Bundesgerichtshof:
Urteil vom 29. Juni 2004
Aktenzeichen: X ZR 1/01
(BGH: Urteil v. 29.06.2004, Az.: X ZR 1/01)
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des 2. Senats (Nichtigkeitssenats) des Bundespatentgerichts vom 14. September 2000 abgeändert:
Das europäische Patent 0 666 351 wird mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig erklärt.
Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Die inzwischen zur S. H. AG fusionierte Beklagte ist eingetragene Inhaberin des am 10. November 1994 unter Inanspruchnahme der Priorität einer Patentanmeldung in der Bundesrepublik Deutschland vom 4. Februar 1994 angemeldeten, mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilteneuropäischen Patents 0 666 351 (Streitpatents). Dieses betrifft "Verfahren und Vorrichtung zum Sticken auf einer Schiffchen-Stickmaschine" und umfaßt fünf Patentansprüche, die in der Verfahrenssprache Deutsch wie folgt lauten:
"1. Verfahren zum Sticken auf einer Schiffchen-Stickmaschine, die eine angetriebene Fadenliefereinheit und mindestens einen beweglichen Fadenleiter sowie eine Steuereinheit zur Steuerung des Stickgutrahmens und der Fadenliefereinheit sowie zum Antrieb des Fadenleiters, der Nadeln und der Schiffchen aufweist, dadurch gekennzeichnet, dass Fadenleiter und Liefereinheit die für den Eintritt der Nadel in den Stoff und für die Schlingenbildung und für den Durchgang des Schiffchens durch die Schlinge notwendige Fadenmenge und die auf das Stickgut aufzubringende Fadenmenge zur Stichbildung liefern, und dass der Nadelfaden während der gesamten Stichbildung praktisch spannungsfrei gehalten und der Stichanzug allein durch die Abzugskraft des Schiffchenfadens vorgenommen wird.
2.
Verfahren nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, dass der Fadenleiter die für den Eintritt der Nadel in den zu bestickenden Stoff und für die Schlingenbildung und für den Durchgang des Schiffchens durch die Schlinge notwendige Fadenmenge liefert, und dass die Fadenliefereinheit die nach der Stichbildung auf dem Stoff verbleibende Fadenmenge liefert.
3.
Vorrichtung zur Durchführung des Verfahrens nach Anspruch 1 oder 2, dadurch gekennzeichnet, dass die Fadenliefereinheit eine motorisch angetriebene Walze (7) umfasst, über welche die Fäden mehrerer Stickstellen laufen, und dass für jede Stickstelle eine Fadenrolle (9) vorhanden ist, welche den Faden (35) durch Reibschluss zwischen Walze (7) und Fadenrolle (9) fördert.
4.
Vorrichtung nach Anspruch 3, dadurch gekennzeichnet, dass die Fadenrollen (9) für jede Stickstelle einzeln, sowohl manuell als auch programmgesteuert einund ausschaltbar sind.
5.
Vorrichtung nach einem der Ansprüche 3 oder 4, dadurch gekennzeichnet, dass im Fadenverlauf von der Fadenliefereinheit bis zur Nadel (21) eine als Fadenwächter (30) ausgebildete stationäre Umlenkung (29) angeordnet ist."
Die Klägerin hat geltend gemacht, daß das Streitpatent die Erfindung nicht so deutlich und vollständig offenbare, daß ein Fachmann sie ausführen könne. Außerdem sei es gegenüber dem Stand der Technik, wie ihn insbesondere die Veröffentlichungen Schöner, Spitzen, Enzyklopädie der Spitzentechniken, Leipzig 1980, Schöner/Freier, Stickereitechniken, Leipzig 1981, die britische Patentschrift 177 317 (Disney), die deutschen Patentschriften 692 218 (Fiebig) und 34 16 266 (Saurer) sowie die europäische Patentschrift 0 014 897 (Heinzle) bildeten, nicht patentfähig.
Die Klägerin hat beantragt, das Streitpatent mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig zu erklären.
