Bundespatentgericht:
Urteil vom 23. April 2002
Aktenzeichen: 1 Ni 21/01, 1 Ni 23/01
(BPatG: Urteil v. 23.04.2002, Az.: 1 Ni 21/01, 1 Ni 23/01)
Tenor
I. Das europäische Patent 0 627 355 wird mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig erklärt.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 5.500,- € vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
Die Beklagte ist Inhaberin des am 1. Juni 1993 angemeldeten europäischen Patents 0 627 355 (Streitpatent), das ua mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilt worden ist und insoweit vom Deutschen Patent- und Markenamt unter der Nummer 593 07 211 geführt wird. Gegen das Streitpatent ist beim Europäischen Patentamt Einspruch eingelegt worden, über den noch nicht rechtskräftig entschieden ist. Das Einspruchsverfahren schwebt derzeit in der Beschwerdeinstanz (Az. T 0909/01).
Das in deutscher Sprache veröffentlichte Streitpatent betrifft eine Vorrichtung zur Herstellung von Schlauchbeuteln und umfaßt sieben Patentansprüche, die sämtlich mit der Nichtigkeitsklage angegriffen werden.
Patentanspruch 1 hat folgenden Wortlaut:
Vorrichtung zur Herstellung von standfähigen Schlauchbeuteln mit einer Formschulter zum Umformen einer ebenen Folienbahn zu einem Hüllstoffschlauch, einem vom Hüllstoffschlauch umgebenen Füllrohr, mit Spreizelementen zum Spreizen des Folienschlauches, sowie mit Siegelwerkzeugen zum Verschweißen der Längssiegelnaht, der Quersiegelnaht und der gespreizten Kanten eines Schlauchbeutels, dadurch gekennzeichnet, daß der Querschnitt des Füllrohres (22) dem Querschnitt des Schlauchbeutels (1) angepaßt und etwas kleiner als dieser ist, daß das Füllrohr Längskanten (221) aufweist und an allen Längskanten des Füllrohres (22) radial von der Längskanten (22) weg ausgerichtete Spreizelemente (222) so befestigt sind, daß in deren Umgebung die Seitenwände (12) des Schlauchbeutels (1) aus ihrer Ebene nach außen gewölbt werden, und daß die Spreizelemente (222) soweit von den Längskanten (221) des Füllrohres (22) entfernt enden, daß die Seitenwände (12) in deren Kantenbereich durch die Siegelwerkzeuge (23) laufen.
Wegen des Wortlauts der Patentansprüche 2 bis 7 wird auf die Streitpatentschrift Bezug genommen.
Die Klägerin hält die Gegenstände der Ansprüche 1 bis 7 des Streitpatents für nicht patentfähig, weil ihnen die am 10. Februar 1992 beim Deutschen Patentamt eingereichte und am 12. August 1993 offengelegtedeutsche Patentanmeldung P 42 03 798.0 (Anlage K2)
als älterer nachveröffentlichter Stand der Technik neuheitsschädlich entgegenstehe. Diese deutsche Patentanmeldung stimme vollständig mit der dem Streitpatent zugrunde liegenden europäischen Patentanmeldung 93108762.1 überein.
Die Klägerin beantragt (sinngemäß), das europäische Patent 0 627 355 mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig zu erklären.
Die Beklagte hat ihren Widerspruch gegen die Nichtigkeitsklage mit Schriftsatz vom 30. April 2002 zurückgenommen und erklärt, daß sie sich gegen die Nichtigkeitsklage nicht mehr verteidige.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
Gründe
I.
Der Senat kann in entsprechender Anwendung von § 82 Abs 2 PatG ohne mündliche Verhandlung über die Nichtigkeitsklage entscheiden. Nach § 82 Abs 2 PatG kann ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, wenn sich der Beklagte nicht rechtzeitig im Sinne von § 82 Abs 1 PatG über die Nichtigkeitsklage erklärt. Dem ist der hier vorliegende Fall gleichzustellen, daß ein zunächst erhobener Widerspruch zurückgenommen wird (Benkard/Rogge, PatG/GebrMG, 9. Aufl., PatG §§ 82, 83 Rn 17; vgl auch BPatGE 18, 50, 51).
II.
Die Klage ist zulässig. Das derzeit beim Europäischen Patentamt noch anhängige Einspruchsverfahren gegen das Streitpatent steht der Zulässigkeit unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles nicht entgegen.
