Bundesverfassungsgericht:
Beschluss vom 22. Februar 2006
Aktenzeichen: 1 BvR 2139/05

(BVerfG: Beschluss v. 22.02.2006, Az.: 1 BvR 2139/05)




Zusammenfassung der Gerichtsentscheidung

Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung vom 22. Februar 2006 (Aktenzeichen 1 BvR 2139/05) festgestellt, dass die Streitwertfestsetzung in einer Ehesache die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes verletzt. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 7. September 2005 - 18 WF 128/05 - und der Beschluss des Amtsgerichts Nagold vom 20. Mai 2005 über den Streitwert des Ehescheidungsverfahrens - F 137/04 ES - wurden daher aufgehoben und die Sache an das Amtsgericht Nagold zurückverwiesen.

Die Beschwerdeführerin ist eine Rechtsanwältin und wurde einem Ehemann, dem Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsverpflichtung bewilligt wurde, in einem Scheidungsverfahren beigeordnet. Auch der Ehefrau wurde Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt. Das Amtsgericht hatte den Streitwert für die Ehesache auf den Mindestwert von 2.000 € festgesetzt, woraufhin die Beschwerdeführerin Beschwerde einlegte und darauf hinwies, dass das monatliche Nettoeinkommen der Parteien 1.581 € für den Ehemann und 1.300 € für die Ehefrau beträgt.

Die Beschwerde blieb vor dem Oberlandesgericht erfolglos. Das Gericht stellte fest, dass der Streitwert nach den gesetzlichen Vorschriften unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls festzusetzen sei. Unter anderem seien die Unterhaltsverpflichtungen, Verbindlichkeiten und der geringe Arbeitsaufwand zu berücksichtigen. Das Oberlandesgericht kam zu dem Schluss, dass die Festsetzung des Mindeststreitwerts gerechtfertigt sei, da beide Parteien Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung erhalten hätten und es sich um einen offensichtlich einfach gelagerten Fall handle.

Die Beschwerdeführerin legte daraufhin Verfassungsbeschwerde ein und argumentierte hauptsächlich mit der Verletzung ihres Grundrechts aus Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes. Das Bundesverfassungsgericht nahm die Verfassungsbeschwerde an und entschied zugunsten der Beschwerdeführerin. Es stellte fest, dass die Wertfestsetzung durch die Fachgerichte ihre Berufsfreiheit unverhältnismäßig beschränkt und somit ihr Grundrecht verletzt. Eine Entscheidung, die bei der Streitwertfestsetzung die ratenfreie Bewilligung von Prozesskostenhilfe berücksichtigt, führe zu einer unverhältnismäßigen Beschränkung der Berufsfreiheit der beigeordneten Rechtsanwälte. Daher wurden die Entscheidungen des Oberlandesgerichts und des Amtsgerichts aufgehoben und die Sache an das Amtsgericht zurückverwiesen. Das Land Baden-Württemberg wurde zudem angewiesen, der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.




Die Gerichtsentscheidung im Volltext:

BVerfG: Beschluss v. 22.02.2006, Az: 1 BvR 2139/05


Tenor

1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 7. September 2005 - 18 WF 128/05 - und der Beschluss des Amtsgerichts Nagold vom 20. Mai 2005 über den Streitwert des Ehescheidungsverfahrens - F 137/04 ES - verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Nagold zurückverwiesen.

2. Das Land Baden-Württemberg hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Streitwertfestsetzung in einer Ehesache, wenn beiden Parteien Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung gewährt worden ist.

I.

Die Beschwerdeführerin ist Rechtsanwältin. Sie wurde einem Ehemann, dem für ein Scheidungsverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsverpflichtung bewilligt worden war, beigeordnet. Auch der Ehefrau wurde Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt.

1. Das Amtsgericht setzte den Streitwert für die Ehesache auf den Mindestwert von 2.000 € fest (§ 12 Abs. 2 Satz 4 des Gerichtskostengesetzes <GKG> a.F.; jetzt § 48 Abs. 3 Satz 2 GKG). Hiergegen erhob die Beschwerdeführerin im eigenen Namen Beschwerde und wies darauf hin, dass das monatliche Nettoeinkommen der Parteien aus Arbeitstätigkeit 1.581 € für den Ehemann und 1.300 € für die Ehefrau betrage.