Die Beklagte hat in erster Linie beantragt, die Klage abzuweisen. Hilfsweise hat sie das Streitpatent mit einem eingeschränkten Patentanspruch 1 verteidigt.
Das Bundespatentgericht hat die Klage abgewiesen.
Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihren Antrag auf Nichtigerklärung des Streitpatents weiter. Die Beklagte tritt dem Rechtsmittel entgegen.
Im Auftrag des Senats hat Professor Dr.-Ing. G. E. , ... , ein schriftliches Gutachten erstattet, das er in der mündlichen Verhandlung erläutert und ergänzt hat. Die Klägerin hat ein in dem vor dem Handelsgericht St. Gallen zwischen den Parteien geführten Rechtsstreit über das Streitpatent und dessen Verletzung in der Schweiz von Professor Dr. sc. techn. H. M.
und Patentanwalt Dipl.Masch.-Ing. R. M.
erstelltes Gerichtsgutachten nebst Ergänzung vorgelegt. Die Klägerin hat weiter ein Parteigutachten von Dipl.-Ing. L. B. zu den Akten gereicht.
Gründe
Die zulässige Berufung führt zur Abänderung der angefochtenen Entscheidung und zur Nichtigerklärung des Streitpatents in vollem Umfang. Es kann dabei dahinstehen, ob das Streitpatent die Erfindung so deutlich und vollständig offenbart, daß ein Fachmann sie ausführen kann, weil es jedenfalls gegenüber dem Stand der Technik keinen schutzbegründenden Überschuß aufweist (Art. 52, 56 EPÜ); dies füllt den Nichtigkeitsgrund der mangelnden Patentfähigkeit (Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 1 IntPatÜG i.V.m. Art. 138 Abs. 1 Buchst. a EPÜ) aus.
I. 1. Das Streitpatent betrifft ein Verfahren zum Sticken auf einer Schiffchenstickmaschine und eine entsprechende Vorrichtung. Die Beschreibung führt aus, bei herkömmlichen Maschinen mit einzeln schaltbaren Stickstellen erfolge die Zufuhr der Nadelfäden so, daß jeder Faden eine ihm zugeordnete Rolle umschlinge, die bei eingeschalteter Stickstelle mit einer Bremswelle in Eingriff stehe, die allen Stickstellen gemeinsam sei und die beim Ausschalten der Stickstelle von der Bremswelle entkoppelt werden könne. Zwischen den Rollen und den Sticknadeln seien die Fadenleiter angeordnet, die die Fadenmenge für die Schlingenbildung lieferten und wieder zurückzögen sowie durch die Art der Bewegung für ein Manko im Nadelfaden sorgten, das bewußt herbeigeführt werden müsse, um in den Nadelfäden eine Spannung aufzubauen, die zu einer Drehbewegung in den Rollen und der Bremsrolle und damit zur Abgabe einer bestimmten Menge von Nadelfaden führe. Gleichzeitig werde mit der Fadenspannung im Nadelfaden der gebildete Stich festgezogen. Das Bremsen der Welle sei dabei notwendig, um ein unkontrolliertes Auslaufen der Rollen und der Welle und damit die Abgabe einer zu großen Fadenmenge zu verhindern (Beschr. S. 2 Z. 5-16). Die Beschreibung des Streitpatents kritisiert an herkömmlichen Schiffchenstickmaschinen, wie sie z.B. aus der deutschen Patentschrift 34 16 266 bekannt seien, daß die gelieferte Fadenmenge ungenügend genau sei, weil die in den Nadelfäden aufgebaute Spannung und damit die Walzendrehung vom Fadenverbrauch durch die Bildung des vorangegangenen Stichs abhänge. Dadurch sei auch die Ausgangsspannung, mit der der gebildete Stich festgezogen werde, nicht konstant, was sich in Ungleichmäßigkeiten im Stickbild auswirke. Bei Arbeiten mit