1. Gemäß § 81 Abs 2 PatG kann Nichtigkeitsklage nicht erhoben werden, solange die Einspruchsfrist läuft oder - wie hier - ein Einspruchsverfahren gegen das Streitpatent anhängig ist. Diese Regelung gilt nach ganz überwiegender Meinung auch für Nichtigkeitsklagen gegen europäische Patente (Benkard/Rogge, aaO, PatG § 81 Rn 21; Schulte, PatG, 6. Aufl., § 81 Rn 42; aA Pitz, GRUR 1995, 231, 238 mwN auch zur hM in Fn 100). Dem ist grundsätzlich beizupflichten. Ausschlaggebend hierfür ist, daß das nationale Nichtigkeitsverfahren zu einer endgültigen Vernichtung des deutschen Teils des betreffenden europäischen Patents führen kann. Andererseits steht aber vor Abschluß des Einspruchsverfahrens regelmäßig noch gar nicht fest, welchen Inhalt das europäische Patent letztlich haben wird. So ist nicht auszuschließen, daß das europäische Patent am Ende des Einspruchs(beschwerde)verfahrens einen Inhalt hat, dem der im Nichtigkeitsverfahren geltend gemachte Stand der Technik nicht mehr entgegensteht. Trotzdem wäre der deutsche Teil des betreffenden europäischen Patents unter Umständen rechtskräftig vernichtet. Solche Ergebnisse zu vermeiden, ist Sinn des § 81 Abs 2 PatG.
2. Die Anwendbarkeit des § 81 Abs 2 PatG auf europäische Patente wird im Schrifttum für den Fall in Frage gestellt, daß - wie im vorliegenden Fall - ein europäisches Patent im nationalen Nichtigkeitsverfahren lediglich unter Berufung auf eine neuheitsschädliche ältere nachveröffentlichte nationale Anmeldung (hier die DE-OS 42 03 798, Anlage K2) angegriffen wird (vgl Art 139 Abs 2 EPÜ). Zur Begründung wird ausgeführt, daß die ältere nationale Anmeldung im europäischen Einspruchsverfahren nicht als Stand der Technik geltend gemacht werden kann (vgl Art 100 Buchst a iVm Art 54 Abs 3 und 4 EPÜ; vgl Pitz, aaO; wohl auch Busse/Keukenschrijver, PatG, 5. Aufl., § 81 Rn 12, der insoweit die Gefahr einer Rechtsschutzverweigerung sieht; offen aber ders., aaO, Rn 4 zu Art II § 6 IntPatÜG; aA Dihm, Mitt 1998, 441 ff.).
Ob dem in dieser Allgemeinheit zu folgen ist, kann offen bleiben. Die genannten Bedenken gegen eine Anwendung des § 81 Abs 2 PatG sind jedoch jedenfalls dann berechtigt, wenn, wie im vorliegenden Fall von der Klägerin zutreffend und im übrigen unwidersprochen vorgetragen worden ist, die dem Streitpatent zugrunde liegende europäische Anmeldung und die ältere nationale Anmeldung identisch sind, die jüngere europäische Anmeldung also keinen zusätzlichen Offenbarungsgehalt aufweist. Denn in diesem Fall trifft die Neuheitsschädlichkeit der älteren nationalen Anmeldung zwingend auch das Streitpatent, und zwar unabhängig davon, welche Änderungen dieses im Einspruchsverfahren gegebenenfalls noch erfährt, da das Streitpatent bei Meidung einer - ebenfalls zur Vernichtbarkeit führenden - unzulässigen Erweiterung nicht über den Offenbarungsgehalt der europäischen und damit auch der älteren nationalen Anmeldung hinausgehen kann. Insoweit verfehlt das Klagehindernis des § 81 Abs 2 PatG den oben beschriebenen Zweck. Diese Vorschrift ist daher einschränkend auszulegen und jedenfalls in Fällen der Identität der älteren nationalen Anmeldung, auf die die Nichtigkeitsklage gestützt wird, mit der dem Streitpatent zugrundeliegenden Anmeldung nicht anzuwenden.
III.
Die Klage ist auch in der Sache begründet.