2. Die Beschwerde blieb vor dem Oberlandesgericht ohne Erfolg. Nach § 12 Abs. 2 GKG a.F. (jetzt § 48 Abs. 2 Satz 1 GKG n.F.) sei der Streitwert unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu bestimmen. Deshalb sei zu berücksichtigen, dass die Parteien zwei minderjährigen Kindern unterhaltspflichtig seien und der Ehemann Verbindlichkeiten aus einem Autokauf mit monatlich 310 € tilge. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats rechtfertige außerdem die Bewilligung von Prozesskostenhilfe im Regelfall eine Reduzierung des Streitwerts. Dies könne bei beiderseitiger Bewilligung von Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung zu einer Festsetzung lediglich des Mindeststreitwerts führen. Schließlich habe es sich bei dem Scheidungsverfahren um einen offensichtlich einfach gelagerten Fall gehandelt, was ebenfalls die Annahme des Mindeststreitwerts rechtfertige. In einem weiteren Beschluss, mit dem es die Gegenvorstellung der Beschwerdeführerin zurückgewiesen hat, hat das Oberlandesgericht an seiner Auffassung festgehalten. Im Rahmen der erforderlichen Prüfung aller Umstände sei die Bewilligung ratenfreier Prozesskostenhilfe für beide Parteien ein Argument, das zu einer Überprüfung des den Parteien tatsächlich zur Verfügung stehenden Einkommens und in der Folge zu einer Herabsetzung des Streitwerts führen könne.

3. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin im Wesentlichen die Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG.

4. Das Justizministerium des Landes Baden-Württemberg hatte Gelegenheit zur Stellungnahme.

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Rechts der Beschwerdeführerin aus Art. 12 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor.

1. Die Wertfestsetzung durch die Fachgerichte verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG.

a) Die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat bereits mit Beschluss vom 23. August 2005 (NJW 2005, S. 2980) ausgeführt, dass eine Auslegung der gesetzlichen Vorschriften zur Bestimmung des Streitwerts gegen die Verfassung verstößt, wenn sie dazu führt, dass der Streitwert in Ehesachen wegen der beiderseitigen Bewilligung ratenfreier Prozesskostenhilfe "stets" oder "im Regelfall" lediglich auf den Mindeststreitwert von 2.000 € festgesetzt wird. Da der Streitwert auch für die Bemessung der Anwaltsvergütung maßgeblich ist, wird in solchen Fällen die Berufsfreiheit der beigeordneten Rechtsanwälte berührt. Dieser Eingriff in die Berufsfreiheit ist unverhältnismäßig, weil dem legitimen Ziel der Schonung öffentlicher Kassen bereits durch die Reduzierung der Vergütungssätze der im Wege der Prozesskostenhilfe beigeordneten Rechtsanwälte in § 123 der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte - BRAGO - (jetzt § 45 Abs. 1 des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes - RVG) umfassend Rechnung getragen worden ist.

b) Auch den hier angegriffenen Beschlüssen liegt - wie in dem von der Kammer bereits entschiedenen Fall - eine Auslegung der gesetzlichen Regeln zur Streitwertberechnung (§ 12 Abs. 2 Satz 1, 2 und 4 GKG a.F., jetzt § 48 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 und 2 GKG) zugrunde, die in Verbindung mit den Vorschriften über die Maßgeblichkeit des festgesetzten Streitwertes für die Höhe der Vergütung von Rechtsanwälten (§ 9 Abs. 1 BRAGO, jetzt § 32 Abs. 1 RVG) eine im Ergebnis unverhältnismäßige Beschränkung der grundrechtlichen Freiheit der Beschwerdeführerin zur Folge hat (vgl. BVerfGE 85, 248 <258>; 97, 12 <27>).