Nadelkombinationen (Rapporten), bei denen nur wenige Nadeln arbeiteten, vergrößerten sich die Spannungen weiter, was wiederum zu einer Zunahme von Fadenbrüchen und einer Beeinträchtigung des Stickbilds führe. Zudem steige die Spannung in den Nadelfäden mit zunehmender Maschinendrehzahl immer mehr an, weil die Fadenwalze in immer kürzerer Zeit bewegt werden müsse. Aus der europäischen Patentschrift 0 014 897 sei eine Vorrichtung bekannt, bei der eine von Nadelfäden umschlungene Walze mit einem Antrieb versehen sei, der den Zuführungsund Abzugsweg der Walze unabhängig von der Fadenspannung vorgebe und bei der zusätzlich die Fadenleiter entfielen. Die in dieser Veröffentlichung angegebene Arbeitsweise der Vorrichtung beschränke sich allerdings darauf, den Stickprozeß so nachzubilden, wie dies von herkömmlichen Schiffchenstickmaschinen bekannt sei; das Verfahren beruhe weiterhin darauf, im Nadelfaden eine Nadelspannung aufzubauen. Insbesondere werde durch Zurückdrehen der Walze nach der Stichbildung der gebildete Stich durch Spannen des Nadelfadens zurückgezogen, was wiederum zu nachteiligen Spannungen in den Nadelfäden führe. Zudem müsse bei jedem Stich eine Nadelfadenlänge von ca. 100 mm von der Walze geliefert und wieder zurückgezogen werden, was den Einsatz von Fadenspeichern vor der Walze und zusätzliche Mittel erfordere, die das unkontrollierte Umwickeln der Walze durch die Fäden verhinderten, wenn diese mit hoher Geschwindigkeit auf die Walze aufliefen und von dieser wieder abgegeben würden (S. 2 Z. 17-39).
2.
Durch das Streitpatent sollen, wie aus der in der Beschreibung angegebenen "Aufgabe" nur unzureichend deutlich wird, ein Stickverfahren auf einer Schiffchenstickmaschine und eine entsprechende Vorrichtung angegeben werden, bei der Beeinträchtigungen des Stickbilds vermieden und die Gefahr von Fadenbrüchen eliminiert werden.
3.
Hierzu schlägt Patentanspruch 1 des Streitpatents ein Verfahren zum Sticken auf einer Schiffchenstickmaschine vor, bei dem
(1) die Stickmaschine aufweist
(1.1) eine angetriebene Fadenliefereinheit,
(1.2) mindestens einen beweglichen Fadenleiter,
(1.3) einen Stickgutrahmen,
(1.4) eine Steuereinheit
(1.4.1) zur Steuerung
(1.4.1.1) des Stickgutrahmens
(1.4.1.2) und der Fadenliefereinheit
(1.4.2) sowie zum Antrieb des Fadenleiters,
(1.5) Nadeln und
(1.6) Schiffchen;
(2) mit folgenden Verfahrensschritten:
(2.1) Fadenleiter und Liefereinheit liefern die notwendige Fadenmenge
(2.1.1) für den Eintritt der Nadel in den Stoff,
(2.1.2) für die Schlingenbildung,
(2.1.3) für den Durchgang des Schiffchens durch die Schlinge
(2.1.4) und für die auf das Stickgut aufzubringende Fadenmengezur Stichbildung;
(2.2) der Nadelfaden wird während der gesamten Stichbildungpraktisch spannungsfrei gehalten und
(2.3) der Stichanzug wird allein durch die Abzugskraft des Schiffchenfadens vorgenommen.
Die in Patentanspruch 3 unter Schutz gestellte Vorrichtung weist zu den Vorrichtungsmerkmalen der Merkmalsgruppe (1) folgende weitere Vorrichtungsmerkmale auf:
(1.1.1) eine motorisch angetriebene Walze,
(1.1.1.1) über die die Fäden mehrerer Stickstellen laufen,
(1.1.2) je eine Fadenrolle für jede Stickstelle,
(1.1.2.1) die den Faden durch Reibschluß zwischen Walze und Fadenrolle fördert.
