Oberlandesgericht Düsseldorf:
Beschluss vom 29. Juli 2009
Aktenzeichen: VII-Verg 18/09

(OLG Düsseldorf: Beschluss v. 29.07.2009, Az.: VII-Verg 18/09)




Zusammenfassung der Gerichtsentscheidung

Das Oberlandesgericht Düsseldorf hat in einem Beschluss vom 29. Juli 2009 entschieden, dass der Ausschluss der Antragstellerin von einem Vergabeverfahren ungerechtfertigt ist. Die Antragsgegnerin hatte von den Bietern die Vorlage einer Erklärung über die Zahlung des Mindestlohns nach der Postmindestlohnverordnung verlangt. Die Antragstellerin, die anderweitig an einen Haustarifvertrag und an einen Verbandstarif gebunden ist und den durch die Postmindestlohnverordnung für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag deswegen nicht anwendet, gab die geforderte Erklärung ab. Die Antragsgegnerin schloss die Antragstellerin dennoch vom Vergabeverfahren aus, weil diese sich geweigert hatte, weitere Fragen zur Ermittlung ihrer Liquidität für den Fall zu beantworten, dass die Postmindestlohnverordnung wirksam sei und Lohnnachzahlungen an Arbeitnehmer vorzunehmen seien. Das Gericht entschied, dass der Ausschluss der Antragstellerin rechtswidrig war, da die Tariftreueforderung in der Vergabebekanntmachung gegen geltendes Recht verstoße. Die Tarifregelung sei nicht in einem formellen Bundes- oder Landesgesetz getroffen worden. Zudem habe die Antragstellerin keine vorsätzlich unzutreffende Erklärung abgegeben und die Antragsgegnerin habe keinen gesicherten Anlass gehabt, an der finanziellen und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Antragstellerin zu zweifeln. Das Gericht hob den Beschluss der Vergabekammer auf und verpflichtete die Antragsgegnerin, die Antragstellerin nicht vom Vergabeverfahren auszuschließen. Die Anträge der Antragstellerin auf den Zuschlag und die Wiederholung der Angebotswertung wurden jedoch abgelehnt. Das Gericht sah es als nicht seine Aufgabe an, die Entscheidung über die Vergabe des Auftrags zu treffen. Die Kosten des Verfahrens wurden hälftig der Antragstellerin und hälftig der Antragsgegnerin und der Beigeladenen auferlegt. Das Beschwerdeverfahren hatte einen Streitwert von bis zu 250.000 Euro.




Die Gerichtsentscheidung im Volltext:

OLG Düsseldorf: Beschluss v. 29.07.2009, Az: VII-Verg 18/09


Tenor

Auf die sofortige Beschwerde der Antragstellerin wird unter Zu-rückweisung des weitergehenden Rechtsmittels der Beschluss der Vergabekammer bei der Bezirksregierung Arnsberg vom 27. April 2009 (VK 07/09) aufgehoben.

Der Antragsgegnerin wird untersagt, die Antragstellerin vom lau-fenden Vergabeverfahren auszuschließen.

Es wird festgestellt, dass die Antragstellerin aufgrund des Aus-schlusses vom Vergabeverfahren durch die Antragsgegnerin in ihren Rechten verletzt worden ist.

Der weitergehende Nachprüfungsantrag wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens der Vergabekammer und die Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens werden zur Hälfte der Antragstellerin und zur weiteren Hälfte - insoweit als Gesamtschuldnern - der Antragsgegnerin und der Beigeladenen auferlegt. Eine Erstattung von Aufwendungen und außergerichtlichen Kosten findet nicht statt.

