Sozialgericht München:
Urteil vom 23. August 2011
Aktenzeichen: S 12 R 1574/10
(SG München: Urteil v. 23.08.2011, Az.: S 12 R 1574/10)
Zusammenfassung der Gerichtsentscheidung
In dem vorliegenden Fall geht es um die Befreiung einer Syndikusanwältin von der gesetzlichen Rentenversicherung. Die Klägerin ist Volljuristin und seit 2000 bei der Bayern LB beschäftigt. Anfangs arbeitete sie in verschiedenen Bereichen der Bank, seit 2009 ist sie im Bereich der Immobilienfinanzierung und Vertragsstrukturierung tätig. Sie erstellt, verhandelt und unterschreibt Darlehensverträge in Millionenhöhe. Im November 2009 stellte sie einen Antrag auf Befreiung von der Rentenversicherungspflicht, welcher jedoch abgelehnt wurde.
Im Klageverfahren vor dem Sozialgericht München erläutert die Klägerin ihre Tätigkeit bei der Bayern LB. Sie berät die Kundenbetreuer hinsichtlich der rechtlichen Kriterien der Vertragsgestaltung und verhandelt die Darlehensverträge mit. Außerdem unterzeichnet sie die Verträge und entscheidet über die Auszahlung der Gelder. Die Beklagte bestreitet nicht, dass die Klägerin die Kriterien der rechtsberatenden, rechtsentscheidenden, rechtsgestaltenden und rechtsvermittelnden Tätigkeit erfüllt, macht jedoch weitere Argumente geltend, die gegen eine Befreiung sprechen sollen.
Das Sozialgericht München gibt der Klage statt. Es stellt fest, dass die Klägerin aufgrund ihrer Tätigkeit bei der Bayern LB Anspruch auf Befreiung von der Rentenversicherungspflicht hat. Die Voraussetzungen des SGB VI sind erfüllt, da die Klägerin Mitglied der Anwaltskammer München ist und im Versorgungswerk pflichtversichert ist. Zudem erfüllt sie die ungeschriebenen Tatbestandsmerkmale der rechtsberatenden, rechtsentscheidenden, rechtsgestaltenden und rechtsvermittelnden Tätigkeit, wie sie von der Rechtsprechung entwickelt wurden. Die Beklagte widerlegt die Angaben der Klägerin nicht und kann keine belastbaren Kriterien für eine Befreiung vorlegen. Das Gericht betont, dass es nicht auf die Bezeichnung der Stelle ankommt, sondern auf die konkrete Arbeitsplatzbeschreibung. Es merkt außerdem an, dass die Tätigkeit von Unternehmensjuristen oft falsch eingeordnet wird und erklärt den Sinn und Zweck der berufsständischen Versorgung.
Aufgrund des Urteils wird die Beklagte verpflichtet, die Klägerin von der Rentenversicherungspflicht zu befreien. Die Kosten des Verfahrens werden der Beklagten auferlegt.
Die Gerichtsentscheidung im Volltext:
SG München: Urteil v. 23.08.2011, Az: S 12 R 1574/10
Tenor
I. Der Bescheid vom 22.03.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.05.2010 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin ab dem 29.10.2009 gemäß § 6 Abs. 1 S.1 Nr. 1 SGB VI für ihre Tätigkeit bei der Bayern LB von der Versicherungspflicht zu befreien.
II. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Tatbestand
Streitig ist die Befreiung einer Syndikusanwältin von der gesetzlichen Rentenversicherung.
Die 1971 geborene Klägerin ist Volljuristin. Seit dem 29.10.2009 ist sie Mitglied der Rechtsanwaltskammer München. Kraft Gesetzes ist sie zudem Mitglied der Bayerischen Versorgungskammer.
Seit dem 01.10.2000 arbeitet die Klägerin bei der Bayern LB. Zunächst wurde sie als Bankangestellte eingestellt und arbeitete in der Legitimationsprüfung, in der Abteilung für Geldwäschebekämpfung und in der zentralen Rechtsabteilung im Bereich der Kreditsicherheiten. Zum 01.07.2009 wechselte sie in die Stellung des Credit Managers und ist auf dem Gebiet der Immobilienfinanzierung und Vertragsstrukturierung tätig. Dabei erstellt, verhandelt und unterzeichnet sie Darlehensverträge in der Größenordnung von mehrstelligen Millionenbeträgen. Seit dem 01.10.2010 wird die Klägerin außertariflich bezahlt, seit dem 01.11.2011 lautet ihre Funktionsbezeichnung €Spezialistin Vertragstrukturierung Advisory Real Estate €.
