Landessozialgericht der Länder Berlin und Brandenburg:
Urteil vom 29. November 2005
Aktenzeichen: L 16 AL 175/05

(LSG der Länder Berlin und Brandenburg: Urteil v. 29.11.2005, Az.: L 16 AL 175/05)




Zusammenfassung der Gerichtsentscheidung

Ein Rechtsanwalt könnte dem Mandanten folgende Inhaltsangabe der Gerichtsentscheidung erklären:

Das Landessozialgericht Berlin und Brandenburg hat in einem Urteil vom 29. November 2005 entschieden, dass die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 7. März 2005 zurückgewiesen wird. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten und die Revision wird nicht zugelassen.

In dem Verfahren ging es darum, ob dem Kläger, der Vorstandsmitglied einer Aktiengesellschaft war, ein Anspruch auf Insolvenzgeld zusteht. Das Sozialgericht Berlin hatte die Klage bereits abgewiesen und festgestellt, dass der Kläger kein Arbeitnehmer im Sinne des Arbeits- und Sozialversicherungsrechts ist.

Das Landessozialgericht bestätigte diese Entscheidung. Es führte aus, dass der Kläger als Vorstandsmitglied der Aktiengesellschaft nicht als Arbeitnehmer anzusehen ist. Als Vorstandsmitglied hatte er die AG unter eigener Verantwortung zu leiten und war nicht einem umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterworfen. Auch die Zustimmungspflicht des Aufsichtsrates für bestimmte Geschäfte änderte nichts an dieser Tatsache.

Der Kläger legte Berufung ein, argumentierte jedoch erfolglos, dass er trotz seiner geringen Beteiligung an der Gesellschaft als abhängig beschäftigt angesehen werden sollte. Das Landessozialgericht urteilte, dass aufgrund der konkreten Ausgestaltung seiner Rechtsstellung als Vorstandsmitglied die Voraussetzungen für eine Arbeitnehmereigenschaft nicht erfüllt sind.

Das Gericht wies die Berufung des Klägers daher ab und bestätigte die Entscheidung des Sozialgerichts. Eine Revision wurde nicht zugelassen.

Die Kostenentscheidung beruht auf gesetzlichen Bestimmungen und Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.




Die Gerichtsentscheidung im Volltext:

LSG der Länder Berlin und Brandenburg: Urteil v. 29.11.2005, Az: L 16 AL 175/05


Tenor

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 7. März 2005 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Streitig ist, ob dem Kläger, der während des streitigen Zeitraumes vom 02. Oktober 2002 bis zum 01. Januar 2003 Vorstandsmitglied der C & P T Aktiengesellschaft (im Folgenden: CP AG) war, ein Anspruch auf Insolvenzgeld (Insg) zusteht.

Der am 1966 geborene Kläger hielt als Aktionär 16,99 % des Grundkapitals der CP AG und war eines von zwei Vorstandsmitgliedern, die die AG gemeinschaftlich vertraten. Der Vorstand bedurfte zu den in § 5 der Satzung aufgeführten Maßnahmen der Zustimmung des dreiköpfigen Aufsichtsrates; auf § 5 der Satzung in der Fassung vom 04. August 2000 wird Bezug genommen. Durch Beschluss des Amtsgerichtes Charlottenburg vom 02. Januar 2003 (--) wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der CP AG eröffnet.

Den am 19. Dezember 2002 gestellten Antrag des Klägers auf Gewährung von Insg für die Entgeltabrechnungszeiträume vom 01. Oktober 2002 bis zum 31. Dezember 2002 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 12. März 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Juli 2003 ab mit der Begründung, dass der Kläger als Vorstandsmitglied der CP AG nicht zum Personenkreis der Arbeitnehmer im Sinne des Arbeits- und Sozialversicherungsrechts zu zählen sei. Er sei nicht abhängig beschäftigt gewesen, sondern habe nach dem Aktiengesetz (AktG) die AG unter eigener Verantwortung zu leiten gehabt. Mangels Arbeitnehmereigenschaft stehe ihm somit kein Anspruch auf Insg zu. Dies folge auch aus der Vorschrift über die Versicherungsfreiheit von Mitgliedern des Vorstandes einer AG gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 Sozialgesetzbuch € Arbeitsförderung € (SGB III).

Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die auf Gewährung von Insg für die Zeit vom 02. Oktober 2002 bis zum 02. Januar 2003 gerichtete Klage mit Gerichtsbescheid vom 07. März 2005 abgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt: Der Kläger habe keinen Anspruch auf Insg im maßgeblichen Zeitraum, weil er als Vorstandsmitglied einer AG nicht als Arbeitnehmer i. S. von § 183 Abs. 1 SGB III anzusehen sei. Die Organstellung des Vorstandsmitgliedes einer AG sei nicht arbeitnehmer-, sondern arbeitgeberähnlich ausgestaltet. Das Vorstandsmitglied sei nicht einem umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterworfen (Verweis auf BSG, Urteil vom 22. April 1987 € 10 RAr 6/86 = SozR 4100 § 141a Nr. 8). Dies ergebe sich insbesondere aus der rechtlichen Stellung von Vorstandsmitgliedern, die durch das AktG geregelt sei. Nach § 76 Abs. 1 AktG habe ein Vorstand die Gesellschaft unter eigener Verantwortung zu leiten. Ihm obliege die Geschäftsführung und die Vertretungsbefugnis nach außen (§ 77 Abs. 1 und § 78 AktG). Die Zustimmungspflicht des Aufsichtsrates für bestimmte Arten von Geschäften stelle kein Weisungs- oder Direktionsrechts des Aufsichtsrates gegenüber dem Vorstand dar. Denn Maßnahmen der Geschäftsführung könnten dem Aufsichtsrat nach § 111 Abs. 4 Satz 1 AktG nicht übertragen werden. Sowohl der Umfang der Kapitalbeteiligung als auch die Größe der AG seien für die Beurteilung der Arbeitnehmereigenschaft eines Vorstandsmitglieds unbeachtlich. Insbesondere sei eine Vergleichbarkeit mit einem fremdverantwortlichen Gesellschafter€Geschäftsführer einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) nicht gegeben.

Mit der Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er trägt vor: Entgegen der Auffassung des SG sei er auch in seiner Tätigkeit als Vorstandsmitglied Arbeitnehmer gewesen. Er habe im Wesentlichen fremdverantwortlich gehandelt, soweit ihm nur eine Beteiligung an der Gesellschaft zu 16 % zugestanden habe. Angesichts dieser geringen Beteiligung könne nicht davon ausgegangen werden, dass er in der Lage gewesen sei, missliebige Beschlüsse der Gesellschaft zu verhindern. An dieser Einschätzung ändere auch § 27 Abs. 1 Nr. 5 SGB III nichts, da diese Vorschrift lediglich Indizwirkung habe. Die Insg-Sicherung kenne gerade keine Beitragspflicht der Arbeitnehmer. Auch nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) könnten derartige Besonderheiten des Einzelfalls für die persönliche Abhängigkeit eines Vorstandsmitgliedes sprechen (Verweis auf BSG, Urteil vom 31. Mai 1989 € 4 RA 22/88 = SozR 2200 § 1248 Nr. 48).

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 07. März 2005 und den Bescheid der Beklagten vom 12. März 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Juli 2003 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm für die Zeit vom 02. Oktober 2002 bis zum 01. Januar 2003 Insolvenzgeld zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die vorbereitenden Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen verwiesen.

Die Insg-Akten der Beklagten (Betriebs- und Klägerakte), die Akten des Amtsgerichts Charlottenburg (2 Bände) und die Gerichtsakte haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Gründe

Die Berufung des Klägers ist nicht begründet.

Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Zahlung von Insg für die Zeit vom 02. Oktober 2002 bis zum 01. Januar 2003, denn er war in dem vorgenannten Insg-Zeitraum kein Arbeitnehmer i. S. von § 183 Abs. 1 SGB III.

Anspruch auf Insg haben nach § 183 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB III Arbeitnehmer, wenn sie bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Arbeitgebers (Insolvenzereignis) für die vorausgehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt haben. Der Kläger war als Vorstandsmitglied der CP AG kein Arbeitnehmer im Sinne der letztgenannten Vorschrift. Arbeitnehmer können auch im Rahmen des Insg-Rechts nur solche Personen sein, die abhängig beschäftigt sind (vgl. § 7 Abs. 1 Sozialgesetzbuch € Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - SGB IV -) und die mithin einer nichtselbständigen Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis, nachgehen. Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers (§ 7 Abs. 1 Satz 2 SGB IV). Danach sind die für die Versicherungspflicht von Arbeitnehmern besonders bedeutsamen Merkmale des Direktionsrechts und der Weisungsgebundenheit auch die tragfähigen Merkmale für die Abgrenzung des Arbeitnehmerbegriffs in § 183 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB III. Nach den Feststellungen des Senats liegen die tatsächlichen Voraussetzungen für eine Arbeitnehmereigenschaft des Klägers während des gesamten Insg-Zeitraumes vom 02. Oktober 2002 bis zum 01. Januar 2003 indes nicht vor.

Nicht zu entscheiden ist hierbei darüber, ob für Vorstandsmitglieder von AGen die Arbeitnehmereigenschaft auch für das Insg-Recht im Hinblick auf ihre organschaftliche Stellung generell abzulehnen ist (vgl. in diesem Sinne zu § 141 a AFG: BSG, Urteil vom 22. April 1987 € 10 RAr 6/86 = SozR 4100 § 141 a Nr. 8; für die Gesetzliche Unfallversicherung: BSG, Urteil vom 14. Dezember 1999 € B 2 U 38/98 R = SozR 3-2200 § 539 Nr. 48), oder ob bei Vorstandsmitgliedern einer AG vielmehr im Allgemeinen von einer, wenngleich nicht versicherungspflichtigen, Beschäftigung auszugehen ist (vgl. in diese Richtung: BSG, Urteil vom 31. Mai 1989 € 4 RA 22/88 = SozR 2200 § 1248 Nr. 48), wofür auch spricht, dass der Gesetzgeber wegen der Regelung über die ausnahmsweise Versicherungsfreiheit von Vorstandsmitgliedern einer AG nach § 27 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB III davon ausgeht, dass auch diese Vorstandsmitglieder Beschäftigte sind. Nur so ist zu erklären, dass die Ausnahme für Vorstandsmitglieder von AGen in den Vorschriften enthalten ist, welche die Versicherungspflicht von Beschäftigten regeln (vgl. BSG, Urteil vom 19. Juni 2001 - B 12 KR 44/00 R = SozR 3-2400 § 7 Nr. 18). Der Kläger kann aber ungeachtet dessen in dem vorliegend streitigen Insg-Zeitraum schon deshalb nicht als abhängig Beschäftigter und somit Arbeitnehmer angesehen werden, weil die konkrete Ausgestaltung seiner Rechtsstellung als Vorstandsmitglied dies von vornherein nicht zulässt.