Streitwert für das Beschwerdeverfahren: bis 250.000 Euro

Gründe

I. Die Antragsgegnerin schrieb durch EG-weite Bekanntmachung vom Juli 2008 im offenen Verfahren die Vergabe von Postdienstleistungen für ihren Geschäftsbereich aus (Los 1: allgemeiner Postverkehr, Los 2: Postzustellungsaufträge). Der Vertrag sollte bis zu vier Jahre lang dauern. Zuschlagskriterium war der niedrigste Preis. Bei den Teilnahmebedingungen forderte die Antragsgegnerin von den Bietern die Vorlage einer Erklärung über die Zahlung des Mindestlohns nach der Postmindestlohnverordnung vom 28.12.2007 (BriefArbbV, Bundesanzeiger Nr. 242 v. 29.12.2007. S. 8410). Auf Rüge der Antragstellerin - diese ist anderweit an einen Haustarifvertrag und an einen Verbandstarif gebunden und wendet den durch Postmindestlohnverordnung vom 28.12.2007 für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag vom 29.11.2007 deswegen nicht an - verlangte die Antragsgegnerin die Erklärung, die die Antragstellerin auch abgab:

Das bietende Unternehmen fällt nicht unter den sachlichen Anwendungsbereich des Tarifvertrages zwischen dem Arbeitgeberverband Postdienste e.V. und der ver.di - Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft vom 29.11.2007, bzw. wird nicht von ihm gebunden.

Darauf sollte die Antragstellerin den Zuschlag erhalten. Dagegen brachte die Beigeladene einen Nachprüfungsantrag an, den sie freilich zurücknahm, nachdem die Antragsgegnerin die bisherige Angebotswertung revidiert hatte. Die Antragsgegnerin forderte von der Antragstellerin zur Klarstellung der vorstehenden Eigenerklärung nunmehr eine Erläuterung, weshalb sie dem Anwendungsbereich der Postmindestlohnverordnung und des vorgenannten Tarifvertrags nicht unterfalle. Die Antragstellerin gab darüber Auskunft. Sie verwies auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 7.3.2008 (4 A 439.07) und das Berufungsurteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 18.12.2008 (1 B 13.08 - nicht rechtskräftig), wonach die Postmindestlohnverordnung unwirksam sei, erklärte sich aber bereit, die Postmindestlohnverordnung von Anfang einzuhalten, sollte rechtskräftig festgestellt werden, dass die Verordnung wirksam sei und anderweitige Tarifbindungen auf dem Postsektor verdränge. Dies nahm die Antragsgegnerin zum Anlass, der Antragstellerin mehrere Fragen zur Ermittlung ihrer Liquidität für den Fall zu stellen, dass die Postmindestlohnverordnung wirksam sei und entsprechende Lohnnachzahlungen an Arbeitnehmer vorzunehmen seien. Die Antragstellerin beanstandete die Fragestellung als vergaberechtswidrig und wies auf die Verlustausgleichspflicht ihrer deutschen Muttergesellschaft hin. Danach schloss die Antragsgegnerin die Antragstellerin wegen verweigerter Aufklärung sowie wegen unzureichender finanzieller Leistungsfähigkeit vom Vergabeverfahren aus.

Nach erfolgloser Rüge strengte die Antragstellerin dagegen ein Nachprüfungsverfahren an, in dem sie begehrte, der Antragsgegnerin aufzugeben, den Zuschlag unter Berücksichtigung ihres, der Antragstellerin, Angebots zu erteilen, hilfsweise die Angebotswertung zu wiederholen.

Die Antragsgegnerin und die Beigeladene sind dem Nachprüfungsantrag entgegengetreten. Im Verfahren vor der Vergabekammer haben die Beteiligten vor allem über die Bindung der Antragstellerin an den durch die Postmindestlohnverordnung für allgemein verbindlich erklärten Tarifvertrag, über eine von der Antragsgegnerin und der Beigeladenen behauptete Falscherklärung der Antragstellerin über diesen Umstand sowie über eine verweigerte und ungenügende Aufklärung über zulässigerweise gestellte Fragen hinsichtlich der Leistungsfähigkeit der Antragstellerin gestritten. Die Antragsgegnerin hat die Antragstellerin auch wegen unzutreffender, ihrer Eignung geltender Erklärung und wegen Zweifeln an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit vom Vergabeverfahren ausgeschlossen sehen wollen.

Die Vergabekammer hat den Nachprüfungsantrag abgelehnt. Sie hat den Ausschluss der Antragstellerin für rechtens gehalten, weil diese den durch die Postmindestlohnverordnung für allgemein verbindlich erklärten Tarifvertrag nicht einhalte, hilfsweise aber auch deshalb, weil die Antragstellerin dem Aufklärungsverlangen der Antragsgegnerin nicht nachgekommen sei (§ 24 Nr. 1 Abs. 2 VOL/A).