Am 23.11.2009 stellte die Klägerin einen Antrag auf Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung. Mit Schreiben vom 30.11.2009 bestätigte der Arbeitsgeber, dass die Klägerin rechtsberatend, rechtsentscheidend, rechtsgestaltend und rechtsvermittelnd tätig sei. Am 02.02.2010 attestierte der Arbeitgeber, dass für die Stellenbesetzung als Credit Manager eine Qualifikation als Volljurist vorausgesetzt wurde. Mit Bescheid vom 22.03.2010 lehnte die Beklagte die Befreiung ab. Eine Tätigkeit als Sachbearbeiter sei weisungsgebunden und stehe den Grundsätzen der freien Berufsausübung des Rechtsanwalts entgegen. Dagegen erhob die Klägerin am 11.04.2010 Widerspruch. Sie lässt im Wesentlichen vortragen, dass die vier von Rechtsprechung und Berufsverbänden geforderten Befreiungskriterien vorlägen, weitere Merkmale seien nicht erforderlich. Der Widerspruch wurde mit Bescheid vom 20.05.2010 zurückgewiesen; die Klägerin sei weisungsgebunden; sie habe weder Alleinentscheidungsbefugnis noch eine wesentliche Teilhabe and Abstimmungs- und Entscheidungsprozessen.
Am 12.07.2010 erhob die Klägerin Klage zum Sozialgericht München. Im Klageverfahren werden von den Beteiligten die Argumente des Vorverfahrens präzisiert. Die Klägerin verweist zudem auf erstinstanzliche Urteile, die eine Befreiung bejahten, die Beklagte macht die mangelnde Rechtskraft dieser Urteile geltend.
In der mündlichen Verhandlung am 23.08.2010 erläuterte die Klägerin ihren Aufgabenbereich im Unternehmen: Sie berate ihre internen Mandanten, die Kundenbetreuer (diese werden von den Kunden - Darlehensnehmer, meist Kliniken und andere Unternehmen - wegen eines Darlehens kontaktiert) hinsichtlich der rechtlichen Kriterien der Vertragsgestaltung. Die Darlehensverträge werden von ihr mitverhandelt und müssen - nach internen Vorgaben der Bayern LB - stets von ihr mitunterschrieben werden. Die Auszahlung von Geld erfolgt nur dann, wenn sie nach Vertragsabschluss entschieden habe, dass die Vertragsbedingungen von Seiten des Darlehensnehmers erfüllt wurden. Sie halte zudem intern Vorträge über rechtliche Themen der Vertragsgestaltung und Rechtsänderungen.
Die Beklagtenvertreterin widersprach dem Vorliegen der Kriterien der rechtsberatenden, rechtsentscheidenden, rechtsgestaltenden und rechtsvermittelnden Tätigkeit nicht. Sie verwies jedoch auf ihre Vorgaben, wonach die Abgabe eines Anerkenntnisses nicht möglich sei.
Die Klägerin beantragt, die Beklagte wird verurteilt, unter Aufhebung des Bescheids vom 22 03.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.05.2010, die Klägerin ab dem 29.10.2009 für ihre Tätigkeit bei der Bayern LB von der Versicherungspflicht zu befreien.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die Klageakte sowie die beigezogenen Verwaltungsakten Bezug genommen.
Gründe
Die form- und fristgerecht erhobene Klage (§§ 87, 90 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) ist auch im Übrigen zulässig und erweist sich als begründet.
Die angegriffenen Bescheide sind nicht rechtmäßig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten.
13Die Klägerin hat in Bezug auf ihre Beschäftigung bei der Bayern LB einen Anspruch auf Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 6 Abs. 1 S.1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) VI ab dem 29.10.2009.
Klarstellend sei zunächst darauf hingewiesen, dass im vorliegenden Fall eine Befreiung für die Tätigkeit bei der Bayern LB beantragt wurde. Die Ausführungen der Beklagten zur Tätigkeit der Klägerin als freie Rechtsanwältin sind damit nicht entscheidungsrelevant.
Die gesetzlich normierten Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 S.1 Nr.1 SGB VI sind insoweit unstreitig erfüllt, als die Klägerin Mitglied der Anwaltskammer München (§ 60 BRAO) und aufgrund des €Gesetzes über die Bayerische Rechtsanwaltsversorgung€ Pflichtmitglied im Versorgungswerk ist.
Des Weiteren liegen auch die ungeschriebenen Tatbestandmerkmale des § 6 Abs. 1 S.1. Nr. 1 SGB VI vor, soweit sie von der Rechtsprechung entwickelt und von der Beklagten anerkannt und angewandt werden. Die Klägerin ist überwiegend rechtsberatend, rechtsentscheidend, rechtsanwendend und rechtsvermittelnd tätig (vgl. zur Anwendung des Kriterienkatalogs, Hessisches LSG, Urteil vom 29.10.2009, Az.: L 8 KR 169/08; a.A. mit dem Argument des grundgesetzlichen Gesetzesvorbehalt SG Düsseldorf, Urteil vom 02.11.2010, Az.: S 52 R 230/09). Sie berät ihre internen Mandanten (Kundenbetreuer) hinsichtlich der Vertragsgestaltung von Darlehensverträgen (rechtsberatend), verhandelt und unterschreibt mit der ihr verliehenen Handlungsvollmacht (§ 54 HGB) wirtschaftliche sehr umfangreiche Darlehensverträge (rechtsgestaltend und rechtsentscheidend) und weist die Auszahlung der Gelder an. Zudem vermittelt sie Rechtskenntnisse im Rahmen von internen Vorträgen und schriftlichen Stellungnahmen (rechtsvermittelnd). Der diesbezügliche Vortrag der Kläger ist vollumfänglich nachvollziehbar und überzeugend.
