Bundespatentgericht:
Beschluss vom 10. Februar 2003
Aktenzeichen: 20 W (pat) 22/01
(BPatG: Beschluss v. 10.02.2003, Az.: 20 W (pat) 22/01)
Zusammenfassung der Gerichtsentscheidung
Das Bundespatentgericht hat in seinem Beschluss vom 10. Februar 2003 das Patent in vollem Umfang widerrufen. Eine Einsprechende hatte die Patentfähigkeit des Patents angezweifelt und dabei auf ein angeblich vor dem Anmeldetag öffentlich zugängliches Anpassungsverfahren für Hörgeräte verwiesen. Dieses Verfahren wurde durch die Vorführung der Software in der mündlichen Verhandlung untermauert. Das Gericht war überzeugt von der öffentlichen Zugänglichkeit dieses Verfahrens vor dem Anmeldetag des Patents. Es wurde festgestellt, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 nach Hilfsantrag durch dieses bekannte Verfahren sowie weitere Fachliteratur naheliegend war. Das Patent wurde daher für nicht rechtsbeständig erklärt, da sein Gegenstand nach den relevanten Patentgesetzen nicht patentfähig war.
Die Gerichtsentscheidung im Volltext:
BPatG: Beschluss v. 10.02.2003, Az: 20 W (pat) 22/01
Tenor
Auf die Beschwerde der Einsprechenden wird der Beschluß der Patentabteilung 35 vom 16. Januar 2001 aufgehoben und das Patent widerrufen.
Gründe
I.
Das von der Beschwerdeführerin mit Einspruch angegriffene Patent 44 18 203 wurde vom Patentamt in vollem Umfang aufrechterhalten.
Die Einsprechende bestreitet die Patentfähigkeit des Gegenstandes und verweist hierzu auf das angeblich vor dem Anmeldetag der Öffentlichkeit zugänglich gemachte Anpaßverfahren
"GN Danavox fitting software for the AURA family"
nach Handbuch (Anlage A2 zum Einspruchsschriftsatz) und Bildschirmaufnahmen (A3)
und nennt zusätzlich
(5) US 5 091 866 und
(6) EP 0 192 022 B 1.
Sie untermauert ihr Vorbringen durch Vorführung des Verfahrens nach (A2) und beantragt, den angefochtenen Beschluß aufzuheben und das Patent zu widerrufen.
Die Patentinhaberin stellt den Antrag, die Beschwerde zurückzuweisen, hilfsweise, das Patent mit Anspruch 1 nach Hilfsantrag, überreicht in der mündlichen Verhandlung, aufrechtzuerhalten.
Sie erklärt, der Gegenstand der behaupteten offenkundigen Vorbenutzung, einschließlich des Inhalts der in der mündlichen Verhandlung erfolgten Vorführung der Version 1.21 der Danavox fitting software mit Copyright 1993, werde als vor dem Anmeldetag der Öffentlichkeit zugänglich gemacht anerkannt.
Zum Wortlaut des erteilten Anspruchs 1 wird auf die Streitpatentschrift verwiesen. Der gegenüber dem erteilten Anspruch 1 beschränkte Anspruch 1 nach Hilfsantrag lautet:
"1. Verfahren zum Anpassen der durch hörgerätespezifische Parameter festgelegten Übertragungscharakteristik eines Hörgerätes (4) mittels eines Personalcomputers (1), wobei ein Speicher (17) für Basiswerte einer Hörgeräteeinstellung in Verbindung mit einem Algorithmus (13) und einem Datenspeicher (18) eine Übertragungscharakteristik des Hörgerätes liefert und am Display (7) des Personalcomputers als grafische Kurve (9) zur Anzeige bringt, wobei für das Anpaßverfahren die Computermaus (2) als Zeigergerät für einen am Display positionierbaren Zeiger (6) verwendet wird, wobei mittels des Zeigergerätes (2) der zu verändernde Punkt oder Abschnitt der grafischen Kurve (9) angeklickt und die Kurve (9) in der gewünschten Richtung verschoben wird, wobei ein nahe dem Zeiger (6) angeordnetes Zeigersymbol (19) den dabei veränderten hörgerätespezifischen Parameter (G1) anzeigt und das Zeigersymbol (19) so geändert wird, daß auch die möglichen Richtungen der Bewegung erkennbar sind, wobei der Personalcomputer (1) nach der vorgenommenen Verschiebung die Übertragungscharakteristik korrigiert und in einer aktualisierten grafischen Kurve am Display zur Anzeige bringt, wobei weitere derartige Korrekturen an der Übertragungscharakteristik mittels der Computermaus ausgeführt werden bis eine gewünschte Kurve (9') eingestellt ist, wobei eine Verschiebung an beliebigen Stellen der Kurve und beliebig oft ausführbar ist und nach Erhalt der gewünschten Kurve (9') die Parameter für die gewünschte Kurve drahtgebunden oder durch Fernsteuerung auf das Hörgerät (4) übertragen werden."
