Bundespatentgericht:
Beschluss vom 13. März 2007
Aktenzeichen: 21 W (pat) 64/04
(BPatG: Beschluss v. 13.03.2007, Az.: 21 W (pat) 64/04)
Zusammenfassung der Gerichtsentscheidung
Das Bundespatentgericht hat in dieser Entscheidung eine Beschwerde einer Anmelderin gegen den Beschluss der Prüfungsstelle für Klasse A 61 M des Deutschen Patent- und Markenamts zur Patentanmeldung "Griffstück für eine Spritze" vom 19. März 1996 behandelt. Die Prüfungsstelle hatte die Patentanmeldung zurückgewiesen, da der Gegenstand des geltenden Patentanspruchs 1 nicht mehr neu sei. Die Anmelderin hat gegen diese Entscheidung Beschwerde eingelegt und verteidigt ihre Anmeldung in der mündlichen Verhandlung.
Das Bundespatentgericht hat die Beschwerde der Anmelderin aufgrund des neuen, überarbeiteten Patentanspruchs 1 für begründet befunden. Es stellte fest, dass der Patentanspruch im Rahmen der ursprünglichen Offenbarung und trotz des Standes der Technik patentfähig ist. Das Gericht erklärte, dass der Gegenstand des Patentanspruchs neu ist und auf einer erfinderischen Tätigkeit basiert. In der Entscheidung wurden verschiedene Entgegenhaltungen des Standes der Technik analysiert und aufgezeigt, dass keine der Entgegenhaltungen den Patentanspruch vorwegnimmt oder nahelegt.
Das Gericht kam zu dem Schluss, dass der geltende Patentanspruch 1 sowie die darauf rückbezogenen Ansprüche 2 bis 5 patentfähig sind, da sie sich von dem bekannten Stand der Technik unterscheiden und nicht naheliegend sind. Dementsprechend wurde die Beschwerde der Anmelderin angenommen, der Beschluss der Prüfungsstelle aufgehoben und das Patent erteilt.
Die Gerichtsentscheidung im Volltext:
BPatG: Beschluss v. 13.03.2007, Az: 21 W (pat) 64/04
Tenor
Auf die Beschwerde der Anmelderin wird der Beschluss der Prüfungsstelle für Klasse A 61 M des Deutschen Patent- und Markenamts vom 14. Juli 2004 aufgehoben und das Patent erteilt.
Bezeichnung: System mit einer Spritze und einem Griffstück Anmeldetag: 19. März 1996 Der Erteilung liegen folgende Unterlagen zugrunde:
Patentansprüche 1 - 5, überreicht in der mündlichen Verhandlung vom 13. März 2007 Beschreibung, Seiten 1 - 8, überreicht in der mündlichen Verhandlung vom 13. März 2007 2 Blatt Zeichnungen Figuren 1 - 6, überreicht in der mündlichen Verhandlung vom 13. März 2007.
Gründe
I Die Prüfungsstelle für Klasse A 61 M des Deutschen Patent- und Markenamts hat die am 19. März 1996 eingereichte Patentanmeldung mit der Bezeichnung "Griffstück für eine Spritze" durch Beschluss vom 14. Juli 2004 zurückgewiesen. Der Zurückweisung lagen die mit Eingabe vom 28. September 1998 eingereichten Patentansprüche 1 bis 5 zugrunde.
Zur Begründung ist in der Entscheidung ausgeführt, dass der Gegenstand des geltenden Patentanspruchs 1 gegenüber der älteren, nachveröffentlichten Druckschrift D4: EP 0 764 450 A1 nicht mehr neu sei.
Im Prüfungsverfahren ist zum Stand der Technik außerdem auf die Entgegenhaltungen D1: DE 84 24 558 U1 D2: US 4 687 472 D3: DE 43 31 137 A1 sowie auf die ältere, nachveröffentlichte Druckschrift D5: EP 0 738 517 A1 verwiesen worden.
Gegen den vorgenannten Beschluss richtet sich die Beschwerde der Anmelderin. Sie verteidigt ihre Anmeldung auf der Grundlage der in der mündlichen Verhandlung überreichten Patentansprüche 1 - 5 und vertritt die Auffassung, dass der Gegenstand des geltenden Patentanspruchs 1 neu sei und auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe.