Dagegen richtet sich die sofortige Beschwerde der Antragstellerin. Sie hält einen Ausschluss vom Vergabeverfahren unter keinem von der Antragsgegnerin dafür herangezogenen Gesichtspunkt für gerechtfertigt.

Die Antragstellerin beantragt,

unter Aufhebung des Beschlusses der Vergabekammer

die Antragsgegnerin zu verpflichten, den Zuschlag auf ihr, der Antragstellerin, Angebot zu erteilen,

hilfsweise die Antragsgegnerin zu verpflichten, die Angebotswertung unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Beschwerdegerichts zu wiederholen,

festzustellen, dass sie, die Antragstellerin, aufgrund des Ausschlusses vom Vergabeverfahren durch die Antragsgegnerin in ihren Rechten verletzt worden sei,

sowie abermals hilfsweise wenigstens die Kostenentscheidung im angefochtenen Beschluss, wonach sie, die Antragstellerin, die der Beigeladenen im Verfahren der Vergabekammer entstandenen Aufwendungen zu tragen habe, aufzuheben.

Die Antragsgegnerin und die Beigeladene beantragen,

die sofortige Beschwerde zurückzuweisen.

Die Antragsgegnerin und die Beigeladene treten der Beschwerde entgegen. Sie verteidigen die Entscheidung der Vergabekammer und ergänzen ihren bisherigen Sachvortrag.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze und auf die mit diesen vorgelegten Anlagen Bezug genommen.

II. Die sofortige Beschwerde hat teilweise Erfolg.

1. Der Nachprüfungsantrag ist insofern begründet, als der Ausschluss der Antragstellerin vom derzeit laufenden Vergabeverfahren ungerechtfertigt ist.

a) Die der Tariftreue geltende und an die Postmindestlohnverordnung vom 28.12.2007 angelehnte Forderung in der Vergabebekanntmachung ist vergaberechtswidrig. Auf die Urteile des Verwaltungsgerichts Berlin vom 7.3.2008 (4 A 439.07) und des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 18.12.2008 (1 B 13.08) muss in dem Zusammenhang nicht näher eingegangen werden. Genauso kann auf sich beruhen, ob die Antragsgegnerin, die die Tariftreueforderung in der Bekanntmachung zu einem Eignungskriterium erklärt hat, dabei den im Sinn einer allgemeinen Voraussetzung zu beachtenden Bezug zum Auftragsgegenstand gewahrt hat (vgl. dazu Egger, Europäisches Vergaberecht, Rn. 1311). Jedenfalls hat die Antragsgegnerin mit der Tariftreueforderung eine weitergehende, nicht ohne weiteres schon im gewöhnlichen Prüfungskanon der Fachkunde, Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit zu bewertende Anforderung an die Eignung gestellt. Weitergehende Anforderungen dürfen nach derzeit geltender und auch auf die streitige Auftragsvergabe noch anzuwendender Rechtslage (§ 97 Abs. 4, 2. Hs. GWB, § 138 Abs. 8 GWB 2009) indes nur durch Bundes- oder Landesgesetz vorgesehen werden. Die Tarifregelung muss unmittelbar in einem formellen Bundes- oder Landesgesetz getroffen worden sein (so auch Hailbronner in Byok/Jaeger, Komm. zum Vergaberecht, 2. Aufl., § 97 Rn. 249; Korbion, Vergaberechtsänderungsgesetz, § 97 GWB Rn. 6; Boesen, Vergaberecht, § 97 Rn. 111; Summa in Juris -PK-VergR, § 97 GWB Rn. 85). Die Motive des Gesetzgebers widersprechen dem nicht (BT-Drucks. 13/9340). Nach dem gebotenen Normverständnis handelt es sich bei § 97 Abs. 4, 2. Hs. GWB um eine Ausnahmevorschrift (so u.a. auch Kulartz in Kulartz/Kus/Portz, Komm. zum GWB-Vergaberecht, § 97 Rn. 100; Hailbronner, a.a.O., Rn. 249; Korbion a.a.O.), die eng auszulegen ist und eine Tarifregelung in einem formellen Bundes- oder Landesgesetz fordert. Dieses Verständnis hat der Gesetzgeber auch durch die Wortwahl in § 97 Abs. 4 GWB im Vergleich zu Absatz 2 dieser Bestimmung vorgegeben. So soll nach § 97 Abs. 2 GWB eine Benachteiligung von Teilnehmern am Vergabeverfahren "auf Grund" des Gesetzes zugelassen werden können. Wenn § 97 Abs. 4, 2. Hs. GWB hingegen lautet, weitergehende Anforderungen dürften nur gestellt werden, wenn dies "durch" Bundes- oder Landesgesetz vorgesehen sei, ist daraus zu schließen, dass das Gesetz selbst die Tarifregelung (und wenn auch durch eine Bezugnahme) aufweisen muss. Daran fehlt es im Streitfall. Der Tarifvertrag vom 29.11.2007 über Mindestlöhne für die Branche Briefdienstleistungen ist nicht durch Gesetz im formellen Sinn, sondern durch die Postmindestlohnverordnung des Bundesministers für Arbeit und Soziales vom 28.12.2007 für verbindlich erklärt worden. Ungeachtet dessen, dass der genannte Tarifvertrag aufgrund seiner Allgemeinverbindlicherklärung - ihre rechtliche Wirksamkeit unterstellt - bei der Auftragsausführung einzuhalten ist (vgl. Erwägungsgrund 34 der Richtlinie 2004/18/EG und EuGH, Urt. v. 3.4.2008 - C-346/06), sind der Antragsgegnerin deswegen die Hände gebunden, die Regelungen des Tarifvertrags und/oder die Postmindestlohnverordnung als ein Kriterium für die Eignungsprüfung heranzuziehen (vgl. auch den den Verfahrensbeteiligten amtswegig übersandten Beschluss des Senats vom 29.4.2009 - VII-Verg 76/08, BA 8).

