Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen:
Urteil vom 29. Januar 2007
Aktenzeichen: L 1 AL 54/06

(LSG Nordrhein-Westfalen: Urteil v. 29.01.2007, Az.: L 1 AL 54/06)




Zusammenfassung der Gerichtsentscheidung

Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hat in einem Urteil entschieden, dass dem Kläger kein Haftungsrisikozuschlag zu seiner Anwaltshonorarnote zusteht. Der Kläger hatte gegen einen Bescheid der Beklagten Widerspruch eingelegt und verlangte von ihr die Erstattung der Kosten seines Anwalts im Widerspruchsverfahren. Der Anwalt hatte eine Gebühr in Höhe von 240,00 Euro für die Vertretung im Widerspruchsverfahren gefordert und zusätzlich eine Gebühr von 50,00 Euro für das Haftungsrisiko. Die Beklagte lehnte die Erstattung des Haftungsrisikozuschlags ab und setzte die von ihr zu erstattenden Kosten auf 260,00 Euro fest. Das Sozialgericht wies die Klage ab und das LSG bestätigte diese Entscheidung. Nach Ansicht des LSG ist das Haftungsrisiko zwar stets bei der Bemessung der Gebühr zu berücksichtigen, führt aber nicht zwangsläufig zu einer Erhöhung der Gebühr. Vielmehr ist das Haftungsrisiko lediglich eine Bemessungsgrundlage, die dazu dienen soll, ein besonderes Risiko des Rechtsanwalts zu honorieren. Im vorliegenden Fall lag jedoch kein besonderes Haftungsrisiko vor. Die anwaltlichen Handlungen beschränkten sich auf das Einlegen von fristgerechtem Widerspruch, wofür kein besonderes Risiko besteht. Daher wurde dem Kläger kein Haftungsrisikozuschlag zuerkannt und die Kostenentscheidung des Sozialgerichts bestätigt. Das LSG hat die Revision zugelassen.




Die Gerichtsentscheidung im Volltext:

LSG Nordrhein-Westfalen: Urteil v. 29.01.2007, Az: L 1 AL 54/06


Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 26.07.2006 wird zurückgewiesen. Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Höhe der von der Beklagten zu erstattenden Kosten des Verwaltungsvorverfahrens. Hierbei ist insbesondere streitig, ob bei der Bemessung der Gebühren das Haftungsrisiko des Prozessbevollmächtigten (§ 14 Abs. 1 Satz 3 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz - RVG -) zu berücksichtigen ist.

Die Beklagte bewilligte dem Kläger für die Zeit ab 06.04.2005 Arbeitslosengeld für 240 Tage (Verfügung vom 10.05.2005). Den täglichen Leistungssatz in Höhe von 30,95 Euro minderte sie gemäß § 140 des Dritten Buchs des Sozialgesetzbuches (SGB III) um 15,47 Euro, so dass ein Betrag von 15,48 Euro zur Auszahlung gelangte. Darüber hinaus lud sie den Kläger zum 31.05.2005 gemäß § 309 SGB III ein. Nachdem der Kläger nicht zur Einladung erschienen war, setzte sie ihn über eine von ihr veranlasste vorläufige Zahlungseinstellung in Kenntnis und lud ihn erneut für den 10.06.2005 ein.

Der Kläger trug daraufhin vor, dass er ab dem 13.06.2005 eine selbständige Tätigkeit aufnehme. Am 31.05.2005 sei er bei einem Vorstellungsgespräch in L gewesen. Die Beklagte teilte mit, dass in der Zeit vom 01.06.2005 bis 07.06.2005 eine Sperrzeit wegen Meldeversäumnisses eingetreten sei, und und setzte den Kläger davon in Kenntnis, dass sich der Anspruch auf Arbeitslosengeld um sieben Tage mindere. Außerdem hob sie den Bewilligungsbescheid für die Zeit vom 01.06.2005 bis 07.06.2005 auf und machte einen Erstattungsanspruch in Höhe von 108,36 Euro geltend (Bescheid vom 27.06.2005).

Hiergegen erhob der Kläger durch seinen Rechtsanwalt am 04.07.2005 Widerspruch. Er teilte mit, dass der Widerspruch noch begründet werde und beantragte die Gewährung von Akteneinsicht. Die Beklagte hob sodann den angefochtenen Bescheid vom 27.06.2005 auf und teilte mit, dass die im Widerspruchsverfahren entstandenen Kosten dem Grunde nach erstattet werden (Abhilfebescheid vom 09.08.2005).