1. Zur älteren nationalen Anmeldung als Nichtigkeitsgrund:
a) Art 138 EPÜ zählt die Gründe auf, aus denen ein europäisches Patent nach Maßgabe des nationalen Rechts (Art II § 6 IntPatÜG) für nichtig erklärt werden kann. Diese - an sich abschließende - Aufzählung steht ausdrücklich unter dem Vorbehalt des Art 139 EPÜ. Nach Art 139 Abs 2 EPÜ haben eine nationale Patentanmeldung und ein nationales Patent in einem Vertragsstaat gegenüber einem europäischen Patent, soweit dieser Vertragsstaat benannt ist, die gleiche Wirkung als älteres Recht wie gegenüber einem nationalen Patent. Art 139 Abs 2 EPÜ knüpft insoweit an die für nationale Patente geltende Rechtslage in dem betreffenden Vertragsstaat an. Nach § 22 Abs 1, § 21 Abs 1 Nr 1 iVm § 3 Abs 2 Nr 1 PatG gilt im Nichtigkeitsverfahren gegen ein deutsches Patent eine nationale Patentanmeldung mit älterem Zeitrang, die erst an oder nach dem für den Zeitrang des angegriffenen Patents maßgeblichen Tag der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist, in der beim Deutschen Patent- und Markenamt ursprünglich eingereichten Fassung als im Rahmen der Neuheitsprüfung zu berücksichtigender Stand der Technik.
b) Diese Regelung läßt offen, auf welche Bestimmungen die Berücksichtigung einer älteren nachveröffentlichten nationalen Anmeldung im Nichtigkeitsverfahren gegen den deutschen Teil eines europäischen Patents zu stützen ist. Auch Art II § 6 IntPatÜG enthält hierfür keine Regelung. Ein Teil des Schrifttums ist der Auffassung, daß es sich bei Art 139 Abs 2 EPÜ iVm § 3 Abs 2 Nr 1 PatG um einen eigenständigen Nichtigkeitsgrund handelt, auf den über Art 2 Abs 2 EPÜ die §§ 22, 21 Abs 1 Nr 1 PatG anzuwenden seien (Preu, GRUR Int 1981, 63, 68; Pitz, GRUR 1995, 232, 239). Mit Rücksicht auf den Umfang der Rechtskraft ist es jedoch vorzugswürdig, ältere nachveröffentlichte nationale Anmeldungen im Sinne von Art 139 Abs 2 EPÜ iVm § 3 Abs 2 Nr 1 PatG im Rahmen des Nichtigkeitsgrundes des Art 138 Buchst a EPÜ, Art II § 6 Abs 1 Nr 1 IntPatÜG als zusätzlichen Stand der Technik zu berücksichtigen.
2. Die Voraussetzungen des Art 139 Abs 2 EPÜ iVm § 3 Abs 2 Nr 1 PatG liegen vor.
a) Die deutsche Patentanmeldung 42 03 798 ist am 10. Februar 1992 beim Deutschen Patentamt eingereicht und am 12. August 1993, somit nach dem für den Zeitrang des Streitpatents maßgeblichen Tag (mangels Inanspruchnahme einer Priorität ist dies der Anmeldetag, somit der 1. Juni 1993) veröffentlicht worden.
b) Die genannte deutsche Patentanmeldung nimmt die Gegenstände der Patentansprüche 1 bis 7 des Streitpatents vollständig neuheitsschädlich vorweg, vgl zu Patentanspruch 1 die Ausführungen in Spalte 2 Zeilen 30 bis 42 der DE-OS 42 03 798, zu Patentanspruch 2 s Spalte 2 Zeilen 42 bis 48, zu Patentanspruch 3 s Spalte 2 Zeilen 48 bis 52, zu Patentanspruch 4 s Spalte 2 Zeilen 52 bis 53, zu Patentanspruch 5 s Spalte 2 Zeilen 53 bis 55 und Zeilen 1 bis 2, zu Patentanspruch 6 s Spalte 2 Zeilen 16 bis 18 und zu Patentanspruch 7 s Spalte 2 Zeilen 27 bis 29. Nähere Ausführungen hierzu sind nicht veranlaßt, nachdem die Beklagte dem Vorbringen der Klägerin nicht entgegengetreten ist.
IV.
1. Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs 2 PatG iVm § 91 Abs 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 99 Abs 1 PatG iVm § 709 Satz 1 ZPO.
2. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfahren vor dem Bundespatentgericht auf 320.000,-- € festgesetzt.
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BPatG:
Urteil v. 23.04.2002
Az: 1 Ni 21/01, 1 Ni 23/01
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