Sozialgericht Berlin:
Beschluss vom 24. September 2010
Aktenzeichen: S 180 SF 7308/10 E
(SG Berlin: Beschluss v. 24.09.2010, Az.: S 180 SF 7308/10 E)
Aus Nr 1008 Abs 3 RVG-VV folgt, dass der Rahmen der erhöhten Betragsgebühren höchstens dem Dreifachen des jeweiligen Mindest- und Höchstbetrages entsprechen darf.
Tenor
Die Erinnerung gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss der Urkundsbeamtin des Sozialgerichts vom 16. August 2010 (Az. S 137 AS €./10) wird zurückgewiesen.
Der Erinnerungsführer hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Erinnerungsgegner zu erstatten.
Gründe
I.
Die Erinnerungsgegner, eine Mutter mit ihren acht zum Teil minderjährigen Kindern, beantragten, vertreten durch ihren Prozessbevollmächtigten, die Überprüfung eines Bewilligungsbescheides über Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Nach Ablauf von mehr als einem Jahr erhoben Sie am 31. März 2010 Untätigkeitsklage mit dem Antrag, den Erinnerungsführer zur Bescheidung ihres Überprüfungsantrags aus dem Jahr 2009 zu verpflichten.
Im Klageverfahren teilte der Erinnerungsführer mit, dass mit dem Bescheid vom 20.04.2010 über den Überprüfungsantrag entschieden worden sei. Zugleich erklärte er sich bereit, die notwendigen außergerichtlichen Kosten dem Grunde nach zu übernehmen.
Mit Schriftsatz vom 26. April 2010 nahmen die Erinnerungsgegner das Anerkenntnis des Erinnerungsführers an und beantragten die Festsetzung von Gebühren und Auslagen in Höhe von insgesamt 476,00 Euro. Der Prozessbevollmächtigte berechnete die Kosten wie folgt:
Verfahrensgebühr nach Nr. 3102, 1008 VV RVG 300,00 EURTerminsgebühr nach Nr. 3106 VV RVG 80,00 EURAuslagenpauschale nach Nr. 7002 VV RVG 20,00 EURUmsatzsteuer nach Nr. 7008 VV RVG 76,00 EURGesamtbetrag 476,00 EURDer Erinnerungsführer nahm trotz Erinnerung zum Kostenfestsetzungsantrag nicht Stellung Mit Beschluss vom 16. August 2010 setzte die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle daraufhin die dem Erinnerungsführer zu erstattenden Kosten auf €476,00 EUR (zweihundertachtunddreißig 00/100 Euro)€ fest. In den Gründen führte die Urkundsbeamtin im Wesentlichen aus, die Gebühren seien antragsgemäß festzusetzen gewesen.
Gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss richtet sich die Erinnerung vom 19. August 2010, die hier am 23. August 2010 eingegangen ist. Der Erinnerungsführer meint, der Tenor des Beschlusses sei zu unbestimmt. Einerseits würden im Tenor 476,00 € festgesetzt. Andererseits werde in Worten der Betrag mit zweihundertachtunddreißig beziffert. Auch die aufgeführte Zusammensetzung weise lediglich einen Betrag von 238,00 € aus. Zudem seien insgesamt nur 357,00 € erstattungsfähig (Verfahrensgebühr Nr. 3102 VVV RVG: 100,00 €, Erhöhungsgebühr Nr. 1008: 100,00 €, Terminsgebühr Nr. 3106 VV RVG: 80,00 €, Auslagenpauschale Nr. 7002 VV RVG: 20,00 € und Umsatzsteuer Nr. 7008 VV RVG: 57,00 €). Nach Nr. 1008 VV RVG habe eine Erhöhung maximal bis zum Doppelten des Ausgangswertes zu erfolgen. Insoweit verweist er auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 21.12.2009 (Az. B 14 AS 83/08 R). Daher habe die Kostenfestsetzung nur in dem von ihm genannten Umfang stattzufinden.