4. Die Beschreibung des Streitpatents gibt weiter an, daß der Fadenleiter und die Liefereinheit für jede arbeitende Nadel so viel Faden zur Verfügung stellen, wie für das Eindringen der Nadel in den zu bestickenden Stoff, für die Bildung einer Nadelfadenschlinge und für den Durchgang des Schiffchens durch diese Schlinge benötigt wird, sowie die Fadenmenge, die nach der Bildung des Stichs auf dem Stickgut verbleibt. Diese gesamte Fadenmenge wird durch Fadenleiter und Fadenliefereinheit so geliefert, daß im Nadelfaden nie eine Fadenspannung entsteht; der Nadelfaden soll dadurch während der gesamten Stichbildung gestreckt, aber immer spannungsfrei bleiben und keine von der Maschinendrehzahl und der Stichlänge abhängigen Fadenspannungen auftreten, die die Arbeitsgeschwindigkeit der Maschine begrenzen (Beschr. S. 1 Z. 44-S. 2 Z.11).
Die nachstehend verkleinert wiedergegebene Figur 2 der Zeichnungen zeigt einen Querschnitt einer Ausführungsform einer Stickstelle:
Darin bezeichnen die Bezugszeichen 3 den zu bestickenden Stoff, 7 die Fadenlieferwalze, 8 den Motor, 9 eine Fadenrolle,10 einen Hebel, 11 seinen Drehpunkt, 13 und 14 Schwenkrichtungen des Hebels, 15 eine Feder, 16 eine Spule, 17 den Fadenleiter, 18 seinen Drehpunkt, 19 und 20 Verschwenkrichtungen des Fadenleiters, 21 die Nadel, 22 den Nadelträger, 23 und 24 Führungsrichtungen der Nadel in den Stoff und aus ihm heraus, 25 das Schiffchen, 26 den Schiffchenträger, 27 und 28 Verschieberichtungen, 29 eine stationäre Umlenkstelle, die als Fadenwächter 30 ausgebildet ist, 35 den Nadelfaden und 42 die Stickstelle. Bezugszeichen 12 ist in der Beschreibung nicht erläutert, es beschreibt ersichtlich die Drehrichtung der Fadenwalze 7.
Dabei kann nach einem in der Patentbeschreibung näher dargestellten Ausführungsbeispiel (entsprechend Patentanspruch 5) die einer bestimmten Stickstelle zugeordnete Fadenrolle 9 mittels des Hebels 10 von der Fadenlieferwalze 7 abgehoben werden. Wird dagegen die Rolle 9 durch die Wirkung der Feder 15 auf die Walze 7 gelegt, so wird der Nadelfaden 35 durch Drehung der Fadenwalze 7 von der Spule 16 abgezogen und der Stickstelle zugeführt. Die in der Figur 2 nicht dargestellte Steuereinheit treibt über ebenfalls nicht dargestellte Antriebe den Fadenleiter 17, die Nadelträger 22 und das Schiffchen 25 an. Der Fadenleiter wird dabei um seinen Drehpunkt 18 in die Richtungen 19 und 20 verschwenkt. Zwischen der Fadenwalze 7 und dem Fadenleiter 17 umschlingt der Nadelfaden 35 die stationäre Umlenkstelle 29. Die Stichbildung ist in den hier nicht wiedergegebenen Figuren 3a bis 3d dargestellt. Dabei wird eine Nadelfadenschlinge gebildet, durch die sodann das Schiffchen mit dem Schiffchenfaden geschoben wird. Danach weisen der Nadelfaden und der Schiffchenfaden miteinander eine Verschlingung auf. Das Schiffchen wird sodann wieder nach unten verschoben, und auch der zu bestickende Stoff wird verschoben. Anschließend setzt sich die Stichnadel 21 zu einem neuen Einstich in Bewegung. Sie tritt erneut in den Stoff ein und das Schiffchen 25 zieht durch seine weitere Bewegung durch Zug am Schiffchenfaden die Verschlingung von Nadelfaden und Schiffchenfaden straff. Durch die mehrfachen Umlenkungen des Nadelfadens an der neuen Einstichstelle und an der vorhergehenden Einstichstelle kann sich die dabei entstehende Spannung nicht in den Teil des Nadelfadens übertragen, der vor dem Nadelöhr auf der Vorderseite des Stoffs liegt. Dadurch wird die Verschlingung ausschließlich durch die Abzugskraft im Schiffchenfaden festgezogen. Der Fadenleiter 17 und die Lieferwalze 7 stellen dabei eine so große Fadenmenge zur Verfügung, daß der Nadelfaden immer gestreckt, aber auch immer spannungsfrei bleibt.
