Bundesgerichtshof:
Urteil vom 30. September 2014
Aktenzeichen: X ZR 158/12
(BGH: Urteil v. 30.09.2014, Az.: X ZR 158/12)
Zusammenfassung der Gerichtsentscheidung
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in einem Urteil vom 30. September 2014 entschieden, dass das erteilte europäische Patent der Beklagten für nichtig erklärt wird. Das Patent betrifft ein Verfahren und eine Vorrichtung zum Schneiden von Formen in einem sich bewegenden bahnförmigen Material. Das Patentgericht hatte das Patent zunächst für nichtig erklärt, da es der Meinung war, dass der Gegenstand des Patents nicht auf erfinderischer Tätigkeit beruht. Die Beklagte hat gegen dieses Urteil Berufung eingelegt und der BGH hat dieser Berufung stattgegeben. Der BGH ist der Meinung, dass der Gegenstand des Patents sowohl neu als auch erfinderisch ist und das Patent daher Bestand hat. Die Kosten des Rechtsstreits wurden der Klägerin auferlegt.
Die Gerichtsentscheidung im Volltext:
BGH: Urteil v. 30.09.2014, Az: X ZR 158/12
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 12. Dezember 2012 an Verkündungs Statt zugestellte Urteil des 1. Senats (Nichtigkeitssenats) des Bundespatentgerichts abgeändert; die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits werden der Klägerin auferlegt.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Die Beklagte ist Inhaberin des mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 1 321 839 (Streitpatents), das am 10. Dezember 2002 unter Inanspruchnahme einer Priorität vom 10. Dezember 2001 angemeldet wurde und ein Verfahren und eine Vorrichtung zum Schneiden von Formen betrifft. Das Streitpatent umfasst 25 Patentansprüche; die Ansprüche 1 bis 19 betreffen das Verfahren und die Ansprüche 20 bis 25 die Vorrichtung. Die Patentansprüche 1 und 20 lauten in der Verfahrenssprache:
"1. A method of cutting out one at least one shape (S) preset in sheet material (10), the at least one preset shape (S) having a pattern (P) with predetermined geometry and having at least one fiducial (F,F2...), each of the at least one fiducial (F,F2...) corresponding to predetermined coordinates in the pattern (P), characterised by:
locating the global coordinates of located one or more fiducials (F,F2...) corresponding to a located shape (S) of the at least one shape (S) with a vision system (12) while the sheet material (10) moves relative to the vision system (12) and relative to a cutting system (11); cutting the pattern (P) for the located shape (5), the pattern (P) being superimposed relative to the located one or more fiducials (F,F2...), while concurrently locating the global coordinates of subsequent one or more fiducials (F,F2...) for at least a subsequent shape (5) in the moving sheet material (10); and substantially continuously repeating the concurrent processes of cutting the located shape (S) while locating the global coordinates of subsequent one or more fiducials (F,F2...) for the at least one subsequent shape (S).
20. Apparatus for cutting out a shape preset (S) in sheet material (10), characterised by:
a cut onthefly cutting system (11) for cutting a pattern (P) in the sheet material (10), the cutting system (11) being known in global coordinates; a vision system (12) for locating global coordinates of at least one fiducial (F,F2...) in the sheet material (10) which correspond with predetermined coordinates in the pattern (P); structure (16, 11, 12) for effecting relative movement substantially continuously between the sheet material (10) and the vision and cutting systems (12, 11); means (22, 16) for establishing measures of said relative movement in global coordinates; and a controller (22) for superimposing the pattern (P) with the located at least first fiducial (F,F2...), so that the cutting system (11) cuts the pattern (P) for the preset shape (S) substantially concurrently while the vision system (12) locates global coordinates of subsequent at least one fiducial (F,F2...) in the sheet material (10)."
Die übrigen Patentansprüche sind unmittelbar oder mittelbar auf die Ansprüche 1 und 20 rückbezogen. Die Klägerin hat geltend gemacht, der Gegenstand des Streitpatents sei nicht patentfähig. Die Beklagte hat das Streitpatent in erster Instanz in der erteilten Fassung und hilfsweise in zwei geänderten Fassungen verteidigt.
Das Patentgericht hat das Streitpatent für nichtig erklärt. Dagegen richtet sich die Berufung der Beklagten, die weiterhin die Abweisung der Klage erstrebt und das Streitpatent hilfsweise mit in der mündlichen Verhandlung geänderten Ansprüchen und dem in erster Instanz als Hilfsantrag II vorgelegten Anspruchssatz verteidigt. Die Klägerin tritt dem Rechtsmittel entgegen.