b) Die Antragstellerin ist ebenso wenig nach § 6 Satz 2 AEntG a.F. (§ 21 Abs. 1 Satz 2 AEntG n.F.) vom Vergabeverfahren fernzuhalten. Danach sollen von der Teilnahme an einem Wettbewerb um öffentliche Aufträge Bewerber für eine angemessene Zeit bis zur nachgewiesenen Wiederherstellung ihrer Zuverlässigkeit ausgeschlossen werden, wenn sie wegen eines bußgeldbewehrten Verstoßes gegen die Tariftreuepflicht zwar noch nicht mit einer Geldbuße belegt worden sind, angesichts der Beweislage im Einzelfall aber dennoch kein vernünftiger Zweifel an einer dahingehenden schwerwiegenden Verfehlung besteht. Davon kann im Streitfall mit Rücksicht auf die Begründung der Antragstellerin, weshalb sie in ihrem Unternehmen von einer Anwendung des genannten Tarifvertrages absieht, jedoch nicht gesprochen werden. Die Antragstellerin ist im Anschluss an die erwähnten Urteile des Verwaltungsgerichts Berlin und des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg der Meinung, die Postmindestlohnverordnung sei rechtsunwirksam, der Tarifvertrag vom 29.11.2007 demzufolge nicht verbindlich geworden. Mit dieser Annahme steht die Antragstellerin nicht allein. Unter den obwaltenden Umständen, und zwar der Übereinstimmung der Ansicht der Antragstellerin mit der Rechtsauffassung von Verwaltungsgerichten, eignet sich die Nichtanwendung des Tarifvertrags nicht dazu, die Zuverlässigkeit der Antragstellerin zu bezweifeln. Von dem in § 6 Satz 2 AEntG a.F. (§ 21 Abs. 1 Satz 2 AEntG n.F.) vorausgesetzten klaren Verstoß gegen Rechtsnormen kann bei dieser Sachlage nicht ausgegangen werden.

