren Gebühr besteht folglich nur dann, wenn die besonderen Umstände vorliegen, die nach dem Wortlaut der Nr. 2300 RVG-VV geeignet sind, eine solche Gebührenbestimmung zu rechtfertigen. Anderenfalls hat es mit der 1,3-Gebühr sein bewenden, weil auch in Anbetracht des grundsätzlichen Ermessensspielraums des Rechtsanwalts seine Tätigkeit nur mit dieser Gebühr zutreffend bewertet ist (vgl. dazu auch BVerwG, Urteil vom 17.08.2005, a.a.O., m.w.N.).

Besondere Umstände, die geeignet sind, eine über den Gebührensatz von 1,3 hinausgehenden Gebührensatz zu rechtfertigen, sind im vorliegenden Fall weder substantiiert dargelegt noch ersichtlich. Das hier streitgegenständliche Verfahren um die Erstattung von Feuerwehrkosten entspricht dem Durchschnitt verwaltungsgerichtlicher Fälle und war weder besonders umfangreich noch schwierig. Das Klageverfahren wurde von der Einzelrichterin wegen Vorliegens der Voraussetzungen des § 84 Abs. 1 S. 1 VwGO durch Gerichtsbescheid entschieden, der auch rechtskräftig geworden ist.

Die Erinnerung ist aber insoweit begründet, als der Erinnerungsführer die Höhe der Anrechnung der Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr angreift.

Gemäß Vorbemerkung 3 Abs. 4 S. 1 zu Nr. 3100 RVG-VV wird, soweit - wie hier - wegen desselben Gegenstandes eine Geschäftsgebühr nach den Nummern 2300 bis 2303 entsteht, diese Gebühr zur Hälfte, jedoch höchstens mit einem Gebührensatz von 0,75, auf die Verfahrensgebühr des gerichtlichen Verfahrens angerechnet. Nach der ausdrücklichen Regelung in Vorbemerkung 3 Abs. 4 S. 3 RVG-VV erfolgt die Anrechnung nach dem Wert des Gegenstandes, der auch Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens ist (vgl. dazu etwa Mayer in Mayer/Kroiß, Komm. zum Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, 4. Aufl., VV Teil 3, Vorbemerkung 3 zu Nr. 3100, Rn. 73, mit Fallbeispiel).

Zu Recht ist im vorliegenden Fall die Kostenbeamtin für das Widerspruchsverfahrens von einem Streitwert in Höhe von 2.760,11 EUR und (nach Teilabhilfe) für das Klageverfahren von einem Streitwert in Höhe von 1.860,11 EUR ausgegangen. Dementsprechend ist gemäß Vorbemerkung 3 Abs. 4 S. 3 zu Nr. 3100 RVG-VV aber auch die anzurechnende Geschäftsgebühr aus einem Streitwert von 1.860,11 EUR statt 2.760,11 EUR zu berechnen. Die 1,3-Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 RVG-VV aus dem gerichtlichen Streitwert beträgt 172,90 EUR, die Hälfte davon 86,45 EUR. Nur dieser Betrag ist auf die Verfahrensgebühr anzurechnen.

Weitere Einwendungen gegen die Kostenfestsetzung sind weder dargelegt noch ersichtlich. Die von der Beklagten an den Kläger zu erstattenden Kosten sind daher wie folgt festzusetzen:

1,3 Geschäftsgebühr Nr. 2300 RVG-VV aus 2.760,11 EUR 245,70 EUR1,3 Verfahrensgebühr Nr. 3100 RVG-VV aus 1.860,11 EUR 172,90 EURabzüglich 0,65 Anrechnung Geschäftsgebühr aus 1.860,11 EUR -86,45 EUR1,2 Terminsgebühr Nr. 3104 RVG-VV aus 1.860,11 EUR 159,60 EURPauschale für Post- und Telekommunikationsdienste Nr. 7002 RVG-VV für das Widerspruchs- und das verwaltungsgerichtliche Verfahren 40,-- EURDokumentenpauschale Nr. 7000 RVG-VV 38 Stück 19,-- EURZwischensumme netto 550,75 EURMehrwertsteuer 19 % Nr. 7008 RVG-VV 104,64 EURSumme der Gebühren brutto 655,39 EURzuzüglich Gerichtskosten 219,00 EURGesamt 874,39 EURDie Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 VwGO. Der Erinnerungsführer hat die Festsetzung einer 1,5 Geschäftsgebühr aus 2.760,11 EUR in Höhe von 283,50 EUR beantragt und ist damit unterlegen (Differenz zur festgesetzten 1,3-Geschäftsgebühr in Höhe von 245,70 EUR: 37,80 EUR). Darüber hinaus hat der Erinnerungsführer die hälftige Anrechnung der Geschäftsgebühr aus 1.860,11 EUR statt aus 2.760,11 EUR begehrt und hat damit obsiegt (86,45 EUR statt 122,85 EUR; Differenz: 36,40 EUR). Es ist daher angezeigt, die Verfahrenskosten hälftig zu teilen.






VG Stuttgart:
Beschluss v. 01.03.2013
Az: 7 K 2641/12


Link zum Urteil:
https://www.admody.com/gerichtsentscheidung/07baeebc06e0/VG-Stuttgart_Beschluss_vom_1-Maerz-2013_Az_7-K-2641-12




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