Gründe
Die zulässige Berufung der Beklagten hat Erfolg.
I. Das Patentgericht hat angenommen, der Gegenstand des Streitpatents beruhe nicht auf erfinderischer Tätigkeit und hat dies im Wesentlichen wie folgt begründet:
Der Gegenstand des Streitpatents sei in der erteilten Fassung und in den Fassungen der Hilfsanträge I und II für den Fachmann, einen Diplomingenieur der Fachrichtung Automatisierungstechnik mit Universitäts- oder Hochschulausbildung, der Steuerungen für Laserschneidanlagen sowie die dazugehörige Software entwickle, durch die internationale Patentanmeldung WO 99/51386 (K3) nahegelegt gewesen.
In K3 sei ein Verfahren zum Ausschneiden von mindestens einer in einem bahnförmigen Material vordefinierten Form offenbart. Die vordefinierte Form weise ein Muster mit vorgegebener Geometrie und in Gestalt von Positioniermarken (im Original: registration marks) mindestens eine Bezugsmarkierung auf, wobei die Bezugsmarkierungen mit vorgegebenen Koordinaten in dem Muster korrespondierten, wie sich daraus ergebe, dass nach der K3 jede Positioniermarke als ein Bezugspunkt verwendet werden könne, um etwa das Schneiden mehrerer "Indexstreifenkanten" (index tab edges, Kanten von Karteikartenreitern) der Reihe nach einzuleiten (K3, S. 24, Z. 9 bis 11). Auch das Lokalisieren der globalen Koordinaten der lokalisierten Bezugsmarkierungen mit einem Erfassungssensor, während sich das bahnförmige Material relativ zu dem optischen System und relativ zu einem Schneidesystem bewege, sei aus K3 bekannt. Das Muster für die lokalisierte Form werde geschnitten, wobei es relativ zu den Bezugsmarkierungen überlagert werde, worunter das Streitpatent - so führt das Patentgericht an anderer Stelle aus - die Berechnung der Bewegungsbahn der Schneidvorrichtung anhand der in das Koordinationssystem der Maschine umgerechneten Lage der einzelnen erkannten Bezugsmarkierungen und des Musters P verstehe. Anschließend würden die globalen Koordinaten der folgenden Bezugsmarkierungen lokalisiert und die Vorgänge des Schneidens und Lokalisierens wiederholt. Zwar werde die nachfolgende Bezugsmarkierung nach dem Text der K3 erst detektiert, wenn das Schneiden der vorausgehenden Form beendet sei. Aus den Figuren 5A und 5B der K3 ergebe sich jedoch, dass die Ausgangssignale des Erfassungssensors bereits gesendet würden, bevor die vorangehenden Schneidvorgänge abgeschlossen seien. Die Anordnung des Erfassungssensors deutlich vor dem Schneidwerkzeug deute darauf hin, dass die Bezugsmarkierungen bereits lokalisiert würden, bevor der Schneidvorgang für die vorausgehenden Formen beendet sei. Zu dem Erfassungssensor seien in K3 zwar keine Einzelheiten genannt; optische Sensoren seien jedoch im Zusammenhang mit der Erkennung von Mustern und Zeichen üblich, so dass der Fachmann selbstverständlich auch einen Sensor in Betracht ziehe und mithin nicht erfinderisch tätig werden müsse, um in Kenntnis des Verfahrens nach der K3 zum Gegenstand des Streitpatents zu gelangen.
II. Diese Beurteilung hält der Überprüfung im Berufungsverfahren nicht stand.
1. Das Streitpatent betrifft ein Verfahren zum Ausschneiden von Formen, die in einem sich bewegenden bahnförmigen Material vorgegeben sind, sowie eine Vorrichtung zur Ausführung des erfindungsgemäßen Verfahrens.
