Bundesverfassungsgericht:
Beschluss vom 14. Mai 2007
Aktenzeichen: 1 BvR 2485/06
(BVerfG: Beschluss v. 14.05.2007, Az.: 1 BvR 2485/06)
Zusammenfassung der Gerichtsentscheidung
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 14. Mai 2007, Aktenzeichen 1 BvR 2485/06, entschieden, dass das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 11. April 2006 - X ZR 275/02 - das Recht der Beschwerdeführerin aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes verletzt. Deshalb wird das Urteil aufgehoben. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 15. August 2006 - X ZR 275/02 - ist damit gegenstandslos. Die Sache wird an den Bundesgerichtshof zurückverwiesen. Darüber hinaus muss die Bundesrepublik Deutschland der Beschwerdeführerin die im Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen erstatten. Der Gegenstand der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird mit 125.000 Euro festgesetzt.
In dem Verfahren ging es um die Frage der Beweiswürdigung in einem Patentnichtigkeitsverfahren. Die Beschwerdeführerin, eine japanische Wettbewerberin der Beklagten, wollte das Streitpatent für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland nichtig erklären lassen. Sie argumentierte, dass die Lehre des Patents weder neu noch auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe. Das Bundespatentgericht wies die Klage ab, da das Streitpatent patentfähig sei. Im Berufungsverfahren vor dem Bundesgerichtshof wurde ein Sachverständigengutachten erstellt, das die Lehre des Streitpatents als nicht neu und nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhend einstufte. Ein Monat vor der Berufungsverhandlung wurde der Sachverständige krankgeschrieben und konnte nicht am Termin teilnehmen. Die Beschwerdeführerin bat um Terminsverlegung, die jedoch abgelehnt wurde. Im Berufungstermin wurde das Patentmerkmal der Schweißnaht erörtert. Der Prozessbevollmächtigte der Beschwerdeführerin beantragte wiederholt die Anhörung des Sachverständigen, was jedoch abgelehnt wurde. Der Bundesgerichtshof wies die Berufung zurück und legte seine eigene Auslegung des Patents zugrunde. Die Beschwerdeführerin rügte daraufhin eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör und eine Überraschungsentscheidung.
Das Bundesverfassungsgericht stellt fest, dass das Urteil des Bundesgerichthofs gegen den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verstoße, da dem Gericht die Erläuterung des Sachverständigengutachtens durch die Parteien hätte ermöglicht werden müssen, insbesondere da die Ausdeutung des Patents auf einer vom Sachverständigen letztlich verworfenen Alternative beruhe. Außerdem hätten die Parteien die Gelegenheit zur Erläuterung des Gutachtens gehabt. Das Urteil des Bundesgerichthofs wird daher aufgehoben und die Sache zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG. Der Gegenstandswert wird unter Berücksichtigung der relativen Geringfügigkeit von Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit im Verfahren auf 125.000 Euro festgesetzt.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist unanfechtbar.
Die Gerichtsentscheidung im Volltext:
BVerfG: Beschluss v. 14.05.2007, Az: 1 BvR 2485/06
Tenor
Das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 11. April 2006 - X ZR 275/02 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben.
Damit wird der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 15. August 2006 - X ZR 275/02 - gegenstandslos.
Die Sache wird an den Bundesgerichtshof zurückverwiesen.
Die Bundesrepublik Deutschland hat der Beschwerdeführerin die ihr im Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 125.000 € (in Worten: einhundertfünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.
Gründe
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft Fragen der Beweiswürdigung in einem Patentnichtigkeitsverfahren.
1. Die Beklagte des Ausgangsverfahrens ist Inhaberin eines mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents über die Fertigung von Zündkerzen (Streitpatent). Das für das Verfassungsbeschwerdeverfahren maßgebliche Merkmal des Streitpatents besteht in einer Schweißnaht, die eine Vielzahl von einander überlappenden, benachbarten Schweißpunkten derart umfasst, dass sie sich über den gesamten Umfang erstreckt und eine näher bestimmte Eindringtiefe erreicht.