Der Kläger war als Mitglied des zweiköpfigen Vorstandes mit dem weiteren Vorstandsmitglied zur gemeinschaftlichen Vertretung der CP AG bestellt worden. Er hatte gemeinsam mit dem zweiten Vorstandsmitglied gemeinschaftlich die AG unter eigener Verantwortung zu leiten (§ 76 Abs. 1 AktG). Ihm oblag gemeinsam mit dem zweiten Vorstandsmitglied somit die Geschäftsführung (§ 77 Abs. 1 AktG) und die nicht beschränkbare Vertretungsbefugnis nach außen (§§ 78, 82 Abs. 1 AktG). Bei den genannten Leitungsbefugnissen konnte der Kläger in keinem Fall überstimmt werden und war daher in der Lage, jede ihm nicht genehme Entscheidung zu verhindern. Er unterlag als ein Mitglied des zweiköpfigen Vorstands weder einem Direktionsrecht des anderen Vorstandsmitgliedes oder eines anderen Organs der AG, noch war er im Rahmen seiner Rechtsstellung an Weisungen Dritter gebunden. Dass bestimmte Entscheidungen und Maßnahmen des Vorstandes gemäß § 5 der Satzung der CP AG der Zustimmung des dreiköpfigen Aufsichtsrates bedurften, ändert hieran ebenso wenig wie die mögliche Begrenzung der Handlungsmöglichkeiten des Vorstandes durch Beschlüsse der Hauptversammlung. Denn derartige generell-abstrakte Leitlinien stellen keine einzelfallbezogenen Weisungen dar, wie sie für ein Arbeitsverhältnis typisch sind.

Eine andere Beurteilung folgt auch nicht daraus, dass der Kläger lediglich 16,99 % der Anteile am Grundkapital der AG gehalten hatte. Denn der Umfang dieser Anteilseignerschaft ändert nichts an der konkreten Rechtsstellung des Klägers als Vorstandsmitglied, das jede ihm nicht genehme Entscheidung des Vorstandes verhindern konnte. Schon aus diesem Grunde fehlt es auch an einer Vergleichbarkeit mit einem Gesellschafter-Geschäftsführer einer GmbH, der weder über die Mehrheit der Gesellschaftsanteile noch über eine Sperrminorität verfügt und somit in der Regel abhängig Beschäftigter der GmbH ist (vgl. BSG, Urteil vom 06. März 2003 € B 11 AL 25/02 R = SozR 4-2400 § 7 Nr. 1 mit weiteren Nachweisen). Ein derartiger Gesellschafter-Geschäftsführer ist gehalten, die Einzelanweisungen der Gesellschafterversammlung in allen betrieblichen und unternehmerischen Belangen auszuführen; er unterliegt somit einer regelmäßigen Kontrolle auch in allen insoweit zu treffenden Einzelentscheidungen. Der Kläger unterlag zwar als Vorstandsmitglied der CP AG ebenfalls der Überwachung durch den Aufsichtsrat (§ 111 Abs. 1 AktG) und war außerdem der Hauptversammlung verantwortlich (§§ 119, 120 AktG), die durch die Satzung auch die Zustimmungspflicht für bestimmte Maßnahmen des Vorstandes statuiert hatte. Die daraus resultierende abstrakt-generelle Begrenzung der Handlungsmöglichkeiten des Vorstandes hat der Kläger aber letztlich selbst herbeigeführt. Denn er hat als Vertreter der übrigen drei Aktionäre in der außerordentlichen Hauptversammlung vom 19. Februar 2001 die entsprechende Satzungsänderung selbst beschlossen (vgl. Niederschrift über die außerordentliche Hauptversammlung der CP AG vom 19. Februar 2002 - Urkundenrolle-Nr. G .../2002 des Notars G in Berlin). Der Kläger hat somit letztlich die den Aktionären zustehenden Gesellschafterrechte tatsächlich selbst ausgeübt, so dass jedenfalls im vorliegend in Rede stehenden Insg-Zeitraum von einer unternehmerähnlichen Stellung des Klägers auszugehen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.






LSG der Länder Berlin und Brandenburg:
Urteil v. 29.11.2005
Az: L 16 AL 175/05


Link zum Urteil:
https://www.admody.com/gerichtsentscheidung/616894b05b8b/LSG-der-Laender-Berlin-und-Brandenburg_Urteil_vom_29-November-2005_Az_L-16-AL-175-05




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