Nach den Ausführungen in der Streitpatentschrift waren zum Prioritätszeitpunkt Verfahren zum Ausschneiden von Formen aus einem im Wesentlichen gleichförmigen Material mittels Laserstrahls bekannt. Bei diesen Verfahren existiere das Muster der auszuschneidenden Formen nur im numerischen Speicher der Schneidevorrichtung. Das Muster könne daher an jeder beliebigen Stelle des sich fortlaufend bewegenden Materials implementiert und eine dem Muster entsprechende Form ausgeschnitten werden. In bestimmten Fällen sei es erwünscht, eine Form zu lokalisieren und auszuschneiden, die bereits auf dem Material gedruckt oder in anderer Weise darauf vorhanden sei. Das Ausschneiden von Formen oder Mustern, deren Koordinaten im Material unveränderlich festlägen, sei jedoch technisch anspruchsvoll. So müsse beispielsweise der Schneideansatzpunkt lokalisiert und die Form entlang der vorgegebenen Schneidelinien oder innerhalb eines bestimmten Toleranzbereichs der Schneidelinien ausgeschnitten werden. Die Anforderungen an die Durchführung dieser Maßnahmen erhöhten sich bei fortlaufender Bewegung des Materials, das sich während des Schneidens verzerren könne (Beschr. Abs. 4). Das Ausschneiden gemusterter Materialien zur späteren Verarbeitung sei beispielsweise in der Bekleidungs- und Möbelindustrie bekannt. Bei der Durchführung von Schneideverfahren in diesem Bereich werde ein optisches System mit einer Kamera verwendet, um einen Ansatzpunkt zu lokalisieren. Die Kamera werde von der Schneidevorrichtung getragen und könne deshalb nur innerhalb eines begrenzten Bereichs nach einem nächsten Ansatzpunkt suchen. Bevor der nächste Ansatzpunkt gesucht werden könne, müsse die mit der Kamera verbundene Schneidevorrichtung zurücksetzen, um den Schneideprozess an dem zunächst gefundenen Ansatzpunkt durchzuführen. Bei einem anderen Verfahren zum Ausschneiden der Form würden Grenz- oder Schneidelinien der Form mit Markierungen vorab gekennzeichnet und anschließend die Markierung mit einer Schneidevorrichtung nachverfolgt (Beschr. Abs. 5).
2. Die Patentschrift kritisiert, dass das Ausschneiden vordefinierter Formen aus einem sich bewegenden bahnförmigen Material noch nicht in zufriedenstellender Weise realisiert sei. Vor diesem Hintergrund erstrebt die Erfindung eine verbesserte Genauigkeit des Auffinde- und Schneidevorgangs sowie die Ermöglichung eines höheren Durchsatzes (Beschr. Abs. 5, 6).
a) Patentanspruch 1 schlägt deshalb vor (Merkmalsgliederung des Patentgerichts in eckigen Klammern):
1. ein Verfahren zum Ausschneiden von mindestens einer Form (shape S) [1.1].
2. Die Form (S)
2.1 ist in einem bahnförmigen Material (10) vorgegeben (preset) [1.2]; 2.2 weist ein Muster (pattern P) mit vorbestimmter (predetermined) Geometrie auf [1.1.1] und 2.3 mindestens eine Bezugsmarkierung (fiducial F,F2...) [1.1.2].
3. Jede Bezugsmarkierung (F,F2...) korrespondiert mit vorbestimmten Koordinaten des Musters (P) [1.2].
4. Das Verfahren besteht aus folgenden Schritten:
4.1 Die globalen Koordinaten einer oder mehrerer lokaler Bezugsmarkierungen (F,F2...) werden mit einem optischen System (12) lokalisiert [1.3.1], 4.1.1 wobei die Bezugsmarkierungen mit einer lokalen Form (S) korrespondieren, 4.1.2 während sich das bahnförmige Material relativ zu dem optischen System (12) und relativ zu einem Schneidesystem (11) bewegt [1.3.2], 4.2 Das Muster (P) für die lokalisierte Form (S) wird geschnitten, wobei es relativ zu den lokalisierten Bezugsmarkierungen (F,F2...) (der Bahn) überlagert (superimposed) wird [1.4.1].
4.3 Gleichzeitig werden die globalen Koordinaten mindestens einer folgenden Bezugsmarkierung (F,F2...) für mindestens eine folgende Form (S) in dem sich bewegenden bahnförmigen Material (10) lokalisiert [1.4.2].
4.4 Im Wesentlichen fortlaufend werden folgende Vorgänge gleichzeitig wiederholt:
4.4.1 Schneiden einer lokalisierten Form (S) und 4.4.2 Lokalisieren der globalen Koordinaten mindestens einer folgenden Bezugsmarkierung für mindestens eine folgende Form (S) [1.5.1, 1.5.2].
b) Die Merkmale der Vorrichtung nach Patentanspruch 20 korrespondieren mit den wiedergegebenen Verfahrensmerkmalen. Die Vorrichtung verfügt dementsprechend über Mittel zum Ermitteln von Messwerten der relativen Bewegung in globalen Koordinaten und eine Steuerung zum Überlagern des Musters mit der oder den lokalisierten Bezugsmarkierungen. Einer gesonderten Betrachtung der Patentfähigkeit der Vorrichtung bedarf es nicht; hiervon gehen auch das Patentgericht und die Parteien aus.