Die Beschwerdeführerin ist eine japanische Wettbewerberin der Beklagten. Sie begehrte die Nichtigerklärung des Streitpatents für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland. Zur Begründung machte sie geltend, die Lehre des Streitpatents sei weder neu noch beruhe sie auf einer erfinderischen Tätigkeit, da die dem Patent zugrunde liegende Schweißtechnik dem Stand der Technik entspreche und ihre Anwendung für einen Durchschnittsfachmann nahe liege.
2. a) Das Bundespatentgericht wies die Nichtigkeitsklage in den hier maßgebenden Punkten ab. Dem Streitpatentgegenstand könne aufgrund der besonderen Schweißtechnik die Patentfähigkeit nicht abgesprochen werden.
Im von der Beschwerdeführerin angestrengten Berufungsverfahren vor dem Bundesgerichtshof erstellte der gerichtlich bestellte Sachverständige mit schriftlichem Gutachten die folgende Expertise zu dem hier relevanten Patentmerkmal der Schweißnaht:
"Die Schweißnaht besteht aus einer Vielzahl sich überlappender und benachbarter Schweißpunkte. Diese Aussage halte ich für eine äußerst ungewöhnliche Beschreibung einer ganz gewöhnlichen Schweißnaht.
Jede Schweißnaht hat ein derartiges Aussehen. Es ist nur eine Frage mit welcher Vergrößerung man die Schweißnaht betrachtet.
Oder sollte mit der Aussage '... einer Vielzahl sich überlappender und benachbarter Schweißpunkte ...' folgender Arbeitsablauf festgelegt werden:
Man setzt einen Schweißpunkt, d.h. die zu verschweißenden Materialien werden aufgeschmolzen. Dann bewegt man das Werkzeug um einen definierten Weg. In der Zwischenzeit ist die Schmelze erstarrt. Mit der nächsten Schweißung wird der schon erstarrte Schweißpunkt zum Teil, da überlappend, wieder aufgeschmolzen.
Dieser Ablauf wäre eine kostenintensive und unkonventionelle Schweißtechnik."
Abschließend kam der Sachverständige zu dem Ergebnis, dass die Lehre des Streitpatents nicht neu sei und auch nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe:
"... die Lehre ... ist, nach meiner Meinung, nicht neu und beruht nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit."
b) Einen Monat vor der auf den 11. April 2006 anberaumten Berufungsverhandlung teilte der Sachverständige mit, bis zum 17. April 2006 krankgeschrieben zu sein und deshalb den Termin nicht wahrnehmen zu können. Die Beschwerdeführerin bat daraufhin um Terminsverlegung, um den Sachverständigen zu etwa auftretenden Streitpunkten befragen zu können. Auf Bitte des Vorsitzenden erklärte sie sich jedoch später zunächst mit der Durchführung des Termins einverstanden.
Im Berufungstermin vor dem Bundesgerichtshof wurde das Patentmerkmal der Schweißnaht erörtert. Der Prozessbevollmächtigte der Beschwerdeführerin trug wiederholt seine Bedenken dagegen vor, dass der Senat auf die mündliche Anhörung des Sachverständigen verzichten wolle. Schließlich beantragte er hilfsweise die Vertagung der Verhandlung und Ladung des Sachverständigen für den Fall, dass der erkennende Senat dem Sachverständigengutachten nicht folge.