c) Das Angebot der Antragstellerin kann auch nicht nach § 25 Nr. 1 Abs. 2 b, § 7 Nr. 5 e VOL/A ausgeschlossen werden. Dies setzt voraus, dass die Antragstellerin mit der von der Antragsgegnerin geforderten Erklärung, ihr Unternehmen unterliege nicht dem sachlichen Anwendungsbereich des Tarifvertrags vom 29.11.2007 bzw. werde nicht von ihm gebunden, eine vorsätzlich unzutreffende Erklärung in Bezug auf ihre Fachkunde, Leistungsfähigkeit und/oder Zuverlässigkeit abgegeben hat. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die Erklärung der Antragstellerin überhaupt eines der genannten Elemente der Eignung, insbesondere die Zuverlässigkeit, betraf. Denn Tariftreue ist nicht ohne weiteres ein Umstand, welcher der Zuverlässigkeit zugerechnet werden kann (vgl. auch Senat, Beschl, v. 29.4.2009 - VII-Verg 76/08, BA 6 f.). Eine Erweiterung des Ausschlussgrundes auf den Tatbestand unzutreffender Erklärungen über weitergehende Anforderungen im Sinne des § 97 Abs. 4, 2. Hs. GWB ist nicht unproblematisch, da Ausschlussgründe prinzipiell eng auszulegen sind. Ungeachtet dessen muss die vorsätzlich falsche Erklärung Tatsachen zum Gegenstand haben, die sich auf Eignungsmerkmale beziehen. Daran scheitert im Streitfall ein Angebotsausschluss. Denn die Erklärung der Antragstellerin vom 21.8.2008, dem fraglichen Tarifvertrag nicht zu unterliegen, bzw. nicht daran gebunden zu sein, gab ihre Rechtsauffassung bekannt und stellte keine Tatsachenangabe dar. Das wird schon daran deutlich, dass die Antragstellerin der Antragsgegnerin nach deren eigenem Vorbringen (Beschwerdeerwiderung S. 10) bereits mit ihrer ersten Rüge vom 22.7.2008 eine Abschrift des Urteils des Verwaltungsgerichts Berlin vom 7.3.2008 (siehe oben) übersandt hatte. Die als falsch beanstandete Erklärung war vor diesem Hintergrund zu lesen und zu verstehen. Aus dem Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin ging hervor, dass die Postmindestlohnverordnung als außerhalb der gesetzlichen Ermächtigung stehend angesehen wurde, weil sie eine Bindung von Unternehmen an anderweitige tarifliche Regelungen verdrängte. Daraus konnte entnommen werden, dass sich die Antragstellerin aus Rechtsgründen nicht an den durch die Postmindestlohnverordnung für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag gebunden fühlte. Mit der als unzutreffend beanstandeten Erklärung hat die Antragstellerin mithin lediglich ihrer Rechtsauffassung Ausdruck gegeben.

d) Das Angebot der Antragstellerin kann schließlich ebenso wenig wegen verweigerter Aufklärung nach § 24 Nr. 1 Abs. 2 VOL/A von der Wertung ausgeschlossen werden. Insofern kann letztlich offen bleiben, ob die Antragsgegnerin vergaberechtlich dazu berechtigt war, wie geschehen Aufklärung über die finanzielle und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Antragstellerin, und zwar nur von ihr, für den Fall zu verlangen, dass die Postmindestlohnverordnung entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts Berlin und des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg doch rechtswirksam sein sollte und den beschäftigten Arbeitnehmern Löhne nach Maßgabe des Tarifvertrags vom 29.11.2007 nachgezahlt werden müssten. Dabei ist das Aufklärungsverlangen der Antragsgegnerin nicht zwingend als eine - alsdann vergaberechtlich unstatthafte (siehe oben unter a) - mittelbare Forderung nach Einhaltung des Tarifvertrags zu verstehen. Es kann sich auch um eine Maßnahme gehandelt haben, durch die sich die Antragsgegnerin aus Gründen äußerster Vorsicht zulässigerweise gerade auch für den Fall der individuellen finanziellen und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Antragstellerin versichern wollte, dass beträchtliche Nachzahlungen von Tariflöhnen auf sie zukommen sollten.

