Bundesverfassungsgericht:
Beschluss vom 15. November 2001
Aktenzeichen: 1 BvR 1198/01
(BVerfG: Beschluss v. 15.11.2001, Az.: 1 BvR 1198/01)
Zusammenfassung der Gerichtsentscheidung
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 15. November 2001 in dem Verfahren mit dem Aktenzeichen 1 BvR 1198/01 entschieden, dass das Urteil des Landesarbeitsgerichts München vom 29. September 1997 die Rechte der Beschwerdeführerin aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verletzt und daher aufgehoben wird. Der Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 11. Juni 2001 wird dadurch gegenstandslos. Die Sache wird an eine andere Kammer des Landesarbeitsgerichts München zurückverwiesen. Die notwendigen Auslagen muss der Freistaat Bayern der Beschwerdeführerin erstatten. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 80.000 DM festgesetzt.
Die Verfassungsbeschwerde richtete sich gegen den Beschluss des Bundesarbeitsgerichts im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren sowie gegen die Berufungsentscheidung des Landesarbeitsgerichts, die der Beschwerdeführerin erst 40 Monate nach der Verkündung zugestellt wurde. In dem Ausgangsverfahren klagte die Beschwerdeführerin auf Zahlung einer Abfindung aus einem Sozialplan, jedoch hatte die Klage vor dem Arbeitsgericht nur teilweise Erfolg. Infolgedessen wurden im November 1992 von beiden Parteien Berufungen eingelegt und es kam zu mündlichen Verhandlungen an verschiedenen Terminen. Das Landesarbeitsgericht verkündete am 29. September 1997 sein Urteil, in dem es die Berufung der Beschwerdeführerin zurückwies und auf die Berufung der Beklagten das erstinstanzliche Urteil abänderte und die Klage in vollem Umfang abwies. Die Revision ließ das Landesarbeitsgericht nicht zu. Die schriftliche Abfassung des Urteils erfolgte erst im Februar 2001 und wurde dem Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin am 23. Februar 2001 zugestellt. Gegen die Nichtzulassung der Revision legte die Beschwerdeführerin Beschwerde ein, die das Bundesarbeitsgericht als unzulässig verwarf.
Die Kammer des Bundesverfassungsgerichts nimmt die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts zur Entscheidung an, da dies zur Durchsetzung des Anspruchs der Beschwerdeführerin auf wirkungsvollen Rechtsschutz angezeigt ist. Die Verfassungsbeschwerde ist nach Maßgabe der Gründe stattzugeben. Das Landesarbeitsgericht hat durch die verspätete Zustellung des vollständigen Urteils die Rechte der Beschwerdeführerin aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verletzt. Eine landesarbeitsgerichtliche Entscheidung, in der die Revision nicht zugelassen wurde und deren vollständige Gründe erst mehr als fünf Monate nach der Verkündung übergeben wurden, kann keine geeignete Grundlage mehr für das Revisionsgericht sein, um das Vorliegen von Revisionszulassungsgründen zu überprüfen. Daher wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts aufgehoben und die Sache an eine andere Kammer des Landesarbeitsgerichts zurückverwiesen. Der Festsetzung des Wertes des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit liegt § 113 Absatz 2 Satz 3 BRAGO zugrunde.
Die Gerichtsentscheidung im Volltext:
BVerfG: Beschluss v. 15.11.2001, Az: 1 BvR 1198/01
Tenor
Das Urteil des Landesarbeitsgerichts München vom 29. September 1997 - 3 Sa 844/92 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihren Rechten aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes). Es wird aufgehoben.
Damit wird der Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 11. Juni 2001 - 1 AZN 239/01 - gegenstandslos.
Die Sache wird an eine andere Kammer des Landesarbeitsgerichts München zurückverwiesen.
Der Freistaat Bayern hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 80.000 DM (in Worten: achtzigtausend Deutsche Mark) festgesetzt.
Gründe
A.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen einen Beschluss des Bundesarbeitsgerichts im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren sowie gegen die Berufungsentscheidung eines Landesarbeitsgerichts, die der Beschwerdeführerin in vollständiger Fassung erst 40 Monate nach der Verkündung zugestellt worden ist.
I.
Die Beschwerdeführerin, eine Arbeitnehmerin, klagte im Ausgangsverfahren gegen die Beklagte, ihre bisherige Arbeitgeberin, auf Zahlung einer Abfindung aus einem Sozialplan. Die Klage hatte vor dem Arbeitsgericht nur teilweise Erfolg.
Gegen dieses Urteil legten beide Parteien im November 1992 Berufung ein. Nach mündlichen Verhandlungen am 6. Mai und 4. November 1993 sowie am 22. September 1997 verkündete das Landesarbeitsgericht am 29. September 1997 ein Urteil. Darin wies es die Berufung der Beschwerdeführerin zurück, änderte auf die Berufung der Beklagten das erstinstanzliche Urteil ab und wies die Klage in vollem Umfang ab. Die Revision ließ das Landesarbeitsgericht nicht zu. Das am 29. September 1997 verkündete Urteil gelangte erst im Februar 2001 vollständig schriftlich abgefasst zur Geschäftsstelle und wurde dem Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin am 23. Februar 2001 zugestellt. Die Beschwerdeführerin legte Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision ein, die das Bundesarbeitsgericht als unzulässig verworfen hat. Der Beschluss ist dem Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin am 22. Juni 2001 zugestellt worden.