c) Der Bundesgerichtshof wies die Berufung mit am Schluss der mündlichen Verhandlung verkündetem Urteil zurück. Dem Streitpatent komme bei richtiger Auslegung die Patentfähigkeit zu. Diese Auslegung habe der Senat selbst vorzunehmen, eine weitere Aufklärung durch Befragung des Sachverständigen sei daher nicht erforderlich. Maßgeblich für die Auslegung sei die Sicht des Fachmanns, der bestrebt sein werde, dem Patent einen sinnvollen Gehalt zu geben. Dieser Fachmann werde nicht die vom Sachverständigen genannte "gewöhnliche" Schweißnaht setzen, sondern eine patentgemäße Schweißnaht mit einzelnen Laserschüssen fertigen. Diese zweite Deutung des Patents sei vom Sachverständigen technisch nicht ausgeschlossen, sondern lediglich als "kostenintensiv und unkonventionell" bezeichnet worden.
d) Die Anhörungsrüge der Beschwerdeführerin wies der Bundesgerichtshof als unbegründet zurück. Der Senat habe das Patent in einer Weise ausgelegt, die der Sachverständige ausdrücklich offen gehalten habe.
3. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung ihres Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs umfasse das Recht auf mündliche Anhörung eines Sachverständigen. Dies gelte erst recht, wenn das Gericht nicht dem Sachverständigengutachten folge, sondern zu einem gegensätzlichen Ergebnis komme. Zusätzlich sei das rechtliche Gehör unter dem Aspekt der Überraschungsentscheidung verletzt.
4. Das Bundesministerium der Justiz und die Beklagte des Ausgangsverfahrens haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.
II.
Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung gemäß § 93 c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG sind erfüllt.
Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (§ 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Insbesondere sind die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Gewährung rechtlichen Gehörs in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hinreichend geklärt (vgl. BVerfGE 55, 1 <5 f.>; 60, 305 <310>; 74, 228 <233>; 86, 133 <144 f.>; BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 3. Februar 1998 - 1 BvR 909/94 -, NJW 1998, S. 2273).
1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Insbesondere ist die Beschwerdeführerin beschwerdefähig. Auch als ausländische juristische Person des Privatrechts kann sie sich auf das grundrechtsgleiche Recht des Art. 103 Abs. 1 GG berufen; Art. 19 Abs. 3 GG steht dem nicht entgegen (vgl. BVerfGE 12, 6 <8>; 21, 362 <373>; stRspr).
2. Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet im Sinne des § 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG.
a) Art. 103 Abs. 1 GG gebietet, dass sowohl die gesetzliche Ausgestaltung des Verfahrensrechts als auch das gerichtliche Verfahren im Einzelfall ein Ausmaß an rechtlichem Gehör eröffnet, das dem Erfordernis eines wirkungsvollen Rechtsschutzes auch in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten gerecht wird und den Beteiligten die Möglichkeit gibt, sich im Prozess mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten (vgl. BVerfGE 55, 1 <5 f.>; 60, 305 <310>; 74, 228 <233>). Diese Grundsätze sind auch in den vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Verfahren wie dem des Patentnichtigkeitsverfahrens (vgl. § 115 Abs. 1 PatG) zu beachten (vgl. BVerfGE 7, 53 <57>; 75, 201 <215>).
Beabsichtigt ein Zivilgericht, sich bei seiner Entscheidung auf ein Sachverständigengutachten zu stützen, gehört es zum verfassungsrechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör, den Parteien auf Antrag die Gelegenheit zur weiteren Erläuterung des Sachverständigengutachtens einzuräumen. Dem Zivilgericht ist es in diesem Fall versagt, einen Antrag auf Erläuterung des Sachverständigengutachtens völlig zu übergehen oder ihm allein deshalb nicht nachzukommen, weil das Gutachten ihm überzeugend und nicht weiter erörterungsbedürftig erscheint. Die zu gewährende Möglichkeit der weiteren Erläuterung des Sachverständigengutachtens trägt insoweit der entscheidenden Bedeutung des Sachverständigengutachtens für den Ausgang des Verfahrens Rechnung. Dabei bleibt es grundsätzlich dem Gericht überlassen, auf welchem Weg es die gewünschte Erläuterung herbeiführt; die mündliche Anhörung des Sachverständigen ist hierfür nur ein, wenn auch ein besonders geeignet erscheinender Weg (vgl. BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 3. Februar 1998 - 1 BvR 909/94 -, NJW 1998, S. 2273 f. m.w.N.).