Die Auskunft, welche die Antragstellerin der Antragsgegnerin zuteil werden ließ, berechtigt jedoch nicht dazu, von einer verweigerten Mitwirkung bei der zulässigen Aufklärung über Eignungsaspekte zu sprechen. Zwar hat die Antragstellerin konkrete Fragen der Antragsgegnerin nicht beantwortet, dies mit Ausnahme der der Sicherstellung der erforderlichen Liquidität im Fall von Nachzahlungen geltenden Frage. Diese hat die Antragstellerin unter Hinweis auf einen anliegenden Handelsregisterauszug durch den Hinweis auf ihre Zugehörigkeit zur …Unternehmensgruppe beantwortet. Aus dem beigefügten Handelsregisterauszug geht hervor, dass zwischen der Antragstellerin und ihrer Muttergesellschaft, der … , als herrschendem Unternehmen ein Ergebnisabführungsvertrag besteht. Wenn das so ist, hat nach den als rechtsähnlich heranzuziehenden Vorschriften der §§ 302, 303 AktG in Anerkennung des Bestandsinteresses der GmbH im Prinzip gleichermaßen ein Verlustausgleich durch das beherrschende Unternehmen stattzufinden (vgl. BGHZ 151, 181, 186; 149, 10, 15;116, 37, 39; 95, 330, 345; Hüffer, Aktiengesetz, 8. Aufl. § 302 Rn. 7 f.; Roth/Altmeppen, GmbHG, 5. Aufl., Anh § 13 Rn. 72; Baumbach/Hueck, GmbH-Gesetz, 18. Aufl., Schlussanh. Rn. 105 - 107, jeweils m.w.N.). Auf die Vorschriften der §§ 302, 303 AktG und einen Verlustausgleich hatte die Antragstellerin ausdrücklich hingewiesen.

Seinerzeit hat die Antragsgegnerin die Erklärung der Antragstellerin über deren Unternehmenszugehörigkeit und einen Verlustausgleich hingenommen. Weitergehende Nachfragen nach der Fähigkeit der Muttergesellschaft, für einen Verlustausgleich aufzukommen, sind nicht gestellt worden. Auch in andere Richtungen hat die Antragsgegnerin insoweit nicht ermittelt. Daraus folgt: Der Hinweis der Antragstellerin auf eine Verlustausgleichspflicht ihrer Muttergesellschaft und der Umstand, dass deren Zahlungskraft nicht angezweifelt worden war, genügte, ihre Liquidität für den Fall einer Nachzahlung von Tariflöhnen darzulegen. Ein Mehr an Mitwirkung war von der Antragstellerin im Rahmen des § 24 Nr. 1 VOL/A nicht zu fordern. Dabei kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Antragsgegnerin von Mitbewerbern in vergleichbarer Lage wie der Antragstellerin keinerlei Nachweise darüber verlangt hatte, auf welche Weise diese beabsichtigten, ihren Zahlungsverpflichtungen unter der Geltung des fraglichen Tarifvertrags nachzukommen. Die an das von der Antragstellerin einzuhaltende Aufklärungsniveau zu richtenden Anforderungen dürfen unter den Geboten der Gleichbehandlung und der Verhältnismäßigkeit von daher nicht übersteigert werden.

Auch im Zeitpunkt, in dem die Antragstellerin vom Vergabeverfahren ausgeschlossen worden ist, verfügte die Antragsgegnerin über keine gesicherte und im Rahmen der Angebotswertung verwertbare Erkenntnis, die finanzielle und/oder wirtschaftliche Leistungsunfähigkeit der Antragstellerin anzuzweifeln (vgl. zur Notwendigkeit einer gesicherten Erkenntnis bereits BGH, Urt. v. 26.10.1998 - X ZR 30/98, BauR 2000, 254, 256 und seither st. Rspr. des Bundesgerichtshofs). Im Prozess hat die Antragsgegnerin zwar Bedenken an der Leistungsfähigkeit der Muttergesellschaft der Antragstellerin für einen Verlustausgleich angemeldet. Gesicherte Erkenntnisse, die insoweit zu Zweifeln berechtigen, sind von ihr jedoch auch im Prozess nicht vorgetragen worden.