Die Erinnerungsgegner verteidigen den angefochtenen Beschluss. Sie meinen, aus dem insoweit im Lichte der Gründe auszulegenden Tenor ergebe sich eindeutig ein Erstattungsbetrag von 476,00 €. Der falsche Betrag in Worten sei ein Versehen. Aus dem Wortlaut der Nr. 1008 VV RVG ergebe sich, dass die maximale Erhöhung vom Doppelten des Ausgangswertes sich nur auf die Erhöhung beziehe. Das heiße, dass lediglich der Erhöhungsbetrag das Doppelte des Ausgangswertes nicht übersteigen solle. Mithin betrage die maximale Gebühr nach Nr. 3102, 1008 VV RVG das 3-fache des Mindest- und Höchstbetrags. Die Berechnung der maximalen Erhöhung sei nicht Gegenstand der vom Erinnerungsführer genannten Entscheidung des Bundessozialgerichts gewesen.
II.
Die Kammer geht mit den Erinnerungsgegnern davon aus, dass in dem streitigen Beschluss ein Betrag von 476,00 € festgesetzt worden ist und die anders lautende wörtliche Formulierung auf einem Versehen beruht. Insoweit ergibt die Auslegung anhand der Gründe des Beschlusses unmissverständlich, dass eine antragsgemäße Festsetzung erfolgen sollte. Auch wird der Betrag von 476,00 € eingangs der Gründe ausdrücklich benannt. Soweit im Tenor und in der Aufstellung der Gebührentatbestände nur ein Betrag von 238,00 € aufgeführt wird, beruht dies offensichtlich auf der Verwendung eines Textbausteins, den die Urkundsbeamtin insoweit nicht an den konkreten Fall angepasst hat. Denn im Regelfall einer Untätigkeitsklage fallen nach ständiger Rechtsprechung der Kostenkammern zu erstattende Kosten in Höhe von 238,00 € an.
9Die Erinnerung gegen den so verstandenen Kostenfestsetzungsbeschluss ist zulässig, aber nicht begründet. Zu Unrecht geht der Erinnerungsführer davon aus, dass nach Nr. 1008 VV RVG der Mindest- und Höchstbetrag der erhöhten Betragsrahmengebühr maximal das Doppelte der jeweiligen Ausgangsbeträge betragen dürfen. Richtig ist vielmehr, dass die erhöhten Betragsrahmengebühren höchstens dem Dreifachen des jeweiligen Mindest- und Höchstbetrags entsprechen dürften (ebenso: LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 04.01.2010, L 19 B 316/09 AS; SG Aachen, Urteil v. 12.10.2009, S 14 AS 114/09; Müller-Raabe in: Gerold/Schmidt, RVG, 19. Aufl., Nr. 1008 Rn. 248; a. A. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 03.12.2007, L 20 B 66/07 AY und Beschluss v. 28.05.2008, L 20 B 7/08 AS; LSG Bayern, Beschluss v. 23.04.2008, L 16 AS 118/07). Bei der Vertretung von weiteren acht Personen beträgt der nach Nr. 1008 VV RVG erhöhte Mindest- und Höchstbetrag der Verfahrensgebühr gem. Nr. 3102 VV RVG also 120,00 € (= 3 x 40 €) und 1.380,00 € (3 x 460,00 €).
Wenn Auftraggeber in derselben Angelegenheit mehrere Personen sind, erhöhen sich gem. Nr. 1008 VV RVG bei Betragsrahmengebühren der Mindest- und Höchstbetrag der Verfahrens- oder Geschäftsgebühr für jede weitere Person um 30 %. Nach Nr. 1008 Abs. 3 VV RVG dürfen mehrere Erhöhungen einen Gebührensatz von 2,0 nicht übersteigen; bei Festgebühren dürfen die Erhöhungen das Doppelte der Festgebühr und bei Betragsrahmengebühren das Doppelte des Mindest- und Höchstbetrags nicht übersteigen.
Zwischen den Beteiligten ist es unstreitig, dass die Voraussetzungen der Erhöhung nach Nr. 1008 VV RVG vorliegen. Auch die Kammer hat insoweit keine Zweifel. Der Bevollmächtigte hat in derselben Angelegenheit mehrere Personen, nämlich eine Mutter und ihre acht Kinder, vertreten. Er hat in der Klageschrift ausdrücklich dargelegt, dass er in Vollmacht für sämtliche Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft handelt. Daher sind alle Familienangehörigen als seine Auftraggeber zu betrachten.