Aus alledem folgt, daß die Aussage, der Nadelfaden werde "praktisch spannungsfrei" gehalten, in einem eingeschränkten Sinn zu verstehen ist. Jedenfalls in zwei Verfahrensschritten erfolgt tatsächlich eine nicht unerhebliche Spannungsaufbringung. Dies ist erstmals dann der Fall, wenn das Schiffchen, das, wie die mündliche Verhandlung eindruckvoll ergeben hat, ein Vielfaches der Nadelfadenschlinge als Durchmesser hat, durch diese Schlinge hindurchtritt und damit eine erhebliche Länge an im Fadenleiter abgelegtem Nadelfaden nachholt. Zum anderen muß diese nur für den Schiffchendurchtritt benötigte Fadenlänge anschließend wieder in den Fadenleiter zurückgeholt werden. In beiden Verfahrensschritten treten, worüber nach der mündlichen Verhandlung kein Zweifel besteht, beachtliche Spannungszustände auf. Der Begriff "praktisch spannungsfrei" im Patentanspruch ist nicht geeignet, an diesen objektiven Gegebenheiten etwas zu ändern. Er kann von daher nur in einem relativen Sinn dahin verstanden werden, die Spannung so gering wie möglich zu halten, nicht aber dahin, die sich aus dem Schiffchendurchgang notwendig ergebenden Auswirkungen auf die Spannung des Nadelfadens völlig zu beseitigen.
II. 1. Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 des Streitpatents ist zwar neu im Sinn des Art. 54 EPÜ, er wurde dem Fachmann, einem auf dem Gebiet des Textilmaschinenbaus langjährig erfahrenen Maschinenbauingenieur mit Fachhochschulabschluß, aber durch den Stand der Technik nahegelegt.
a) Die Veröffentlichungen von Schöner, Spitzen, Enzyklopädie der Spitzentechniken, Leipzig 1980, und von Schöner/Freier, Stickereitechniken, Leipzig 1981, beschreiben lehrbuchmäßig die Schiffchenstickmaschine und den Stichbildungsoder Bindungsvorgang beim Sticken auf ihr. Bild 2/57 bei Schöner/Freier zeigt das Weg-Zeit-Diagramm an einer Vomag-Schiffchenstickmaschine mit zwei Fadenleitern:
Die beiden Veröffentlichungen beschreiben zwar allgemein und im einzelnen auch detailliert die Technik des Stickens auf einer Schiffchenstickmaschine, sie lehren aber nicht das Merkmal (2.2), nämlich den Nadelfaden während der gesamten Stichbildung praktisch spannungsfrei zu halten. Auch der gerichtliche Sachverständige und das sachkundig besetzte Bundespatentgericht haben insoweit eine Vorwegnahme verneint.
b) Die britische Patentschrift 177 317 aus dem Jahr 1922 (Disney) beschreibt verbesserte Fadensteuerund Fadenliefermechanismen insbesondere für Stickmaschinen. Figur 1 zeigt einen schematischen Querschnitt durch eine solche Stickmaschine:
Dabei bezeichnen das Bezugszeichen 1 den Faden, 2 die Spule, 3 und 4 Spindel und Trägerschiene, 5 eine Lade oder dergleichen, 6 eine Nadel, 7 den Stoff, 8 eine zweckmäßigerweise beschichtete Walze, 9 und 10 Fadenleiterstangen oder ähnliche Fadenlieferorgane, die von Armen 11 und 12 getragen werden, die wiederum um die Achsen 13 und 14 hinund herbewegt werden. Die Walze 8 ist mit Freilauf auf der Welle 25 montiert, die z.B. durch eine in dieser Figur nicht dargestellte Stange in einer Richtung bewegt werden kann (Beschr. S. 2 Z. 90 ff.).