Am 17.08.2005 übersandte der Prozessbevollmächtigte des Klägers seine Kostennote vom 16.08.2005. Diese war wie folgt aufgeschlüsselt:

Geschäftsgebühr in sozialrechtl. Angelegenheiten § 14, Nr. 2500 VV RVG 240,00Euro

Gebühr Zuschlag Haftungsrisiko § 14 Abs. 1 Satz 3 RVG 50,00 Euro

Post und Telekommunikation 20,00 Euro

Zwischensumme netto 310,00 Euro

16 % Mehrwertsteuer Nr. 7008 VV RVG 49,60 Euro

Zu zahlender Betrag 359,60 Euro.

Die Beklagte setzte daraufhin die von ihr zu erstattenden Kosten wie folgt fest:

Gebühr gem. § 3 RVG 240,00 Euro

Auslagenpauschale 20,00 Euro

insgesamt 260,00 Euro

zuzüglich 16 % Mehrwertsteuer 41,60 Euro

Erstattungsbetrag 301,60 Euro.

Die Beklagte führte weiterhin aus, dass sie zu dem Ergebnis gelangt sei, dass es sich bei dem vorliegenden Streitverfahren um einen Normalfall handele, so dass die Mittelgebühr in Ansatz zu bringen gewesen sei. Eine zusätzliche Übernahme des Zuschlages "Haftungsrisiko" könne nach Teil 3, Abschnitt 1, 3101 Nr. 3 VV RVG in sozialgerichtlichen Vorverfahren nicht erfolgen, da sich die Gebührenhöhe in diesen Fällen ausschließlich nach § 3 RVG richte (Bescheid vom 24.08.2005).

Mit dem Widerspruch machte der Kläger geltend, dass bei Rahmengebühren gemäß § 14 Abs. 1 Satz 3 RVG das Haftungsrisiko im Rahmen der Festsetzung der Gebühr stets zu berücksichtigen sei.

Den Widerspruch wies die Beklagte zurück; dazu führte sie im Wesentlichen aus, dass die geforderte Gebühr für ein Haftungsrisiko in Höhe von 50,00 Euro nicht übernommen werden könne. Gemäß § 14 Abs. 1 Satz 3 RVG könne zwar bei der Bemessung ein besonderes Haftungsrisiko des Rechtsanwalts herangezogen werden. Dies aber nur, wenn es sich um ein besonderes Risiko handele. Ein solches Risiko sei nicht schon dann gegeben, wenn es um das mit jeder Anwaltstätigkeit verbundene Risiko einer zum Schadensersatz verpflichtenden Handlung des Anwalts oder seiner Erfüllungsgehilfen gehe. Gegenstand des Vorverfahrens sei die Aufhebung einer Sperrzeit gewesen, die kein besonderes Haftungsrisiko nach sich ziehe (Widerspruchsbescheid vom 31.08.2005).

Der Kläger hat mit der am 13.09.2005 erhobenen Klage geltend gemacht, dass nicht nachzuweisen sei, ob und in welchem Umfang ein Haftungsrisiko in dem vorliegenden Verfahren gegeben sei. Ausschlaggebend sei vielmehr allein, dass abstrakt gesehen ein Haftungsrisiko bestehe. Grundsätzlich sei das Haftungsrisiko in den Gebühren unmittelbar enthalten. Bis zur Einführung des RVG sei dies auch in sozialrechtlichen Angelegenheiten der Fall gewesen. Erst durch das RVG und die Veränderung der Struktur der Berechnung sei ein Sonderposten "Haftungsrisiko" eingeführt worden.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 24.08.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.08.2005 zu verurteilen, ihm weitere 50,00 Euro zuzüglich Mehrwertsteuer zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat ausgeführt, dass das Haftungsrisiko lediglich eines von mehreren Kriterien darstelle, nach denen sich die geltend gemachte Gebühr richte. Dies führe allerdings nicht dazu, dass das vorliegend allenfalls als durchschnittlich zu qualifizierende Haftungsrisiko generell die Verfahrensgebühr erhöhe. Sämtliche Kriterien seien summarisch zu betrachten und führten zur Festsetzung eines Gesamtwertes, wobei bei Vorliegen von lediglich durchschnittlichen Bemessungskriterien auch nur eine Gebühr in Höhe der Mittelgebühr eingeräumt werden könne.