II.
Mit ihrer am 18. Juli 2001 eingegangenen Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen den Beschluss des Bundesarbeitsgerichts sowie das Urteil des Landesarbeitsgerichts und rügt unter Bezugnahme auf den Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 26. März 2001 - 1 BvR 383/00 - (NZA 2001, S. 982) einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG), da das Urteil länger als fünf Monate nach seiner Verkündung noch nicht schriftlich abgefasst gewesen sei.
III.
Zur Verfassungsbeschwerde haben das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen sowie das Bundesarbeitsgericht Stellung genommen.
Das Bundesministerium hat mitgeteilt, dass es derzeit die Regelungen der Revisionszulassung im Arbeitsgerichtsgesetz (§§ 72, 72 a ArbGG) überprüfe. Es bestehe gesetzgeberischer Handlungsbedarf. Es werde überlegt, zumindest in gewissem Umfang auch bei Vorliegen von Verfahrensfehlern sowie bei Rechtssachen von grundsätzlicher Bedeutung, bei denen es sich nicht um tarifvertrags- oder koalitionsrechtliche Streitigkeiten handele, eine Zulassung der Revision zu ermöglichen. Die Gesetzesänderung müsse sowohl den Interessen der Recht suchenden Bürger gerecht werden als auch eine zu starke Belastung des Bundesarbeitsgerichts als Revisionsinstanz vermeiden. Allerdings werde das Vorhaben wegen seiner Bedeutung und Komplexität in der laufenden Legislaturperiode voraussichtlich nicht mehr abgeschlossen.
Das Bayerische Staatsministerium hat sich dahin geäußert, dass alleiniger Grund für die verspätete Zustellung des Urteils des Landesarbeitsgerichts der Gesundheitszustand des Kammervorsitzenden gewesen sei. Die Verzögerung werde außerordentlich bedauert.
Der Neunte und der Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts haben darauf hingewiesen, dass das Bundesarbeitsgericht im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren bei Verstößen gegen Verfahrensgrundrechte nicht abhelfen könne (vgl. BAG, Beschluss vom 26. Juni 2001 - 9 AZN 132/01 -; NZA 2001, S. 1036).
B.
I.
Die Kammer nimmt gemäß § 93 b BVerfGG die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Anspruchs der Beschwerdeführerin auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Der Verfassungsbeschwerde ist nach Maßgabe der Gründe stattzugeben. Die für die Beurteilung wesentlichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. Die Verfassungsbeschwerde ist hinsichtlich des Urteils des Landesarbeitsgerichts zulässig und begründet.
1. Das Bundesverfassungsgericht hat die einschlägigen verfassungsrechtlichen Fragen zur Bedeutung des Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) bereits entschieden.
Der Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes verbietet es den Gerichten, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise zu erschweren (vgl. BVerfGE 41, 23 <25 f.>; 69, 381 <385>). Gleichzeitig gebietet die aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Pflicht zur Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes und zur Herstellung von Rechtssicherheit, dass strittige Rechtsverhältnisse in angemessener Zeit geklärt werden (vgl. BVerfGE 60, 253 <269>; 88, 118 <124>).
2. Nach diesem Maßstab verletzt die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts die Rechte der Beschwerdeführerin aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG).
Eine landesarbeitsgerichtliche Entscheidung, in der die Revision nicht zugelassen wurde und deren vollständige Gründe erst mehr als fünf Monate nach Verkündung unterschrieben der Geschäftsstelle übergeben worden sind, kann keine geeignete Grundlage mehr für das Revisionsgericht sein, um das Vorliegen von Revisionszulassungsgründen in rechtsstaatlicher Weise zu überprüfen. Ein Landesarbeitsgericht, das ein Urteil in vollständiger Fassung erst so spät absetzt, erschwert damit für die unterlegene Partei den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise.
Wegen der weiteren Begründung wird verwiesen auf den Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 26. März 2001 - 1 BvR 383/00 -, AP Nr. 33 zu Art. 20 GG = NZA 2001, S. 982.
II.
Die angegriffene Entscheidung des Landesarbeitsgerichts ist aufzuheben und die Sache - zur Vermeidung weiterer Verzögerungen - an eine andere Kammer des Landesarbeitsgerichts zurückzuverweisen.
Die ebenfalls angegriffene Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts wird damit gegenstandslos, sodass es keines weiteren Eingehens auf die insoweit erhobenen Rügen bedarf.
Der Freistaat Bayern hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten, weil sich die Verfassungsbeschwerde als begründet erwiesen hat (§ 34 a Abs. 2 BVerfGG). Die Festsetzung des Wertes des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit beruht auf § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO.
BVerfG:
Beschluss v. 15.11.2001
Az: 1 BvR 1198/01
Link zum Urteil:
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