3. Zum Verständnis einzelner Merkmale ist folgendes zu bemerken:
a) Als Form, die in einem bahnförmigen Material vorgegeben oder vordefiniert ist (Merkmal 2.1), sieht das Streitpatent einen körperlich begrenzten Gegenstand an, der z.B. durch Aufdrucken oder Einweben in das bahnförmige Material eingebracht wurde und aus diesem herausgetrennt werden soll (Beschr. Abs. 4 und 20 = Übers. Abs. 4 und 37). Den praktisch besonders relevanten, jedoch in der Patentschrift nicht erwähnten Anwendungsfall bilden einstückig gewebte Airbags; hiermit befassen sich auch beide Parteien. Die Formen sind an vorher nicht bekannten Positionen in dem bahnförmigen Material vorhanden und müssen zunächst lokalisiert werden, bevor sie positionsgenau aus dem Material herausgeschnitten werden können (Beschr. Abs. 31 = Übers. Abs. 48).
b) Unter Muster (Merkmal 2.2) versteht das Streitpatent eine virtuelle Schnittlinie, die im Speicher der Maschine für jede Form existiert. Die Geometrie des Musters beschreibt eine Schneidbahn, der die Schneidevorrichtung folgen muss, um die Form aus dem Material herauszulösen. Das Muster muss dazu mit der im Material bereits vorhandenen Form in Deckung gebracht werden; dies kann für die Unversehrtheit und Brauchbarkeit der schließlich ausgeschnittenen Form ausschlaggebend sein ("Accurate superposition of the application of the pattern to the shape S in the material can be critical to the integrity and acceptability of the final cut shape S", Beschr. Abs. 20 = Übers. Abs. 37). Hierzu dienen die Bezugsmarkierungen F der Form, von denen jede mit vorgegebenen Koordinaten des Musters korrespondiert (Merkmal 3), so dass die Schnittlinie der tatsächlichen Lage der Form folgen kann. Die Bezugsmarkierungen sind in einem globalen Koordinatensystem, das beispielsweise dem Schneidesystem zugeordnet ist, vorhanden. Das Muster wird in Bezug auf die Koordinaten der Bezugsmarkierung für die korrespondierende vordefinierte Form aus dem Bahnmaterial ausgeschnitten (Beschr. Abs. 11). Die Schnittlinie entspricht allerdings nicht notwendigerweise exakt der Umrisslinie der herauszuschneidenden Form, sondern kann, etwa für einen Saum, einen bestimmten Abstand dazu haben (Beschr. Abs. 27 = Übers. Abs. 44).
c) Nach Merkmal 4.2 wird das Muster für die lokalisierte Form geschnitten, wobei das Muster relativ zu den lokalisierten Bezugsmarkierungen überlagert wird. Damit ist gemeint, dass die Schnittlinie an der Bezugsmarkierung ausgerichtet wird. Die Schritte "Lokalisieren" und "Überlagern" können gleichzeitig für unterschiedliche Bezugsmarkierungen erfolgen, unabhängig davon, ob eine nachfolgende Form in Bezug auf eine vorangehende Form auf dem bahnförmigen Material verschoben ist (Beschr. Abs. 34 = Übers. Abs. 51). Aus der nachfolgend dargestellten Figur 1 des Streitpatents ist zu erkennen, dass die optische Vorrichtung (12) bereits die nächste Bezugsmarkierung lokalisiert, während die Schneidevorrichtung (11) eine Form ausschneidet.
An dieser Stelle befindet sich eine Abbildung.
d) Aus Merkmal 4.3 ergibt sich, dass die Koordinaten der Bezugsmarkierungen für die folgende(n) Form(en) in dem sich bewegenden bahnförmigen Material (gleichzeitig mit dem Schneiden der Form) lokalisiert werden ("while concurrently locating the global coordinates of subsequent one or more fiducials F, F2 for at least a subsequent shape in the moving sheet material 10 "). Da der Patentanspruch ausdrücklich bestimmt, dass sich das Bahnmaterial bewegt, muss die Materialbahn an der optischen Vorrichtung und der Schneidevorrichtung vorbeilaufen. Eine beliebige Relativbewegung zwischen den Vorrichtungen und der Bahn reicht nicht aus.