Mit Urteil vom 26.07.2006 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Es hat im Wesentlichen ausgeführt, dass eine regelmäßige Berücksichtigung des Haftungsrisikos im Wege eines Zuschlages nicht dem gesetzgeberischen Willen entspreche. Vielmehr seien die Bemessungskriterien, die bereits durch § 12 Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung (BRAGO) normiert worden seien, um ein weiteres - gleichrangiges - Kriterium, und zwar das Haftungsrisiko, ergänzt worden. Das Haftungsrisiko sei nunmehr, wie auch vom Kläger zu Recht angenommen, in jedem Fall zu berücksichtigen. Dies führe jedoch nicht zwingend zu einer Erhöhung der Gebühr. Die Gesetzesbegründung weise beispielhaft darauf hin, dass ein in Einzelfällen höheres Risiko zu einer höheren Gebühr führen könne. Im Umkehrschluss müsse daraus jedoch gefolgert werden, dass ein durchschnittliches Risiko im Zusammenspiel mit anderen - ebenfalls als durchschnittlich einzustufenden - Kriterien nur eine durchschnittliche Gebühr auslöse.

Gegen das ihm am 03.08.2006 zugestellte Urteil hat der Kläger am 04.09.2006 Berufung erhoben. Er macht geltend, dass der Gesetzgeber durch § 14 Abs. 1 Satz 3 RVG hervorgehoben habe, dass bei Betragsrahmengebühren, die sich nicht nach dem Gegenstandswert richteten, das Haftungsrisiko zu berücksichtigen sei, da es sich um eine sog. "Muss-Vorschrift" handele. Der Gesetzgeber habe damit klarstellen wollen, dass aufgrund der Besonderheit von Betragsrahmengebühren eine gesonderte zusätzliche Honorierung des Haftungsrisikos durchzuführen sei. Das Haftungsrisiko sei insoweit als gesonderte Gebühr zu berücksichtigen und nicht als zusätzliches Bestimmungskriterium nach § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG. Im Hinblick auf das Haftungsrisiko sei gerade die Besonderheit zu berücksichtigen, dass eine Honorierung dafür erfolgen solle, dass etwas vermieden werde. Es stelle sich nicht als ein zusätzlicher Aufwand des Rechtsanwalts dar, Haftungsrisiken zu vermeiden, sondern es sei der übliche Aufwand des Rechtsanwalts, Risiken zu umgehen. Deshalb sei dieses Kriterium nicht als gleichwertig mit den Kriterien i.S.d. § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG heranzuziehen. Sofern das Haftungsrisiko allerdings nicht als gesonderte Gebühr auszuweisen sei, müsse die Rechnung vom 16.08.2005 dahingehend verstanden werden, dass eine Gebühr in Höhe von 290,00 Euro gemäß Nr. 2500 VV RVG geltend gemacht werde. Eine Unbilligkeit i.S.d. § 14 Abs. 1 Satz 4 sei dann nicht gegeben. Denn bei der Feststellung der Unbilligkeit sei aufgrund der gesonderten anderweitigen Gebührenbestimmung nicht mehr eine 20 %-Grenze zu ziehen, sondern - da sich die Gebührenrahmen vergrößert hätten - eine 30 %-Grenze.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 26.07.2006 zu ändern und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 24.08.2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 31.08.2005 zu verurteilen, ihm weitere 50,- Euro zuzüglich Umsatzsteuer zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie nimmt im Wesentlichen Bezug auf ihr erstinstanzliches Vorbringen und auf die Gründe des angefochtenen Urteils.

Weiterer Einzelheiten wegen wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichts- und der den Kläger betreffenden Leistungsakte der Beklagten.

Gründe

Die zulässige Berufung ist in der Sache nicht begründet. Das Sozialgericht hat sowohl im Ergebnis als auch in der Begründung zu Recht entschieden, dass dem Kläger keine Erhöhung der geltend gemachten Mittelgebühr um einen Haftungsrisikozuschlag i.S.d. § 14 Abs. 1 Satz 3 RVG zusteht. Vor diesem Hintergrund ist der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 24.08.2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 31.08.2005 rechtmäßig, und der Kläger wird durch ihn nicht beschwert (§ 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

Nach § 63 Abs. 1 Satz 1 des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuches (SGB X) hat, soweit ein Widerspruch erfolgreich gewesen ist, der Rechtsträger, dessen Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, dem Widerspruchsführer die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen zu erstatten. Hierzu gehören auch die Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts, wenn seine Hinzuziehung - wie von der Beklagten bestandskräftig angenommen - notwendig war (§ 63 Abs. 2, Abs. 3 Satz 2 SGB X). Der Umfang der notwendigen Aufwendungen für den Prozessbevollmächtigten des Klägers richtet sich nach dem RVG i.V.m. dem Vergütungsverzeichnis (VV RVG).