Obwohl die Vorrichtung weder das Schiffchen noch den Stickgutrahmen beschreibt, erkennt der Fachmann, wie der gerichtliche Sachverständige überzeugend und unwidersprochen angegeben hat, daß die Vorrichtung für Schiffchenstickmaschinen geeignet und vorgesehen ist. Nicht neuheitsschädlich getroffen ist allerdings das Merkmal (2.2), wonach der Nadelfaden während der Stichbildung praktisch spannungsfrei gehalten wird. Ebenfalls nicht ausdrücklich genannt ist die Lehre nach Merkmal (2.3), wonach der Stichanzug allein durch die Abzugskraft des Schiffchenfadens vorgenommen wird.
c) Die im Jahr 1940 ausgegebene deutsche Patentschrift 692 218 (Fiebig) betrifft eine Fadenzuführvorrichtung für Mehrnadel-Gatter-Stickmaschinen, zu denen auch Schiffchenstickmaschinen zählen. Die Patentschrift bezeichnet es als notwendig, die Fadenzuführvorrichtung zwangsläufig anzutreiben, und zwar derart, daß sie für jeden einzelnen Stich so viel Fäden den Nadeln zuführe, wie es der Stichlänge entspreche, wobei beide Bewegungsrichtungen des Gatters zu berücksichtigen seien (Beschr. S. 1 Z. 9-21). Hierzu lehrt das Patent die Einstellung eines allseitig verstellbaren Zwischengetriebeteils entsprechend der Verstellung des Gatters in senkrechter und waagrechter Richtung, wobei die beiden Stellbewegungen geometrisch zueinander addiert werden sollen, sowie weiter die entsprechende Einstellung eines Schaltgetriebes, durch das die Fadenzuführvorrichtung gesteuert wird (Beschr. S. 1 Z. 22-33). Patentanspruch 1 nennt hierzu eine nach Maßgabe der Gatterverstellung angetriebene Fadenzuführwalze. Eine Spannungsfreihaltung des Nadelfadens im Sinn des Merkmals (2.2) des Streitpatents offenbart diese Patentschrift ebensowenig wie einen Stichanzug allein durch die Abzugskraft des Schiffchenfadens.
d) Die 1984 veröffentlichte europäische Patentschrift 0 014 897 (Heinzle) zeigt neben der Darstellung einer konventionellen Schiffchenstickmaschine in Figur 1 eine der in ihr geschützten Erfindung entsprechende Maschine, bei der auf die Fadenleiter völlig verzichtet wird. Figur 2 zeigt diese:
Bei dieser Ausführung können sämtliche Vorund Rückwärtsbewegungen des Fadens von der angetriebenen, vorund rückwärts laufenden Fadenwalze aus und unabhängig von der Fadenspannung gesteuert werden (Beschr. Sp. 4 Z. 6-14, Sp. 6 Z. 18-28). Durch Rückdrehen der Walze wird nach Ende der Stichbildung der Faden angezogen. Ein Schlupf des Fadens wird durch Umschlingen der Walze, die sowohl als Antriebswalze als auch als Fadenbremse dient, verhindert (vgl. Sp. 4 Z. 65 -Sp. 5 Z. 3; Sp. 5 Z. 59-64). Das europäische Patent erreicht den Stichanzug mithin durch eine Rückdrehung der Fadenwalze; demnach sind jedenfalls die Merkmale (2.2) und (2.3) bei ihm nicht verwirklicht.
e) Die 1986 veröffentlichte deutsche Patentschrift 34 16 266 beschreibt einer gemeinsamen Bremswelle nach Bedarf zuschaltbare Fadenführungsrollen (Sp. 2 Z. 55 ff.; Sp. 3 Z. 39 ff.; Fig. 1-4). Die Entgegenhaltung liegt im übrigen ersichtlich weiter ab.
2. Nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung ist der Senat überzeugt davon, daß sich der Gegenstand des Patentanspruchs 1 des Streitpatents für den Fachmann in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergab.