4. Vor diesem Hintergrund hält die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit der erfindungsgemäßen Lehre durch das Patentgericht der Nachprüfung nicht stand (Art. II § 6 Abs. 1 IntPatÜbkG, Art. 56 EPÜ).
a) Die Entgegenhaltung K3 betrifft eine dynamische Laserschneidevorrichtung ("dynamic laser cutting apparatus") zum Schneiden von sich bewegendem Einsatzmaterial oder aufeinander folgenden Blattbereichen, u.a. zum Schneiden von Sätzen von Registerkarten oder Karteikarten mit angeformtem Reiter ("sets of index tab sheets") von einer sich mit hoher Geschwindigkeit bewegenden Bahn (K3, Anspr. 1). Als weitere Beispiele für bei dem Schneiden entstehende Strukturen oder Produkte nennt K3 Sammelmappen (K3, S. 31, Z. 21 bis 28 = Übers. S. 42 oben), Briefmarken oder Etiketten (K3, S. 37, Z. 23 bis 27 = Übers. S. 49 unten, S. 38, Z. 13 bis 16 = Übers. S. 50, 2. Abs.), die für Geschäftskarten, Anhänger, Ausweise und dergleichen verwendet werden können (K3, S. 40, Z. 7 bis 13 = Übers. S. 53, 2. Abs.). Die dynamische Laserschneidevorrichtung bildet vorzugsweise eine Schnittstelle mit einer konventionellen Rollendruckmaschine, um die Bahn mit hoher Geschwindigkeit durch die Druckmaschine zu bewegen, wobei die Bögen nach Bedarf bedruckt werden. Die Vorrichtung weist eine Steuerung mit einem Speicher zum Steuern des Laserschneidvorgangs, einen Scanner zum Ausrichten des Laserstrahls, einen Kodierer zur Überwachung der Geschwindigkeit und einen Erfassungssensor auf. Dieser kann über der Bahn angeordnet werden, um Passer- oder Positionsmarken ("registration marks") zu detektieren, die auf der sich bewegenden Bahn periodisch angeordnet sind und den Anfang des nächsten zu schneidenden Bogens anzeigen. Die Markierungen können als Bezugspunkt verwendet werden, um die genaue Position der sich bewegenden Bahn neu einzumessen, damit die Steuervorrichtung erkennt, an welcher Arbeitsposition sich die Materialbahn befindet und welcher Arbeitsschritt (z.B. Bedrucken oder Ausschneiden) zu einem bestimmten Zeitpunkt durchzuführen ist. Die Steuervorrichtung überwacht die relative Position der sich bewegenden Bahn, um infolge von Störungen auftretende Ungenauigkeiten zu minimieren. Sie steuert den Scanner, um eine beliebige der in dem Speicher gespeicherten Strukturen an der gewünschten Position der sich bewegenden Bahn zu schneiden. Bei der Verwendung von aufeinanderfolgenden Einzelblättern als Einsatzmaterial können die Vorderkanten der Blätter als Positionsmarken verwendet werden (K3, S. 5 bis S. 6, Z. 7 = Übers. S. 6, 3. Abs. bis S. 7, 2. Abs.).
b) Hiervon ausgehend sind das Verfahren und die Vorrichtung nach dem Streitpatent durch den Inhalt der K3 weder vorweggenommen noch waren sie für den Fachmann, den das Patentgericht zutreffend und von den Parteien unbeanstandet bestimmt hat, nahegelegt. Um den Stand der Technik zum Gegenstand des Streitpatents weiterzuentwickeln bedurfte es der Idee, den auszuschneidenden Formen in dem Bahnmaterial Bezugsmarkierungen zuzuordnen, die mit vorbestimmten Musterkoordinaten korrespondieren, und die Schneide- und Lokalisierungsvorgänge gleichzeitig ablaufen zu lassen. Für keine der beiden Maßnahmen bietet die K3 eine Anregung.
(1) Nach der Lehre des Streitpatents sind die Bezugsmarkierungen der Form zugeordnet (Merkmal 2.3), deren Position auf dem Materialband unbekannt ist, und korrespondieren mit vorbestimmten, in der Steuerung 21 gespeicherten Koordinaten x und y des Musters, in Laufrichtung und senkrecht zur Laufrichtung des Materialbandes (Merkmal 3 und Figur 1). Um die unbekannten Koordinaten einer auszuschneidenden Form aufzufinden, muss die Schneidvorrichtung deswegen nur die erste Bezugsmarkierung der Form lokalisieren (Merkmal 4.1), um aus dieser Markierung zuverlässig den Beginn der Schnittlinie ableiten zu können (Merkmal 4.2). Die absolute Position der Markierung auf der Bahn ist dafür ohne Belang.