Nach § 3 Abs. 2, Abs. 1 Satz 1 RVG entstehen in sozialgerichtlichen Verfahren (auch) außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens Betragsrahmengebühren, sofern das Gerichtskostengesetz keine Anwendung findet. § 3 RVG gilt auch für das sog. isolierte Vorverfahren (Landessozialgericht - LSG - Rheinland-Pfalz, Urteil vom 08.03.2006 - Az.: L 4 SB 174/05 -, Breithaupt 2006, 781 bis 784, Hartung/Römermann/Schons, RVG, 2. Aufl. 2006, § 3 Rdn. 21 ff.; Wahlen in Schneider/Wolf, Anwaltskommentar RVG, 3. Aufl. 2006, § 3, Rdn. 84). Da es sich bei dem Kläger als Bezieher von Arbeitslosengeld um einen kostenprivilegierten Beteiligten i.S.d. § 183 Satz 1 SGG handelt, findet das Gerichtskostengesetz (GKG) keine Anwendung. Die Höhe der Vergütung bestimmt sich somit nach dem VV RVG, das dem RVG als Anlage beigefügt ist (§ 2 Abs. 2 Satz 1 RVG). Gemäß Nr. 2500 VV RVG in der Fassung des Art. 3 Kostenrechtmodernisierungsgesetz (KostRMoG) vom 05.05.2004 (BGBl. I 2004, 718) beträgt die Geschäftsgebühr in sozialrechtlichen Angelegenheiten, in denen im gerichtlichen Verfahren Betragsrahmengebühren entstehen, 40,00 bis 520,00 Euro. Innerhalb dieses Rahmens bestimmt der Rechtsanwalt nach § 14 Abs. 1 RVG die Gebühr im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit für den Auftraggeber sowie dessen Einkommens- und Vermögensverhältnisse nach billigem Ermessen. Bei Rahmengebühren, die sich nicht nach dem Gegenstandswert richten, ist das Haftungsrisiko zu berücksichtigen (§ 14 Abs. 1 Satz 3 RVG). Im Hinblick auf die Bemessung der Gebühr ist zu berücksichtigen, dass eine Gebühr von mehr als 240,00 Euro nur gefordert werden kann, wenn die Tätigkeit umfangreich oder schwierig war (Amtliche Anmerkung zu Nr. 2500 VV RVG).

Die Beteiligten sind zunächst übereinstimmend davon ausgegangen, dass für die Vertretung des Klägers im Widerspruchsverfahren die Mittelgebühr anzusetzen ist. Dem tritt der Senat mit der Einschränkung bei, dass es sich bei der hier streitigen einwöchigen Sperrzeit allenfalls um eine durchschnittliche Angelegenheit gehandelt hat, wobei gewichtige Anhaltspunkte darauf hindeuten, dass Bedeutung, Umfang und Schwierigkeit der Angelegenheit als eher gering anzusehen sind. Zwar stellt das Arbeitslosengeld eine existenzsichernde Leistung mit Lohnersatzcharakter dar. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass sich Sperrzeit, Minderung des Gesamtanspruchs (§ 128 Abs. 1 Nr. 3 des Dritten Buchs des Sozialgesetzbuches - SGB III -), Aufhebung und Erstattungsanspruch lediglich auf sieben Tage beschränkt haben, was zu einer "Beschwer" des Klägers von "nur" 216,72 Euro führt. Im Hinblick auf Umfang und Schwierigkeit ist zu beachten, dass der Prozessbevollmächtigte bei einem sehr überschaubaren Sachverhalt lediglich die Erfolgsaussichten einzuschätzen und Widerspruch einzulegen hatte.