Streitig ist lediglich die Höhe der Erhöhung der Verfahrensgebühr nach Nr. 1008 VV RVG und hier die Auslegung der Regelung zur deren Obergrenze in Absatz 3 der Anmerkungen. Bereits der Wortlaut der Vorschrift der Nr. 1008 Abs. 3 VV RVG spricht für die hier vorgenommene Auslegung (ebenso: LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 04.01.2010, L 19 B 316/09 AS; SG Aachen, Urteil v. 12.10.2009, S 14 AS 114/09; Müller-Raabe in: Gerold/Schmidt, RVG, 19. Aufl., Nr. 1008 Rn. 248; a. A. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 03.12.2007, L 20 B 66/07 AY und Beschluss v. 28.05.2008, L 20 B 7/08 AS). Der Regelung ist unmissverständlich zu entnehmen, dass €mehrere Erhöhungen€ bei Betragsrahmengebühren das Doppelte der Mindest- und Höchstbeträge nicht übersteigen dürfen. Ersichtlich wird also nur eine Höchstgrenze für den Umfang der Erhöhungen festgelegt. Nur für diese Erhöhungen gilt mithin die Einschränkung, dass sie das Doppelte der Ausgangsbeträge nicht übersteigen dürfen.
Zudem entspricht die Begrenzung der Erhöhungsbeträge von Betragrahmengebühren auf das Doppelte der Ausgangsbeträge auch dem Willen des Gesetzgebers. In der Gesetzesbegründung wird hierzu ausgeführt (vgl. BT-Drs. 15/1971, S. 205): €Der Erhöhungsbetrag soll jedoch das Doppelte der Festgebühr bzw. des Mindest- und des Höchstbetrages nicht übersteigen€. Damit geht der Gesetzgeber offensichtlich davon aus, dass die in Nr. 1008 Abs. 3 VV RVG vorgesehene Begrenzung sich ausschließlich auf die Ermittlung des Erhöhungsbetrags bezieht. Dies wird auch dadurch deutlich, dass der Gesetzgeber in der Begründung auf die Vorgängerregelung in § 6 Abs. 1 Satz 2 BRAGO Bezug nimmt. Die dort bestehende Regelung der maximalen Erhöhung wurde nämlich bei Betragsrahmengebühren übereinstimmend dahingehend ausgelegt, dass sich der Mindest- und Höchstbetrag eines Gebührenrahmens bis zum Dreifachen erhöhen kann (ebenso: LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 04.01.2010, L 19 B 316/09 AS m. w. N.).
Aus den eben genannten Gründen kann der Gegenauffassung des 20. Senats des LSG Nordrhein-Westfalen, der sich ebenfalls auf die Gesetzesbegründung beruft, nicht gefolgt werden (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 03.12.2007, L 20 B 66/07 AY und Beschluss v. 28.05.2008, L 20 B 7/08 AS). Aus der Gesetzesbegründung kann, wie oben dargelegt, nach Überzeugung der Kammer nicht gefolgert werden, dass bei Betragsrahmengebühren das Doppelte des Mindest- und Höchstbetrags nicht überstiegen werden darf. Hätte der Gesetzgeber eine solche Änderung gegenüber der früheren Rechtslage in § 6 Abs. 1 Satz 2 BRAGO gewollt, so wäre jedenfalls eine entsprechende kurze Anmerkung in der Gesetzesbegründung zu erwarten gewesen. Überdies hätte die Gesetzesbegründung in diesem Fall sicherlich Ausführungen dazu enthalten, warum insoweit für Fest- und Betragsrahmengebühren unterschiedliche Obergrenzen gelten sollten. Da dies unterblieben ist, muss davon ausgegangen werden, dass weiterhin die Betragsrahmengebühren sich nach einer Erhöhung maximal auf das Dreifache der Ausgangsbeträge steigern können.