Demgegenüber dient bei der Vorrichtung der K3 - wovon auch das Patentgericht und die Klägerin ausgehen - die Detektion der Bahnmarkierungen der Kalibrierung der Schneidvorrichtung. Die Bahnmarkierungen der K3 erlauben es, regelmäßig neu einzumessen, an welcher Relativposition zur Schneidvorrichtung sich die mit hoher Geschwindigkeit bewegte Bahn befindet, um damit Positionsstörungen in der Bewegungsrichtung der Bahn zu erkennen und (jedenfalls annähernd) sicherzustellen, dass die tatsächliche Schnittlinie der Ideallinie entspricht und tatsächlich genau die Form und nicht andere Teile der Bahn ausgeschnitten werden. Die Positionsmarken sind keine Bezugsmarkierungen, die einer auszuschneidenden Form zugeordnet sind und mit den gespeicherten Koordinaten des Musters korrespondieren, nach dem die Form ausgeschnitten werden soll. Sie bezeichnen entgegen der Auffassung des Patentgerichts und der Klägerin nicht die räumliche Position einer Form auf der Materialbahn, sondern geben entlang der sich bewegenden Bahn einen periodischen Abstand voneinander an (K3, S. 25, Z. 18 bis 21 = Übers. S. 33, letzter Abs. bis S. 34, 1. Abs.) und ermöglichen auf diese Weise eine Überwachung ("monitoring") des zeitlichen Ablaufs des Schneidprozesses. In dem kritischen Fall einer Stauchung oder Dehnung, bei der sich zu einem Zeitpunkt Z derjenige Teil der Bahn, aus dem die Form ausgeschnitten werden soll, in Laufrichtung der Bahn nicht in der Idealposition X, sondern in der Position X' befindet, erlaubt es die Rekalibrierung mittels einer detektierten Positionsmarke, dementsprechend nicht an der vorgesehenen Stelle X, sondern bei X' zu schneiden. Demgemäß setzt die Steuervorrichtung beim Auftreten jeder Positionsmarke zurück, um aus der letzten Positionsmarke einen neuen Bezugspunkt einzurichten, so dass etwaige Störungen nicht kumulativ wirken können, um die Schneidgenauigkeit zu verzerren (K3, S. 15, Z. 22 bis 26 = Übers. S. 20, 2. Abs. am Ende). Die Koordinaten der Form, die ihre Position auf dem Materialband in Laufrichtung und senkrecht zur Laufrichtung bestimmen (X-Y-Koordinaten), können hingegen nicht erfasst werden. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Beschreibung der K3, in der zu Figur 5B geschildert ist, dass die Steuervorrichtung 55, die die relative X- und Y-Position der sich bewegenden Bahn überwacht, die X- und Y-Vektoren, die die Kante 121 des Streifens 1 darstellen, an den Scanner gibt, um die Kante des Streifens zu schneiden (K3, S. 24, Z. 17 bis 23 = Übers. S. 32, 2. Abs.). Denn da die Detektion der Positionsmarke nur eine Laufzeitbestimmung (bzw. Bestimmung der Position auf der X-Achse) erlaubt, kann die "Überwachung" ("monitoring") der relativen X- und Y-Position nur eine aus der detektierten X-Position abgeleitete Positionsbestimmung der Form bedeuten.
(2) Entgegen der Auffassung des Patentgerichts ist in K3 weder offenbart noch nahegelegt, die Positionen der folgenden Bezugsmarkierungen nicht gleichzeitig mit dem Schneiden, sondern erst danach und damit nacheinander zu lokalisieren. Das Patentgericht meint, der gleichzeitige Ablauf der Vorgänge lasse sich insbesondere der Darstellung in Figur 5B der K3 entnehmen. Dies trifft nicht zu.