Die in der Merkmalsgruppe 1 beschriebene gegenständliche Ausbildung einer Schiffchenstickmaschine war dem Fachmann aus dem Stand der Technik bekannt; dies ist von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung auch nicht in Zweifel gezogen worden. Auch die Merkmalsgruppe (2.1) entsprach dem Stand der Technik; sie findet sich z.B. in der europäischen Patentschrift 0 014 897 in der als verbesserungsbedürftig angesehenen Lösung nach Figur 1, solange dort die Fadenleiter nicht stillgesetzt sind. Eine Kombination der Merkmalsgruppe (1) mit der Merkmalsgruppe (2.1) lag jedenfalls im Rahmen der eine erfinderische Leistung nicht erfordernden Fähigkeiten des Fachmanns.
Der Senat ist darüber hinaus überzeugt davon, daß der Fachmann auch Anlaß hatte und ohne erfinderisches Zutun dazu in der Lage war, die in den Merkmalen (2.2) und (2.3) genannten Maßnahmen in ihrem gebotenen eingeschränkten Verständnis zu ergreifen. Die britische Patentschrift 177 317 bot ihm hierfür deutliche Anregungen. Zudem hatte der Fachmann aus seinen praktischen Erfahrungen mit Fadenbrüchen Anlaß, sich nach Abhilfemöglichkeiten gegen eine zu hohe Beanspruchung des Nadelfadens umzusehen.
Die britische Patentschrift spricht neben den Auswirkungen, die die Benützung nur weniger Nadeln auf das Reißen der Fäden hat (Beschr. S. 1 Z. 5368), als weiteren Problembereich die Vermeidung einer zusätzlichen Spannung auf den (Nadel-)faden in dem Fall an, daß lange Stickereistiche hergestellt werden; andererseits soll bei Herstellung kurzer Stiche Schlaffheit des Fadens vermieden werden (Beschreibung S. 1 Z. 69 -S. 2 Z. 4). Schon hieraus folgt, daß auch ihr -wie dem Streitpatent -als Ziel zugrunde liegt, die Nadelfadenspannung auf ein niedriges Niveau einzustellen. Dies wird in der britischen Patentschrift für eine besondere Situation näher ausgeführt (Beschr. S. 2 Z. 6883), wenn es dort heißt: "It will be appreciated that if and when the needles are moving forward the yarn is simultaneously fed forward at the same rate as the needles move the strain exerted on the needles and the tension on the yarn effected by such movement will be reduced to a minimum as will also the variation of such tension. Further, if and when the needles move back the arms 11 and 12 oscillate to take up the slack the tension of the yarn will remain comparatively constant. -Such feeding of the yarn to the needles at the requisite time is the purport of this invention and is attained by positively and intermittently rotating the roller 8." (in deutscher Übersetzung: "Es ist ersichtlich, daß, sofern und wenn die Nadeln sich vorwärts bewegen, das Garn gleichzeitig in gleichem Ausmaß wie die Nadeln bewegt wird, die durch eine solche Bewegung auf die Nadeln ausgeübte Belastung und die auf das Garn ausgeübte Spannung auf ein Minimum reduziert werden, ebenso auch die Änderung einer solchen Spannung. Ferner bleibt die Spannung im Garn verhältnismäßig konstant, wenn die Nadeln rückwärts bewegt werden und die Arme 11 und 12 eine Oszillationsbewegung ausführen, um den Durchhang aufzunehmen. -Eine solche Zufuhr von Garn zu den Nadeln zur erforderlichen Zeit ist der Sinn dieser Erfindung und wird durch positives und intermittierendes Drehen der Walze 8 erreicht.") Auch wenn diese Beschreibungsstelle nur die Minimierung der Nadelfadenspannung beim Einstechen der Nadel in den Stickgrund betrifft, zeigt sie doch exemplarisch die Tendenz, die Nadelspannung zu minimieren. Im Zusammenhang mit der Beschreibungsstelle S. 1 Z. 69, auch bei langen Stichen ohne zusätzliche Nadelspannung auszukommen, stellt dies einen deutlichen Hinweis dahin dar, die Fadenspannung im Nadelfaden soweit möglich insgesamt zu minimieren. Die Aussage des Streitpatents, diesen Faden praktisch spannungsfrei zu halten, geht bei den sachlich gebotenen Einschränkungen, denen sie unterliegt, nicht weiter. Merkmal (2.2) war somit auch im Zusammenwirken mit den Merkmalsgruppen (1) und (2.1) für den Fachmann durch die britische Patentschrift nahegelegt.