aa) Dies ergibt sich für die Entscheidung des Oberlandesgerichts aus der Begründung, mit der das Gericht die Streitwertbeschwerde zurückgewiesen hat. Zwar geht das Oberlandesgericht davon aus, dass nach § 12 Abs. 2 Satz 1 GKG a.F. (jetzt § 48 Abs. 2 Satz 1 GKG) auch andere Umstände - namentlich Unterhaltsverpflichtungen, Verbindlichkeiten und der geringe Arbeitsaufwand - für die Berechnung des Streitwerts von Bedeutung und zu berücksichtigen sind. Insoweit besteht für verfassungsrechtliche Bedenken kein Anlass. Zu einer Festsetzung lediglich des Mindeststreitwerts ist das Oberlandesgericht jedoch allein deshalb gelangt, weil es auch den Umstand der Bewilligung ratenfreier Prozesskostenhilfe für beide Parteien in seine Erwägungen einbezogen hat. Bestätigt wird dies durch die wirtschaftliche Situation der Parteien, deren Nettoeinkommen im Zeitraum von drei Monaten (vgl. § 12 Abs. 2 Satz 2 GKG a.F.; jetzt § 48 Abs. 3 Satz 1 GKG) - mangels anderweitiger Feststellungen auch aus Sicht des Oberlandesgerichts - mehr als 7.000 € betragen hat. Vor diesem Hintergrund ist es offenkundig, dass die vom Oberlandesgericht angeführten sonstigen Umstände nicht ausreichen konnten, um einen Streitwert von lediglich 2.000 € nachvollziehbar zu begründen. Ist danach aber die beiderseitige Bewilligung ratenfreier Prozesskostenhilfe für die Festsetzung des Mindeststreitwerts mitursächlich geworden, so hat das Fachgericht auch im vorliegenden Fall zu Lasten der Beschwerdeführerin einen Umstand herangezogen, der wegen der erneuten Berücksichtigung fiskalischer Interessen zur Unverhältnismäßigkeit der damit einhergehenden Beschränkung ihrer Berufsfreiheit führt. Die Beachtung weiterer Umstände des Einzelfalls ist lediglich für den Umfang des Eingriffs in die Berufsfreiheit von Bedeutung. Dies vermag aber nichts daran zu ändern, dass ein solcher Eingriff gegeben ist und sich nicht mit dem - zwar legitimen, aber bereits anderweitig berücksichtigten - Gemeinwohlbelang der Schonung öffentlicher Kassen rechtfertigen lässt. Eine Entscheidung, die bei der Streitwertfestsetzung auch die ratenfreie Bewilligung von Prozesskostenhilfe berücksichtigt, führt daher zu einer unverhältnismäßigen Beschränkung der Berufsfreiheit der beigeordneten Rechtsanwälte.

Entgegen der Begründung des Beschlusses des Oberlandesgerichts für die Zurückweisung der Gegenvorstellung der Beschwerdeführerin wurde die Bewilligung der Prozesskostenhilfe auch nicht nur zum Anlass für eine Überprüfung des den Parteien tatsächlich zur Verfügung stehenden Einkommens genommen. Das Oberlandesgericht hatte sich vielmehr schon in seiner Ausgangsentscheidung eingehend mit der Einkommenssituation der Parteien auseinander gesetzt und deren Unterhalts- sowie Kreditverpflichtungen für die Streitwertbemessung berücksichtigt. Weitere konkrete Folgerungen hat das Oberlandesgericht auch aus dem Umstand der Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht zu ziehen vermocht. Es hat vielmehr die bloße Tatsache der Bewilligung ratenfreier Prozesskostenhilfe herangezogen, um eine Festsetzung des Mindeststreitwerts zu begründen.

bb) Die Entscheidung des Amtsgerichts lässt schließlich für die Festsetzung des Mindeststreitwerts keine anderen Gründe als die beiderseitige Bewilligung ratenfreier Prozesskostenhilfe erkennen.

2. Hiernach sind die Entscheidungen des Oberlandesgerichts und des Amtsgerichts gemäß § 93 c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben, ohne dass es auf die weiter erhobenen Rügen noch ankommt. Die Sache selbst ist an das Amtsgericht zurückzuverweisen.

3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.






BVerfG:
Beschluss v. 22.02.2006
Az: 1 BvR 2139/05


Link zum Urteil:
https://www.admody.com/gerichtsentscheidung/60fd99b154eb/BVerfG_Beschluss_vom_22-Februar-2006_Az_1-BvR-2139-05




Diese Seite teilen (soziale Medien):

LinkedIn+ Social Share Twitter Social Share Facebook Social Share