Von gleichzeitigem Schneiden und Auffinden von Bezugsmarkierungen für eine nachfolgend auszuschneidende Form (Merkmalsgruppe 4.4) ist in der Beschreibung der K3 nicht die Rede. Selbst wenn Figur 5B auf einen gleichzeitigen Ablauf des Schneidens und des Lokalisierens der nächsten Positioniermarke hindeuten sollte, wird der Fachmann allein aus der Skizze nicht auf diesen Ablauf schließen, ohne dass die Patentschrift ihm entsprechende Hinweise gibt (vgl. BGH, Urteil vom 9. Dezember 2009 - X ZR 124/05, GRUR 2009, 390 - Lagerregal Rn. 19, für den Fall, dass ein Merkmal nicht aus der Zeichnung zu entnehmen ist). Den Patentansprüchen der K3, insbesondere den Ansprüchen 56 und 57, die ein Laserschneidverfahren betreffen, lässt sich hierzu nichts entnehmen. Die Beschreibung schließlich erläutert ein aufeinanderfolgendes Auffinden der Positionsmarken ("Once the scanner finishes cutting, the right tab edge of the first tab, the second registration mark 28' is detected and the control device 55 recalibrate to cut the tab 2 edge 131", K3, S. 25, Z. 1 bis 3
= Übers. S. 33, 2. Abs.) und weist den Fachmann bei der Erläuterung von Figur 5B gerade nicht auf das gleichzeitige Schneiden und Auffinden von Bezugsmarkierungen hin. Aus der Patentschrift erhält der Fachmann sonach keine Hinweise auf den vom Patentgericht angenommenen Verfahrensablauf.
III. Die angefochtene Entscheidung stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 119 Abs. 1 PatG).
1. Der vom Patentgericht festgestellte Sachverhalt erlaubt nicht die Schlussfolgerung, dass die deutsche Offenlegungsschrift 101 47 641 (K14), die das Patentgericht mit dem gerichtlichen Hinweis gemäß § 83 Abs. 1 PatG in das Verfahren eingeführt hat und die als ältere nationale Anmeldung nur der Neuheit entgegenstehen könnte (Art. 139 Abs. 2 EPÜ), den Gegenstand des Streitpatents vorwegnimmt. K14 betrifft ein Gewebe und ein Herstellungsverfahren insbesondere für einstückige, teilweise mehrlagige Airbags ("onepiecewoven airbags = OPW", K14, Abs. 2). Die Schrift schlägt ein Gewebe und ein Verfahren zur Herstellung eines Gewebes vor, bei dem maschinenlesbare Markierungen in das Gewebe eingewebt oder auf das Gewebe gedruckt sind. Die Markierungen werden vor, während oder nach dem Webprozess in das Gewebe eingebracht und sind auf die Kontur eines Airbags abgestimmt. Vor oder während des Schneidens werden die Ist-Positionen dieser Markierungen ermittelt und mit den in einer Programmfolge für das Schneiden von OPW-Teilen gespeicherten Soll-Positionen vergleichen und die Differenzen für eine automatische Anpassung des Schneidprogramms verwendet.
Dies entspricht weder den Merkmalen 2.3 und 3, noch sind die nach dem Streitpatent gleichzeitig stattfindenden Vorgänge Schneiden und Lokalisieren der folgenden Bezugsmarkierung und deren fortlaufende Wiederholung offenbart.
2. Die übrigen Entgegenhaltungen nehmen den Gegenstand des Streitpatents gleichfalls nicht vorweg und legen ihn entgegen der Auffassung der Klägerin auch nicht in Kombination mit der Lehre der K3 nahe, so dass es auf die Frage der Offenkundigkeit der behaupteten Vorbenutzung nicht ankommt.
a) Die veröffentlichte europäische Patentanmeldung 494 433 (K4) betrifft ein Verfahren zum rapportgerechten (stoffmusterungsgetreuen) Zuschnitt von richtungsbetonten Materialien auf einer numerisch gesteuerten Schneidanlage, das automatisch ablaufen kann und bei dem die auszuschneidenden Konturen dem Musterverlauf des Schneidguts angepasst sind (K4, Sp. 1, Z. 45 bis 52). Im Unterschied zum Streitpatent lehrt die Schrift nicht, dass bestimmte Bezugsmarkierungen mit vorbestimmten Koordinaten des Musters korrespondieren (Merkmal 3) und gibt keinen Hinweis darauf, dass sich das bahnförmige Material während des Scannens bewegt. Schließlich werden während des Schneidens auch nicht die Koordinaten nachfolgender Formen abgetastet. Anders als beim Streitpatent sind bei K4 die Kamera und die Schneidvorrichtung nicht getrennt, sondern auf einem gemeinsamen Schneidportal angeordnet (K4, Sp. 3, Z. 38 bis 40, Figur 1). Dementsprechend können nicht eine Form ausgeschnitten und gleichzeitig die Koordinaten der nächsten Form lokalisiert werden. Nach alldem enthält K4 keinen Hinweis, ein Verfahren und eine Vorrichtung mit den Merkmalsgruppen 2 bis 4 des Streitpatents auszugestalten.