Ferner würde die Gegenauffassung aus Sicht der Kammer eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung der Betragsrahmengebühren gegenüber den Festgebühren bedeuten. Bei den letzteren ist es unstreitig, dass nach Nr. 1008 VV RVG eine Erhöhung in Höhe des Doppelten der Festgebühr zulässig ist, sich also der Gesamtbetrag einer erhöhten Festgebühr auf das Dreifache der Ausgangsgebühr steigern kann (vgl. Müller-Raabe, a. a. O., Nr. 1008 Rn. 240). Warum aber ein Rechtsanwalt im Falle einer Festgebühr mit der Gegenansicht gegenüber den Fällen einer Betragsrahmengebühr, in denen die Erhöhung nach Nr. 1008 VV RVG auf das Doppelte der Ausgangsgebühr beschränkt werden würde, privilegiert werden soll, leuchtet nicht ein.
Soweit der Erinnerungsführer auf das Urteil des BSG vom 21.12.2009 (Az. B 14 AS 83/08 R) verweist, hat der Bevollmächtigte der Erinnerungsgegner zutreffend angemerkt, dass die hier aufgeworfene Frage zur Auslegung von Nr. 1008 Abs. 3 VV RVG dort nicht Klagegegenstand war. Eine Auslegung von Nr. 1008 Abs. 3 VV RVG in dem vom Erinnerungsführer vertretenen Sinne ist dem genannten Urteil auch nicht etwa als obiter dictum zu entnehmen.
Somit beträgt hier der nach Nr. 1008 VV RVG erhöhte Rahmen der Verfahrensgebühr gem. Nr. 3102 VV RVG zwischen 120,00 € und 1.380,00 € (Mittelgebühr: 750,00 €). Hinsichtlich der Höhe der bei Untätigkeitklagen zustehenden Gebühren teilt die Kammer die Rechtsauffassungen der 164. und 165. Kammern des Sozialgerichts. Danach sind die angemessenen Gebühren im Regelfall mit 40 % der jeweiligen Mittelgebühren zu bestimmen, was für die Verfahrensgebühr 100,00 € (40 % von 250 €) und für die Terminsgebühr 80,00 € (= 40 % von 200 €) entspricht (vgl. SG Berlin, Beschluss v. 21. Januar 2009, S 164 SF 12/09 E; Beschluss v. 02. Februar 2009, S 165 SF 11/09 E; Beschluss v. 23. Februar 2009, S 165 SF 65/09 E; Beschluss v. 25. August 2010, S 180 SF 1297/09 E; jeweils zitiert nach juris und www.sozialgerichtsbarkeit.de ). Die Kammer geht mit den Beteiligten davon aus, dass vorliegend keine Gründe für ein Abweichen von diesen im Regelfall angemessenen Gebühren vorliegen. Folglich sind als angemessene Gebühren antragsgemäß für die Verfahrensgebühr nach Nr. 3102, 1008 VV RVG 300,00 € (= 40 % von 750,00 €) und für die Terminsgebühr 80,00 € (= 40 % von 200,00 €) festzusetzen gewesen. Ebenso sind die beantragten Beträge für Auslagen und Umsatzsteuer zu erstatten.
Nach alledem ist der Kostenfestsetzungsbeschluss im Ergebnis nicht zu beanstanden. Die Erinnerung war somit zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung für das Verfahren beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung.
Die Kammer hält im Einklang mit der Rechtsprechung der 164. Kammer und 165. Kammer des Sozialgerichts Berlin eine eigenständige Kostenentscheidung auch im Erinnerungsverfahren für notwendig, und zwar aus den z. B. in den Beschlüssen der 164. Kammer des Sozialgerichts Berlin - S 164 SF 118/09 E vom 6. März 2009 - und der 165. Kammer des Sozialgerichts Berlin - S 165 SF 11/09 E vom 2. Februar 2009 - grundsätzlich dargelegten Gründen.
Dieser Beschluss ist, auch hinsichtlich der Kostengrundentscheidung, unanfechtbar (§ 197 Abs. 2 SGG).
Die Kammer weist schließlich darauf hin, dass die Urkundsbeamtin des Sozialgerichts angesichts der oben dargelegten offenbaren Unrichtigkeiten im Kostenfestsetzungsbeschluss von Amts wegen über die Berichtigung des Beschlusses zu entscheiden haben dürfte.
SG Berlin:
Beschluss v. 24.09.2010
Az: S 180 SF 7308/10 E
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