2. Aus Vorstehendem folgt für die von der Antragstellerin gestellten Anträge: Die Antragstellerin hat zur Beseitigung einer ihr widerfahrenen Rechtsverletzung weder einen Anspruch darauf, dass ihr der Zuschlag erteilt wird, noch kann sie - wie beantragt - mit Erfolg eine bloße Wiederholung der Angebotswertung verlangen, die im Ergebnis darauf hinausliefe, dass ihr der Zuschlag erteilt werden müsste. Bei dahingehenden Entscheidungen würde der Senat als Beschwerdegericht das der Antragsgegnerin zustehende Ermessen übergehen, auf welche Weise sie die Leistung nunmehr beschaffen will. Der Antragsgegnerin stehen mehrere Optionen offen: Sie muss sich entscheiden, ob die geforderte Tariftreue weiter aufrechterhalten bleiben soll. Verneinendenfalls wird die Antragsgegnerin anderen Bietern aus Gründen der Chancengleichheit eine Erneuerung ihrer Angebote ermöglichen können. Die Antragsgegnerin kann das laufende Vergabeverfahren unter Umständen auch vollständig aufheben und eine Neuausschreibung nach Maßgabe der Vorschriften des am 24.4.2009 in Kraft getretenen geänderten GWB anstreben. Dem öffentlichen Auftraggeber obliegende Ermessensentscheidungen solcher Art darf - an seiner Stelle - das Beschwerdegericht nicht vorwegnehmen oder ersetzen. Deshalb kann auch der Antragsgegnerin lediglich untersagt werden, die Antragstellerin oder deren Angebot vom Vergabeverfahren auszuschließen.

3. Der im Beschwerderechtszug auf Feststellung einer Rechtsverletzung gerichtete Antrag der Antragstellerin ist zulässig und begründet. Einer Beschwer der Antragstellerin bedarf es dazu nicht. Nach der Rechtsprechung des Senats (Beschl. v. 28.2.2002 - Verg 40/01, NZBau 2003, 173, 175; Beschl. v. 29.4.2009 - VII-Verg 76/08) kann ein Feststellungsantrag gemäß § 123 Satz 3 GWB zulässigerweise - gewissermaßen als Zwischenfeststellungsantrag - im Beschwerdeverfahren auch ohne eine Erledigung des Nachprüfungsverfahrens angebracht werden (ebenso: Jaeger in Byok/Jaeger, Komm. zum Vergaberecht, 2. Aufl., § 123 GWB Rn. 1237; Otting in Bechtold, GWB, 5. Aufl., § 123 Rn. 5; Korbion, Vergaberechtsänderungsgesetz, § 123 GWB Rn. 5; Tilmann, WuW 1999, 342, 343; a.A. Stockmann in Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht GWB, 4. Aufl., § 123 GWB Rn. 11; Möllenkamp in Kulartz/Kus/Portz, Komm. zum GWB-Vergaberecht, § 123 GWB Rn. 23). Das erforderliche Feststellungsinteresse ergibt sich aus der Bindungswirkung der Feststellung für einen späteren Schadensersatzprozess (§ 124 Abs. 1 GWB), aber auch aus der Gefahr einer Wiederholung des beanstandeten Rechtsverstoßes.

In der Sache hat der Feststellungsantrag Erfolg. Dazu wird auf die vorstehenden Ausführungen verwiesen. Die Antragstellerin resp. deren Angebot sind von der Antragsgegnerin ohne rechtfertigenden Grund von der Angebotswertung ausgeschlossen worden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 128 Abs. 3, 4 GWB sowie auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO. Sowohl der Nachprüfungsantrag als auch die Beschwerde liefen darauf hinaus, dass die Antragstellerin den Zuschlag erlangt hätte. Dieses Ziel ist so weit verfehlt worden, dass im Rahmen des bei der Kostenentscheidung obwaltenden Ermessens von einem hälftigen Unterliegen der Antragstellerin zu sprechen ist. Da sich die Beigeladene mit eigenem Sachvortrag am Nachprüfungsverfahren beteiligt hat, ist sie in gleicher Weise wie die Antragsgegnerin unterlegen (vgl. Senat, Beschl. v. 15.6.2000 - Verg 6/00, NZBau 2000, 440, 444; Beschl. v. 29.11.2000 - Verg 21/00, BA 8 f.).






OLG Düsseldorf:
Beschluss v. 29.07.2009
Az: VII-Verg 18/09


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