b) Die deutsche Offenlegungsschrift 35 19 806 (K5) offenbart ein Verfahren und eine Vorrichtung zum Zuschneiden von gemustertem Material. Jeder zu schneidende Stoffteil ist vor dem Schneiden in Bezug auf das Stoffmuster auszurichten, so dass das aus mehreren Einzelteilen bestehende Endprodukt ein stimmiges Muster aufweist. Auf der ebenen Schneidfläche der Schneidmaschine wird das Material aufgelegt. Die Steuerung erkennt die Ist-Position eines Musters im Material über die Koordinaten von Positionspunkten und passt die zuzuschneidenden Teile an eine gewünschte Soll-Position an. Das Abtasten und Schneiden geschieht vorzugsweise nacheinander, kann aber auch, da die Schneidvorrichtung und die optische Abtastvorrichtung unabhängig voneinander bewegbar und steuerbar sind, gleichzeitig ablaufen (K5, S. 7, Abs. 5 und 6). Damit sind jedoch nicht die Merkmalsgruppen 4.3 und 4.4 des Streitpatents verwirklicht. Die Anpassung der Ist- an die Sollposition wird - gegebenenfalls auch an unterschiedlichen Teilen gleichzeitig - durchgeführt, während sich das Material auf der ebenen Schneidfläche befindet. Die Lokalisierung von Bezugsmarkierungen nachfolgender Formen und das gleichzeitige Ausschneiden der in der vorangehenden Form auf einer im Wesentlichen sich fortlaufend bewegenden Materialbahn ist nicht Gegenstand der K5. Im Übrigen enthält auch die K5 keinen Hinweis auf das Merkmal 3.
c) Die Entgegenhaltungen WO 97/08376 (K6) und DE 693 10 519 (K7, deutsche Übersetzung der europäischen Patentschrift 653 972) liegen noch weiter ab.
d) Schließlich legen auch die behaupteten offenkundigen Vorbenutzungen den Gegenstand der Erfindung nicht nahe.
(1) Das Angebot K8 betrifft ein Lasersystem zum Schneiden von gewebten Airbags. Im Unterschied zum Gegenstand des Streitpatents handelt es sich nicht um eine Vorrichtung zum Schneiden bei Bewegung des zu schneidenden Materials (Merkmal 4.1.2), weil nach K8 das Gewebe zunächst in einer Schneidemaschine in Abschnitte vorprogrammierter Länge geschnitten und dann zum Ausschneiden der Formen auf einen Schneidrost gelegt wird (Pos. 2). Nach den Ausführungen zu Position 4 wird dort ein Punkteraster aufgenommen und mit dem idealen Punkteraster des Schneidprogramms verglichen. Bei Abweichungen wird das Schneidprogramm so korrigiert, dass die gewebten Airbags in ihrer tatsächlichen Position geschnitten werden können. Für die erfindungsgemäße Kombination von Positionsbestimmung und Schneiden der Form während der Bewegung der Bahn ergibt sich hieraus keine Anregung. Das Gleiche gilt für das Laserschneidsystem nach K9 (Pos. 3).
(2) Die Produktbeschreibung und Bedienungsanleitung "M-Finder" der My Optical Systems GmbH (K11), die durch die eidesstattliche Versicherung deren vormaligen geschäftsführenden Gesellschafters (K12) erläutert wird, betrifft ein aus drei Kameras bestehendes optisches System zur Erfassung der Lage von Fadenkreuzen auf einer Stoffbahn. Die Fadenkreuze werden nicht bei kontinuierlichem Materialdurchlauf erfasst, so dass in K11 jedenfalls Merkmal 4.1.2. nicht verwirklicht ist. Im Übrigen bauen die Produktbeschreibung K11 und die hierzu gegebenen Erläuterungen K12 ersichtlich nicht auf dem Inhalt der K3 auf, die, wie ausgeführt, schon für sich keine Anregung zur Ausgestaltung des Schneidverfahrens und der Schneidvorrichtung nach dem Streitpatent enthält. Zu einer gleichwohl für den Fachmann naheliegenden Integration des Systems der K11 in die Vorrichtung oder das Verfahren nach K3 und einem sich daraus etwa ergebenden Hinweis auf die Lösung nach dem Streitpatent ist nichts dargetan.
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 PatG und § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
Meier-Beck Grabinski Bacher Deichfuß Schuster Vorinstanz:
Bundespatentgericht, Entscheidung vom 12.12.2012 - 1 Ni 12/12 (EP) -
BGH:
Urteil v. 30.09.2014
Az: X ZR 158/12
Link zum Urteil:
https://www.admody.com/gerichtsentscheidung/178ab78138c3/BGH_Urteil_vom_30-September-2014_Az_X-ZR-158-12