Nachdem von der Mittelgebühr auszugehen war, hat sich diese nicht um einen Zuschlag für das Haftungsrisiko gemäß § 14 Abs. 1 Satz 3 RVG erhöht. Entgegen der Ansicht des Klägers handelt es sich bei dem Haftungsrisiko nicht um eine gesonderte Gebühr, sondern lediglich um eine Gebührenbemessungsgrundlage (Hartmann, Kostengesetze, 36. Auflage 2006, § 14 RVG, Rdn. 13; PK-RVG/Winkler, 2. Auflage 2006 § 14, Rdn. 26 ff.; Hartung/Römermann/Schons, a.a.O., § 14 Rdn. 47; Rick in Schneider/Wolf, a.a.O., § 14 Rdn. 45; Bischof/Jungbauer, RVG, 2. Aufl. 2007, § 14, Rdn. 62). Das ergibt sich daraus, dass der Gesetzgeber dem Kriterium des Haftungsrisikos bei der Gebührenbestimmung ein besonderes Gewicht verleihen wollte. In der Sache stellt die Aufnahme des Haftungsrisikos in den Katalog der Bemessungskriterien letztlich nur eine besondere Klarstellung dar. Denn das Haftungsrisiko konnte auch nach alter Rechtslage im Rahmen der Gebührenbestimmung nach § 12 BRAGO ("Berücksichtigung aller Umstände") in die Gebührenbemessung einbezogen werden (Hartung/Römermann/Schons, a.a.O., § 14 Rdn. 51 f.; PK-RVG/Winkler, a.a.O., § 14, Rn. 26). Auch im Wortlaut des § 14 Abs. 1 Satz 3 RVG findet sich für die vom Kläger vertretene Auffassung keine Stütze. Denn es heißt dort, dass bei Rahmengebühren, die sich nicht nach dem Gegenstandswert richten, das Haftungsrisiko zu berücksichtigen ist. Eine derartige Formulierung ergäbe keinen Sinn, wenn der Rechtsanwalt das Haftungsrisiko als besondere Gebühr ausweisen könnte.

Die Mittelgebühr ist im vorliegenden Fall nicht um das Haftungsrisiko zu erhöhen. Allerdings ist einzuräumen, dass der Wortlaut des § 14 Abs. 1 Satz 3 RVG eine derartige Erhöhung nahelegen könnte. Wie das Sozialgericht jedoch zutreffend ausgeführt hat, ist das Haftungsrisiko zwar stets bei der Bemessung der Gebühr zu berücksichtigen. Dies führt allerdings nicht ausnahmslos in jedem Fall zwangsläufig zu einer Erhöhung der Gebühr (Hartmann, a.a.O., § 14 RVG, Rdn. 13; PK-RVG/Winkler, a.a.O., § 14, Rdn. 32; Otto, NJW 2006, 1472 [1476]). Vielmehr ist unter Zugrundelegung der Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 15/1971, S. 189 zu § 14 RVG) davon auszugehen, dass ein in Einzelfällen gegebenes höheres Risiko, das unter Zugrundelegung eines objektiven Maßstabes zu ermitteln ist (Hartung/Römermann/Schons, a.a.O., § 14 Rdn. 59), zu einer höheren Gebühr führen kann bzw. muss. Demgegenüber hat das generelle Haftungsrisiko keinen Einfluss auf die Gebührenhöhe (PK-RVG/Winkler, a.a.O., § 14, Rn. 32; so im Ergebnis LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 24.04.3006 - Az.: L 4 B 4/05 KR SF -, sozialgerichtsbarkeit.de). Vor diesem Hintergrund vermag der Senat der von Klier vertretenen Auffassung (NZS 2004, 469 [470]), wonach auch in durchschnittlichen Fällen ein durchschnittliches Haftungsrisiko zu einer Erhöhung der Gebühr führt, nicht zu folgen.

Ein im konkreten Mandat des Prozessbevollmächtigten des Klägers verwirklichtes besonderes Haftungsrisiko lag hier weder dem Grunde noch der Höhe nach vor. Vielmehr hat sich sein Haftungsrisiko als eher gering dargestellt. Die anwaltlichen Handlungen haben sich zunächst darauf erstreckt, die Erfolgsaussichten einzuschätzen und fristgerecht Widerspruch einzulegen. Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der Kläger am 31.05.2006 einen Vorstellungstermin in Köln wahrgenommen hat, sprachen gewichtige Indizien dafür, dass er für seine Säumnis einen wichtigen Grund geltend machen konnte. Vor diesem Hintergrund ließen sich die Erfolgsaussichten ohne ein besonderes Risiko abschätzen, so dass lediglich fristgerecht Widerspruch einzulegen war. Die fristgerechte Einlegung von Rechtsmitteln gehört jedoch zu den allgemeinen Pflichten von Rechtsanwälten, so dass hierbei der Bereich des generellen Haftungsrisikos betroffen ist. Der Höhe nach belief sich das Haftungsrisiko lediglich auf eine Beschwer des Klägers von 216,72 Euro, so dass selbst dann, wenn sich das Haftungsrisiko realisiert hätte, der Schaden sich als eher gering dargestellt hätte.