Die Anmelderin beantragt, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und das Patent mit folgenden Unterlagen zu erteilen:
Ansprüche 1 - 5, vorgelegt in der mündlichen Verhandlung, Beschreibung, Seiten 1 - 8, vorgelegt in der mündlichen Verhandlung, 2 Blatt Zeichnungen, Figuren 1 - 6, vorgelegt in der mündlichen Verhandlung.
Der geltende, mit Gliederungspunkten versehene Patentanspruch 1 lautet:
M1 System mit einer Spritze (2) und einem Griffstück (1), M2a wobei die Spritze (2) einen Glaszylinder (10) mit einem flanschartig vorspringenden Glasring (12) am proximalen Ende M2b und einen in dem Glaszylinder (10) verschiebbaren, ein Trägerteil (16) und eine Dichtung (18) aufweisenden Kolben (16, 18)
M2c mit einem über das proximale Ende des Glaszylinders (10) hinausreichenden Schaft (20), dessen Querschnittsperipherie nicht überall an die Peripherie des Trägerteils (16) des Kolbens (16, 18) heranreicht, aufweist, M3 wobei das Griffstück (1) mindestens ein seitlich vorspringendes Fingeranlageelement (30, 31) aufweist M4 und wobei das Griffstück (1) eine erste (32), eine zweite (34) und eine dritte (36) Aussparung aufweist, M5 die zum seitlichen Aufschieben des Griffstücks (1) auf die Spritze (2) seitlich zugänglich sind, M6.1 wobei die erste Aussparung (32) zur Aufnahme des Glasrings (12) eingerichtet ist, M6.2 wobei die zweite Aussparung (34), in die die erste Aussparung (32) in distaler Richtung übergeht, zur Aufnahme des proximalen Bereichs des Glaszylinders (10) eingerichtet ist, M6.3a wobei die dritte Aussparung (36), in die die erste Aussparung (32) in proximaler Richtung übergeht, so eingerichtet ist, dass sie den Durchtritt des Schafts (20), nicht aber den des Kolbens (16, 18) ermöglicht M6.3b und auf eine Spritze (2) abgestimmt ist, deren Schaft (20) einen kreuzförmigen Querschnitt hat, M6.3c wobei die dritte Aussparung (36) einen Schlitz mit einer Breite (B) aufweist, die nur ein schräges Einführen der Kreuzbalken (22, 23) ermöglicht, M6.3d aber geringer ist als der Durchmesser des Kolbens (16, 18), so dass der Randbereich des Schlitzes einen Anschlag für das Trägerteil (16) des Kolbens (16, 18) bildet M6.3e und der Kolben (16, 18) bestimmungsgemäß weder über diesen Anschlag aus dem Glaszylinder (10) herausziehbar ist M6.3f noch über diesen Anschlag in den Glaszylinder (10) einführbar ist.
II Die zulässige Beschwerde der Anmelderin ist nach der Neufassung des Patentanspruchs 1 im Beschwerdeverfahren begründet. Denn nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung stehen der in diesem Patentanspruch beanspruchten technischen Lehre Schutzhindernisse nicht entgegen. Der geltende Patentanspruch 1 hält sich insbesondere im Rahmen der ursprünglichen Offenbarung (§ 38 PatG) und sein Gegenstand wird vom nachgewiesenen Stand der Technik nicht patenthindernd getroffen (§§ 3 und 4 PatG).
1) Der geltende Patentanspruch 1 ist im Gegensatz zu dem ein "Griffstück für eine Spritze" betreffenden ursprünglichen Patentanspruch 1 in zulässiger Weise auf ein "System mit einer Spritze und einem Griffstück" gerichtet und stützt sich auf die Merkmale der ursprünglichen Patentansprüche 1 und 2 sowie auf die Figuren 3 bis 5 und die ursprüngliche Beschreibung Seite 8, 1. Absatz. Der geltende Patentanspruch 1 ist demnach zulässig.
Die geltenden Patentansprüche 2 bis 5 entsprechen - in dieser Reihenfolge - den ursprünglichen Patentansprüchen 3 bis 6. Sie sind somit ebenfalls zulässig.