Dem Merkmal (2.3) kommt demgegenüber ein weitergehender und eigenständiger erfinderischer Gehalt nicht zu. Die Auffassung der Nichtigkeitsklägerin, daß aus der (praktisch gegebenen) Spannungsfreiheit des Nadelfadens notwendigerweise folge, daß der Stichanzug allein mit dem Schiffchenfaden erfolgen müsse, ist jedenfalls im Grundsatz zutreffend. Dies hat auch der gerichtliche Sachverständige nicht anders gesehen. Mit einem spannungsfrei gehaltenen Faden kann nämlich ein relevanter Zug auch dann nicht ausgeübt werden, wenn man den Begriff der Spannungsfreiheit im oben dargestellten Sinne relativiert. Der Umstand, daß der Nadelfaden in bestimmten Phasen (entgegen der Aussage des Streitpatents) nicht spannungsfrei gehalten ist, ändert daran schon deshalb nichts, weil dies nicht die Phase des Stichanzugs ist. Entfällt die Spannung des Nadelfadens jedenfalls in der Anzugsphase, bleibt zur Ausübung einer erforderlichen Kraft lediglich der Schiffchenfaden. Merkmal
(2.3) ergibt sich somit notwendig aus dem naheliegenden Merkmal (2.2) und kann von daher eine erfinderische Leistung nicht begründen.
III. Bei dem zusätzlichen Merkmal des Patentanspruchs 2 handelt es sich, wie der gerichtliche Sachverständige überzeugend und unwidersprochen angegeben hat, um eine Selbstverständlichkeit. Ein eigenständiger erfinderischer Gehalt wird insoweit von der Beklagten auch nicht geltend gemacht.
IV. Patentanspruch 3 fügt als Vorrichtungsanspruch den Vorrichtungsmerkmalen der Merkmalsgruppe (1) des Patentanspruchs 1 die weitere Merkmalsgruppe (1.1.1) bis (1.1.2.1) hinzu, die eine motorisch angetriebene Walze, über die die Fäden mehrerer Stickstellen laufen, sowie je eine Fadenrolle für jede Stickstelle, die den Faden durch Reibschluß zwischen Walze und Fadenrolle fördert, betreffen. Die angetriebene Walze ist indessen aus der britischen Patentschrift 177 317, deutschen Patentschrift 692 218 und der europäischen Patentschrift 0 014 897 vorbekannt, die Fäden mehrerer Stickstellen über eine Walze laufen zu lassen, ebenfalls aus der britischen Patentschrift. Auch beim Einsatz mehrerer Fadenrollen je nach Zahl der Stickstellen und der Förderung des Fadens durch Reibschluß zwischen Walze und Fadenrolle handelt es sich um an sich bekannte und für den Fachmann auch bei Schiffchenstickmaschinen naheliegende Maßnahmen, die z.B. die deutsche Patentschrift 692 218 auf S. 3 Z. 62-86 offenbart. Die Beschreibungseinleitung des Streitpatents bezeichnet dies zudem als aus der deutschen Patentschrift 34 16 266 bekannt.
V. Das zusätzliche Merkmal in Patentanspruch 4 ist aus der deutschen Patentschrift 34 16 266 bekannt. Ein eigenständiger erfinderischer Gehalt der weiteren Maßnahme in Patentanspruch 5 ist weder geltend gemacht noch sonst in der Verhandlung hervorgetreten.
VI. Die Kostenentscheidung folgt aus § 121 Abs. 2 PatG in Verbindung mit § 91 ZPO.
Melullis Jestaedt Scharen Keukenschrijver Asendorf
BGH:
Urteil v. 29.06.2004
Az: X ZR 1/01
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