Dieser Anspruch läßt sich folgendermaßen in Merkmale gliedern:
M1 Verfahren zum Anpassen der durch hörgerätespezifische Parameter festgelegten Übertragungscharakteristik eines Hörgerätes (4) mittels eines Personalcomputers (1), M2 wobei ein Speicher (17) für Basiswerte einer Hörgeräteeinstellung in Verbindung mit einem Algorithmus (13) und einem Datenspeicher (18) eine Übertragungscharakteristik des Hörgerätes liefert M3 und am Display (7) des Personalcomputers als grafische Kurve (9) zur Anzeige bringt, M4 wobei für das Anpaßverfahren die Computermaus (2) als Zeigergerät für einen am Display positionierbaren Zeiger (6) verwendet wird, M5 wobei mittels des Zeigergerätes (2) der zu verändernde Punkt oder Abschnitt der grafischen Kurve (9) angeklickt und die Kurve (9) in der gewünschten Richtung verschoben wird, M6 wobei ein nahe dem Zeiger (6) angeordnetes Zeigersymbol (19) den dabei veränderten hörgerätespezifischen Parameter (G1) anzeigt und das Zeigersymbol (19) so geändert wird, daß auch die möglichen Richtungen der Bewegung erkennbar sind, M7 wobei der Personalcomputer (1) nach der vorgenommenen Verschiebung die Übertragungscharakteristik korrigiert und in einer aktualisierten grafischen Kurve am Display zur Anzeige bringt, M8 wobei weitere derartige Korrekturen an der Übertragungscharakteristik mittels der Computermaus ausgeführt werden, bis eine gewünschte Kurve eingestellt ist, wobei eine Verschiebung an beliebigen Stellen der Kurve und beliebig oft ausführbar ist und M9 nach Erhalt der gewünschten Kurve (9') die Parameter für die gewünschte Kurve drahtgebunden oder durch Fernsteuerung auf das Hörgerät (9) übertragen werden.
In der Verhandlung hat noch folgende Literaturstelle eine Rolle gespielt:
(E5) Löbel, Müller, Schmidt, Lexikon der Datenverarbeitung, Verlag moderne industrie, 1982, S 582.
II.
Das Patent ist nicht rechtsbeständig, sein Gegenstand nach den §§ 1 und 4 PatG nicht patentfähig.
1. Der Gegenstand des Anspruchs 1 nach Hilfsantrag ist dem Fachmann durch das von der Patentinhaberin als offenkundig vorbenutzt anerkannte Danavox-Anpaßverfahren für Hörgeräte der Familie AURA (GN Danavox ...) nach (A2), (A3) sowie durch die Entgegenhaltungen (5), (6) iVm dem Fachwissen und Fachkönnen nahegelegt.
Der Vortrag der Einsprechenden zur offenkundigen Vorbenutzung ergänzt um die Vorführung der Software in der mündlichen Verhandlung ist schlüssig. Der Senat ist von der öffentlichen Zugänglichkeit des vorgetragenen Inhalts der Benutzung vor dem Anmeldetag des Patents überzeugt.
Fachmann ist hier ein Elektroingenieur mit Fachhochschulabschluß, der Hörgeräte entwickelt und zur Anpassung der erwünschten Übertragungscharakteristik einer digital programmierbaren Hörhilfe den Personalcomputer (PC) als Arbeitsmittel fachgerecht einzusetzen weiß (Hörgeräteakustiker).
a) Aus dem Danavox-Anpaßverfahren nach (A2), bestätigt und ergänzt durch die Vorführung, erschließen sich dem Fachmann bereits folgende Merkmale:
Mittels eines PC wird durch eine Software ein Verfahren zum Anpassen der Übertragungscharakteristik eines Hörgerätes implementiert. Durch Vorgabe einer theoretischen, aus dem Audiogramm abgeleiteten Hörgerätekurve (Zielkurve) (S 7), ermittelt der PC für ein bestimmtes, ausgewähltes Hörgerät (S 8) Basiswerte für dessen Übertragungscharakteristik (S 9 Abs 2 und 3) und bringt sie als graphische Kurve an seinem Display als Voreinstellungskurve zur Anzeige (S 9 Abs 1).
Die Basiswerte und die Übertragungscharakteristik sind dabei üblicherweise in einem Speicher abgelegt (Merkmale M1 bis M3).
Der anschließende Feinabgleich erfolgt mittels der Computermaus (S 9 Abs 4), (Merkmal M4).
Die Übertragungscharakteristik der Verstärkung und die Übergangsfrequenzen können dabei auch graphisch angepaßt werden. Hierzu wird der zu verändernde Punkt (Grenzfrequenz) oder Abschnitt (Kanal) der graphischen Kurven mittels eines Mauszeigers angeklickt und die Kurve in die gewünschte Richtung verschoben (S 9 le Abs), (Merkmal M5). Beim Anklicken ändert der Mauszeiger seine Form als Pfeil nach links oben in die Form eines waagrechten oder senkrechten Doppelpfeils und zeigt dadurch die mögliche Verschieberichtung an.