Diese Grundsätze müssen erst recht für den Fall gelten, dass das Gericht dem Sachverständigengutachten im Ergebnis gerade nicht folgt, sondern im Rahmen der - allein ihm vorbehaltenen - Subsumtion der technischen Feststellungen unter die rechtlichen Bestimmungen an einer vom Sachverständigen letztlich verworfenen Alternativlösung anknüpfen will. Denn in einem solchen Fall tritt der zusätzliche Erörterungsbedarf der Partei, deren Position durch das Sachverständigengutachten ursprünglich gestärkt worden war, ohne weiteres offen zu Tage.
b) Diesem Maßstab wird das Urteil des Bundesgerichtshofs nicht gerecht.
Die vom Bundesgerichtshof vorgenommene Auslegung des Streitpatents ist nicht allein Ergebnis patentrechtlicher Erwägungen, die als solche weder nach einer weiteren Erläuterung durch den Sachverständigen verlangten noch der verfassungsgerichtlichen Überprüfung unterlägen. Der Bundesgerichtshof hat seiner Auslegung des Streitpatents vielmehr eine vom Sachverständigen aufgeworfene Deutungsalternative zugrunde gelegt, die dieser selbst zunächst nur äußerst zurückhaltend und gleichsam ironisierend aufgezeigt und schließlich resümierend gänzlich verworfen hat. Das Sachverständigengutachten war insofern streitentscheidend. Der Bundesgerichtshof hätte die dem Sachverständigengutachten im Ergebnis zuwiderlaufende Ausdeutung daher nicht vornehmen dürfen, ohne den Parteien die Gelegenheit zur näheren Erläuterung dieser von ihm bevorzugten Tatsachenalternative durch den Sachverständigen einzuräumen. Dies gilt zumal die Beschwerdeführerin die ergänzende mündliche Anhörung des Sachverständigen nicht nur im Vorfeld der Berufungsverhandlung, sondern auch während deren Verlauf angeregt und schließlich hilfsweise im Rahmen ihres Abschlussplädoyers beantragt hat.
Die weitere Erläuterung des Gutachtens durch den Sachverständigen wäre auch ohne weiteres möglich gewesen. Der Sachverständige hat verbunden mit seiner Verhinderungsanzeige frühzeitig darauf hingewiesen, dass er bereits eine Woche nach dem anberaumten Termin wieder zur Verfügung stehe. Eine unzumutbare Verfahrensverzögerung wäre also nicht zu gewärtigen gewesen.
c) Nach all dem bedarf es keiner Überprüfung der angegriffenen Entscheidungen unter dem Aspekt der unzulässigen Überraschungsentscheidung.
d) Das Urteil des Bundesgerichtshofs beruht auf dem festgestellten Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Das Urteil ist aufzuheben und die Sache an den Bundesgerichtshof zurückzuverweisen (§ 93 c Abs. 2, § 95 Abs. 2 BVerfGG). Mit der Aufhebung des Urteils wird der weiter angegriffene Beschluss des Bundesgerichtshofs gegenstandslos.
3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.
Bei der Festsetzung des Gegenstandswertes waren ausgehend von dem sich am Streitwert des Ausgangsverfahrens in Höhe von 500.000 € orientierenden subjektiven Interesse der Beschwerdeführerin Abschläge für die relative Geringfügigkeit von Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren, für die geschmälerte subjektive Bedeutung angesichts des lediglich prozessualen Zwischenerfolges und für die fehlende objektive Bedeutung des Falles in Höhe von jeweils einem Viertel vorzunehmen (§ 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG; vgl. BVerfGE 79, 365).
4. Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93 d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).
BVerfG:
Beschluss v. 14.05.2007
Az: 1 BvR 2485/06
Link zum Urteil:
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