2) Nach den Angaben in der geltenden Beschreibung (Seite 1, 1. Absatz) betrifft die Anmeldung ein System mit einer Spritze und einem Griffstück. Wie die Anmelderin weiter ausführt (Seite 2a, 1. und 2. Absatz) sind derartige Systeme beispielsweise aus den Druckschriften D1 und D3 bekannt.
Der Anmeldung liegt die Aufgabe zugrunde, eine kostengünstige Möglichkeit zu schaffen, die Handhabung einer Spritze der vorstehend genannten Art zu erleichtern und ihre Sicherheit zu erhöhen. Insbesondere soll das Einführen und das Herausziehen des Kolbens in den bzw. aus dem Glaszylinder sicher verhindert werden (Seite 2, 2. Absatz).
3) Das - zweifelsohne gewerblich anwendbare - System mit einer Spritze und einem Griffstück gemäß dem geltenden Patentanspruch 1 ist gegenüber dem nachgewiesenen Stand der Technik neu und beruht diesem gegenüber auch auf einer erfinderischen Tätigkeit des zuständigen Fachmanns, der hier als ein mit der Fertigung von Spritzen befasster, berufserfahrener Medizintechniker zu definieren ist.
a) Der Gegenstand des geltenden Patentanspruchs 1 ist neu, da sich keiner der im Verfahren befindlichen Entgegenhaltungen ein System mit einer Spritze und einem Griffstück mit sämtlichen, im geltenden Patentanspruch 1 aufgeführten Merkmalen als bekannt entnehmen lässt.
) Die ältere, nachveröffentlichte Druckschrift D4 (vgl. insbesondere die Figuren 3 und 3a sowie die Beschreibung Spalte 5, Zeilen 4 bis 55, Spalte 7, Zeilen 14 bis 42 und Spalte 3, Zeilen 54 bis 58) nimmt den Gegenstand des geltenden Patentanspruchs 1 nicht vorweg, da das das Merkmal M6.3f des Anspruchs, wonach der Kolben nicht über den durch den Randbereich der dritten Aussparung gebildeten Anschlag in den Glaszylinder einführbar ist, bei dem aus der D4 bekannten Griffstück (backstop 10) nicht erfüllt ist. Vielmehr sieht dieser Stand der Technik vor, dass die dortige dritte Aussparung (aperture 32; vgl. auch Fig. 2 u. 4) zwar das unbeabsichtigte Herausziehen des Kolbens (stopper 20) aus der Spritze (syringe 12) verhindern, jedoch dessen Einführung in die Spritze (12) ohne weiteres ermöglichen soll.
Dies wird gemäß der Lehre der D4 (vgl. insbesondere die Figuren 3a und 4 sowie die Beschreibung Spalte 7, Zeilen 14 bis 42) dadurch erreicht, dass diese Aussparung (32) des Griffstücks (10) derart konisch ausgebildet ist, dass auf dessen der Spritze (12) zugewandten Seite ein ringförmiger, den Innendurchmesser der Aussparung (32) verringernder Vorsprung (overhang 55) entsteht. Dieser Vorsprung (55) erlaubt es zwar, den Kolben (20) bei aufgesetztem Griffstück (10) in den Spritzenzylinder (12) einzuführen, setzt ihm aber in Gegenrichtung einen so großen Widerstand entgegen, dass der Kolben (20) nicht ohne weiteres herausgezogen werden kann.
) Die Druckschrift D5 (vgl. insbesondere die Figur 7 und die Beschreibung Spalte 7, Zeilen 52 bis 58), die ebenfalls einen älteren Prioritätstag für sich beansprucht, aber nachveröffentlicht ist, geht über den Offenbarungsgehalt der D4 nicht hinaus. Auch diese Entgegenhaltung vermag somit die Neuheit des Gegenstandes des geltenden Patentanspruchs 1 nicht in Frage zu stellen.