Nach dem Verschieben der Kurve korrigiert der PC die Übertragungscharakteristik und zeigt die aktualisierte Kurve am Display an, wie in (A3) dargestellt (S 4, 5) und in der Vorführung bestätigt (Merkmal M7).
Weitere Korrekturen an beliebigen Stellen der Kurve können, um der gewünschten Kurve (Zielkurve) der Übertragungscharakteristik möglichst nahezukommen, beliebig oft ausgeführt werden (Merkmal M8).
Über Kabel werden dann die ermittelten Parameter an das programmierbare Hörgerät übertragen ((A2) S 1 Abs 4), (Merkmal M9).
b) Es übersteigt nicht die Fähigkeiten des Fachkundigen, wenn er bei dem bekannten Anpaßverfahren noch zusätzlich die beiden Schritte nach Merkmal M6 vorsieht.
Wie bereits oben unter a) gesagt, besteht bei diesem Verfahren im Rahmen der Feinanpassung die Möglichkeit, eine Kurve mit Hilfe des Mauszeigers graphisch anzupassen ((A2) S 9 letzter Abs): Vergleichbar mit dem graphischen Arbeiten eines Konstrukteurs, der mittels eines positionierbaren Lichtpunkts auf dem Bildschirm die Auswirkungen von Parameteränderungen auf Kurvenverläufe studiert - (E5) -, führen Veränderungen an der vor Augen geführten Hörgerätekurve zu Änderungen der hörgerätespezifischen Parameter. Der Fachmann will diese Parameter auf dem Display gleichfalls anzeigen. Es erleichtert die Arbeit des Hörgeräteakustikers, wenn er beim Feinanpassen der Übertragungscharakteristik des Hörgerätes zusätzlich erfährt, auf welche hörgerätespezifischen Parameter er beim Verändern der Kurve einwirkt. Wenn er sich durch Anklicken des Kurvenpunktes für die graphische Anpassung entschieden hat, so muß er, um Kenntnis vom veränderten Parameter zu erlangen, seinen Blick von der Kurve weg auf den Bildbereich links unten schwenken. Dort ist der beim Verschieben des Kurvenabschnittes sich ergebende Einstellwert des Parameters ablesbar und durch Umrahmung dem betroffenen Parameter zugeordnet.
Der Hörgeräteakustiker empfindet es als mißlich, wenn er beim graphischen Arbeiten mittels des Mauszeigers sein Augenmerk vom eigentlichen Geschehen wenden und auf einen anderen Bildbereich links unten richten muß, um Kenntnis vom hörgerätespezifischen Parameter zu erhalten. Dem Verlangen nach möglichst ergonomischer Bildschirmtätigkeit leistet der Fachmann dadurch Genüge, daß er den betreffenden Parameter unmittelbar am Mauszeiger vor Augen führt. Denn es ist ihm im Zusammenhang mit graphischem Arbeiten am Bildschirm mittels der Computermaus bekannt, für den Benutzer wichtige, seine Tätigkeit unterstützende Information unmittelbar am Mauszeiger einzublenden ((5) Fig 4 A bis C und (6) Fig 5 und 6). Dies ist hier der veränderte hörgerätespezifische Parameter.
Der Rest betrifft lediglich routinemäßiges fachmännisches Handeln.
Beim Anklicken eines Kurventeils der Verstärkungskennlinie oder einer Trennfrequenzlinie ändert beim bekannten Verfahren der Mauszeiger seine übliche Form als Pfeil nach links oben in die Form eines senkrechten bzw waagrechten Doppelpfeils: er ist nach der möglichen Richtung der Bewegung ausgerichtet. Ob man die Anzeige der möglichen Bewegungen dem Zeiger selbst überläßt, oder dazu statt dessen das nun unmittelbar an ihm angeordnete Zeigersymbol, das den Parameter wiedergibt, heranzieht, liegt im Belieben des Fachmanns.
2. Auf den Hauptantrag braucht nicht gesondert eingegangen zu werden, weil der erteilte allgemeinere Anspruch 1 den Gegenstand des Anspruchs 1 nach Hilfsantrag mitumfaßt (MG enthält das zweite Teilmerkmal betreffend die Änderung des Zeigersymbols nicht).
Dr. Anders Obermayer Dr. Hartung Martens Fa
BPatG:
Beschluss v. 10.02.2003
Az: 20 W (pat) 22/01
Link zum Urteil:
https://www.admody.com/gerichtsentscheidung/dcb5e0915e86/BPatG_Beschluss_vom_10-Februar-2003_Az_20-W-pat-22-01