Die Beklagte widerlegte auch die Angaben der Klägerin zu ihrer Tätigkeit nicht, auch nicht die Einordnung in die Kategorien Rechtsgestaltung, Rechtsentscheidung, Rechtsgestaltung und Rechtsvermittlung. Sie macht vielmehr weitere Kriterien geltend, die gegen eine anwaltliche Tätigkeit sprechen. Zum einen sei die Klägerin als Sachbearbeiterin eingestuft. Dies entspricht nicht dem Sachverhalt. Die Klägerin wechselte - ausweislich des Schreibens der Arbeitgeberin - auf eine Stelle, die intern als €Credit Manager und Volljurist€ bezeichnet. Zudem ist anzumerken, dass es nicht auf die Bezeichnung ankommen kann, sondern auf die konkrete Arbeitsplatzbeschreibung (vgl. auch SG Düsseldorf, a.a.O.).
Des Weiteren führt die Beklagte an, die Klägerin sei weder alleinentscheidungsbefugt noch wesentlich an Entscheidungen beteiligt. Die Bayern LB hat die Vergabe von Darlehen so geregelt, dass Darlehensverträge von einem Kaufmann ohne die Unterschrift der Klägerin in ihrer Eigenschaft als Volljuristin weder abgeschlossen noch ausbezahlt werden können. Die Klägerin trägt damit die Mitverantwortung für eine rechtmäßige Abwicklung von Verträgen in der Höhe von mehrstelligen Millionen. Es ist nicht ersichtlich, aus welchem Grund dies nicht als wesentliche Teilhabe an Entscheidungsprozessen angesehen wird.
Letztlich ist anzumerken, dass generell in keiner Weise nachvollziehbar ist, welche Kriterien nach Ansicht der Beklagten erfüllt sein müssen, damit eine Befreiung für Unternehmensjuristen bejaht wird. Von der Beklagten werden keine belastbare Orientierungskriterien oder Prüfschemata vorgelegt, aus denen erkennbar ist, wann eine Befreiung gewährt werden kann. Aus den der Kammer vorliegenden Fällen ist auch kein gleichförmiges Verwaltungshandeln erkennbar, insbesondere werden von den Klägern nicht nachvollziehbare Unterschiede der Behandlung zwischen Kollegen, insbesondere bei Nachbesetzungen von Stellen, geltend gemacht.
Sinn und Zweck der berufsständischen Versorgung ist es, dass die Angehörigen von Berufsgruppen, die traditionell in einem Versorgungswerk versichert sind, nicht mit einer doppelten Beitragszahlung belastet werden. Die Befreiung ist bei angestellten Anwälten bei einem anwaltlichen Arbeitgeber grundsätzlich unstreitig. Die Beklagte scheint jedoch das Wesen der heutigen Unternehmensjuristen oft falsch einzuordnen. Rechtsberatung gewinnt in Unternehmen zum einen generell mehr an Bedeutung, zum anderen wird der Beratungsbedarf immer unternehmensspezifischer. Daher entscheiden sich Unternehmen vermehrt zur Beschäftigung von €In-House€-Anwälten, die mit dem Unternehmen vertraut sind und somit ohne Effizienzverluste spezialisierte Beratung leisten können. Dies ist aufgrund der hohen Kosten von spezialisierten Kanzleien zum Einen wirtschaftlich begründet. Zum Anderen sind Unternehmen aus Haftungsgründen häufig daran interessiert, nicht €nur€ Volljuristen, sondern eben gerade zugelassene Rechtsanwälte zu beschäftigen, da diese dem Berufsethos unterliegen und über eine Berufshaftpflichtversicherung verfügen. Die Klägerin ist dafür ein gutes Beispiel: Nach jahrelanger Tätigkeit in verschiedenen Bereichen des Unternehmens wurde ihr, nunmehr mit dem Unternehmen vertraut und fachlich höchstspezialisiert, eine Stelle angeboten, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Relevanz und hohen Verantwortung von einer Rechtsanwältin ausgeführt werden sollte. Wie die Unternehmen seine Rechtsanwälte organisatorisch einordnet und bezeichnet, kann für die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung keine Bedeutung haben.
Sofern die Praxis der Beklagten nicht transparenter und nachvollziehbarer wird, können künftig, im Hinblick auf die wirtschaftliche Relevanz einer zeitnahen Entscheidung für die betroffenen Syndikusanwälte, von den Sozialgerichten noch viele Urteile erwartet werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf §193 SGG und folgt dem Ausgang des Rechtsstreits in der Sache.
SG München:
Urteil v. 23.08.2011
Az: S 12 R 1574/10
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