) Aus der Druckschrift D3 (vgl. insbesondere die Figuren 3a, 3b und 4 sowie die Beschreibung Spalte 4, Zeilen 5 bis 22) ist ein Griffstück (Rastteil) für eine Spritze bekannt, dessen dritte Aussparung (koaxiale Bohrung 13) so bemessen ist, dass der Rand (15) dieser Bohrung (13) einen Anschlag für den Kolben (Stopfen 4) bildet. Deshalb kann der Kolben (4) bei aufgesetztem Griffstück infolge des solchermaßen gebildeten Anschlags - entsprechend den Merkmalen M6.3e und M6.3f des geltenden Patentanspruchs 1 - weder aus dem Glaszylinder (Spritzenzylinder 1) herausgezogen, noch über den Anschlag hinaus in den Glaszylinder (1) eingeführt werden. Jedoch ist die dritte Aussparung (13) bei diesem Stand der Technik seitlich nicht zugänglich, wie dies insoweit im Merkmal M5 für alle drei Aussparungen der Griffstücks beansprucht wird. Schon aus diesem Grunde erweist sich der Gegenstand des geltenden Patentanspruchs 1 gegenüber der D3 als neu.
) Auch die D1 (vgl. insbesondere die Figur 1 und die Beschreibung Seite 5, Zeile 10 bis Seite 6, Zeile 4) nimmt den Gegenstand des geltenden Patentanspruchs 1 nicht vorweg, da das dort beschriebene Griffstück (Teilrohrstück 8) weder ein Herausziehen des Kolbens aus der Spritze (Spritzenzylinder 1) noch ein Hineinschieben des Kolbens in diesen zu verhindern vermag, so dass bei diesem Stand der Technik bereits die Merkmale M6.3e und M6.3f ersichtlich nicht erfüllt sind.
b) Der Gegenstand des geltenden Patentanspruchs 1 wird dem zuständigen Fachmann durch den im Verfahren befindlichen, vorveröffentlichten Stand der Technik aber auch nicht nahegelegt.
Denn selbst wenn der Fachmann die Entgegenhaltungen D1 und D3 kombinieren würde, käme er allenfalls zu einem System mit einer Spritze und einem Griffstück, bei welchem zwar alle drei Aussparungen des Griffstücks seitlich zugänglich sind ([Merkmal M5] vgl. Druckschrift D1) und bei dem ein Herausziehen des Kolbens aus dem Zylinder sowie ein Einführen des Kolbens in den Zylinder bei aufgesetztem Griffstück verhindert wird ([Merkmale M6.3e und M6.3f] vgl. Druckschrift D3), bei dem jedoch das Merkmal M6.3c des geltenden Patentanspruchs 1 nicht erfüllt ist.
Was dieses Merkmal anbelangt, so offenbaren zwar beide Entgegenhaltungen bereits einen mit dem jeweiligen Kolben verbundenen Schaft mit kreuzförmigem Querschnitt (vgl. jeweils die Figur 1 der D1 und der D3). Eine Anregung dahingehend, die dritte Aussparung des Griffstücks entsprechend dem Merkmal M6.3c des geltenden Patentanspruchs 1 in Form eines Schlitzes mit einer solchen Breite (B) auszubilden, dass nur ein schräges Einführen der Kreuzbalken des Kolbenschaftes ermöglicht und somit ein Herausziehen des Kolbens aufgrund der vergrößerten Anschlagsfläche zuverlässig vermieden wird, vermögen die Druckschriften D1 und D3 auch in ihrer Zusammenschau dem Fachmann jedoch nicht zu liefern.
c) Auch die noch verbleibende, im Verfahren befindliche Druckschrift D2 kann - wie der Senat überprüft hat - weder die Neuheit noch die erfinderische Tätigkeit des Gegenstands des geltenden Patentanspruchs 1 in Frage stellen. Diese Entgegenhaltung hat in der mündlichen Verhandlung im Übrigen keine Rolle gespielt.
Der Gegenstand des geltenden Patentanspruchs 1 ist nach alledem patentfähig.
4) Die auf den Patentanspruch 1 rückbezogenen Ansprüche 2 bis 5 betreffen vorteilhafte, nicht selbstverständliche Ausgestaltungen seines Gegenstandes und werden von dessen Patentfähigkeit mitgetragen.
BPatG:
Beschluss v. 13.03.2007
Az: 21 W (pat) 64/04
Link zum Urteil:
https://www.admody.com/gerichtsentscheidung/9575fc509e51/BPatG_Beschluss_vom_13-Maerz-2007_Az_21-W-pat-64-04