Die vom Prozessbevollmächtigten des Klägers "hilfsweise" geltend gemachte Überschreitung der Mittelgebühr um 50,00 Euro auf 290,00 Euro liegt nicht im Rahmen des ihm nach § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG eingeräumten Bestimmungsermessens, weil sie sich i.S.d. § 14 Abs. 1 Satz 4 RVG unbillig darstellt. Schon unter der Geltung der BRAGO waren die Anhaltspunkte - Mittelgebühr und Toleranzrahmen - nicht in der Weise miteinander zu kombinieren, dass in jedem Durchschnittsfall eine bis zu 20 %-ige Überschreitung der Mittelgebühr im Rahmen der Billigkeit blieb. Die Einführung des Gesichtspunkts der Mittelgebühr hatte den Zweck, jedenfalls in einem großen Teil der Verfahren, den Durchschnittsverfahren, einen bestimmten Betrag festlegen zu können. Zu entscheiden war im Einzelfall nur, ob es sich um einen Durchschnittsfall gehandelt hat. Der Gedanke des Spielraums war hingegen nicht geeignet, dieses Ergebnis in dem Sinn zu korrigieren, dass Rechtsanwälte in Durchschnittsfällen immer bis 20 % über die Mittelgebühr hinausgehen durften. Hätte man in jedem Normalfall die Erhöhung der Mittelgebühr durch den Rechtsanwalt im Rahmen seines Ermessensspielraums zugelassen, so wäre auf diese Weise die Mittelgebühr unterlaufen worden (vgl. Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 26.02.1992 - Az.: 9a RVs 3/90 zu § 12 BRAGO, Behindertenrecht 1992, 142 bis 144). Durch die amtliche Anmerkung 1 zu Nr. 2500 ist nunmehr klargestellt worden, dass eine Gebühr von mehr als 240,00 Euro nur gefordert werden kann, wenn die Tätigkeit umfangreich oder schwierig war. Das VV RVG ist durch den Verweis in § 2 Abs. 2 Satz 1 RVG in das RVG einbezogen worden und teilt somit dessen Rechtsnormcharakter (vgl. Gerold/Schmidt-Madert, RVG, 17. Auflage 2006, § 2, Rdn. 12; Hartung/Römermann/Schons, a.a.O., § 2, Rdn. 24).

Wie bereits oben ausgeführt, hat es sich vorliegend allenfalls um einen durchschnittlichen Fall gehandelt, so dass entsprechend den Vorgaben in Nr. 2500 VV RVG lediglich der Ansatz der Mittelgebühr in Höhe von 240,00 Euro zu rechtfertigen ist. Ließe man nunmehr eine Kombination von Mittelgebühr und Toleranzrahmen zu, führte dies zu einem Widerspruch zu den oben dargestellten gesetzlichen Vorgaben. Vor diesem Hintergrund lässt es der Senat dahinstehen, ob die 20 %-Grenze, die bisher auf die Geschäftsgebühr nach BRAGO angewandt wurde, unter der Geltung des RVG zu erweitern ist (ablehnend Bischof-Jungbauer, a.a.O., § 14, Rdn. 60).

Der Senat war nicht gemäß § 14 Abs. 2 RVG gehalten, ein Gutachten des Vorstandes der Rechtsanwaltskammer einzuholen. Denn eine solche Verpflichtung besteht nur in den Fällen, in denen die Gebühr zwischen Rechtsanwalt und Mandanten streitig ist, es sich also um einen echten Honorarstreit handelt (Bundesfinanzhof - BFH -, Beschluss vom 19.10.2004 - Az.: VII B 1/04 zu § 12 Abs. 2 BRAGO, RVGreport 2006, 20-21; Bundesverwaltungsgericht - BVerwG -, Urteil vom 17.08.2005 - Az.: 6 C 13/04 zu § 12 Abs. 2 BRAGO, RVGreport 2006, 21-22; PK-RVG/Winkler, a.a.O., § 14, Rdn. 49, m.w.N.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat hat wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache die Revision zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).






LSG Nordrhein-Westfalen:
Urteil v. 29.01.2007
Az: L 1 AL 54/06


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