VerfGH des Landes Berlin:
Beschluss vom 31. Mai 2013
Aktenzeichen: VerfGH 174/10
(VerfGH des Landes Berlin: Beschluss v. 31.05.2013, Az.: VerfGH 174/10)
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.
Auslagen werden nicht erstattet.
Gründe
I.
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Weitergabe eines im Rahmen eines Strafvollstreckungsverfahrens erstellten Prognosegutachtens an die Justizvollzugsanstalt.
Der Beschwerdeführer verbüßte eine mehrjährige Freiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt Tegel. Mit Beschluss vom 29. Mai 2008 lehnte das Landgericht Berlin die Aussetzung des restlichen Drittels der Strafe zur Bewährung ab. Dabei stützte es sich auf ein für dieses Verfahren erstelltes kriminalprognostisches Sachverständigengutachten.
Nach Anforderung durch den zuständigen Gruppenleiter erhielt die Justizvollzugsanstalt im Juni 2008 eine Kopie des Gutachtens und nahm dieses zu der Gefangenenpersonalakte. Hiergegen wandte der Beschwerdeführer sich mit Schreiben von Ende Juni 2008 und forderte die Herausgabe der Gutachtenkopie und die Löschung sämtlicher sich darauf beziehender Vermerke. Das Gutachten enthalte persönliche Daten und hätte nicht weitergegeben werden dürfen. Mit Bescheid vom 11. August 2008 lehnte die Justizvollzugsanstalt den Antrag ab. Zur Begründung führt sie an, dass die Übermittlung nach den Vorschriften der Strafprozessordnung, des Berliner Datenschutzgesetzes sowie des Strafvollzugsgesetzes zulässig gewesen sei, weil sie für den Vollzug der Freiheitsstrafe erforderlich und außerdem verhältnismäßig sei.
Ende August 2008 stellte der Beschwerdeführer Antrag auf gerichtliche Entscheidung, den das Landgericht mit Beschluss vom 24. März 2010 als unbegründet verwarf. Seine Rechtsbeschwerde wies das Kammergericht mit Beschluss vom 2. September 2010 als unbegründet zurück. Personenbezogene Daten seien gemäß § 179 Abs. 2 Satz 1 StVollzG zwar grundsätzlich beim Betroffenen zu erheben. Die Rechtmäßigkeit der Übersendung des Gutachtens ergebe sich aber aus § 179 Abs. 2 Satz 1 StVollzG i. V. m. § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2a und 2b des Bundesdatenschutzgesetzes. Die Kenntnis des Gutachtens sei für die Durchführung des Vollzugs erforderlich. Die Erstellung eines eigenen Gutachtens erfordere einen unverhältnismäßigen Aufwand. Überwiegende schutzwürdige Interessen des Beschwerdeführers würden nicht beeinträchtigt. Aus § 180 Abs. 1 StVollzG ergebe sich das Recht der Justizvollzugsanstalt zur Nutzung des übermittelten Gutachtens.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde macht der Beschwerdeführer geltend, die angegriffenen Entscheidungen verletzten ihn in seinem Grundrecht auf Schutz persönlicher Daten aus Art. 33 der Verfassung von Berlin. Das Gutachten enthalte persönliche Daten. Deren Übermittlung an und Nutzung durch die Justizvollzugsanstalt seien verfassungswidrig. Das Kammergericht habe weder die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs noch die Verletzung des absolut geschützten Kernbereichs seines Persönlichkeitsrechts geprüft. Das Gutachten berühre diesen Kernbereich. Im Übrigen genügten die vom Kammergericht angeführten Rechtsgrundlagen nicht dem Gebot der Normenklarheit und -bestimmtheit und könnten den Grundrechtseingriff daher nicht rechtfertigen.
Im Dezember 2010 ist der Beschwerdeführer aus der Haft entlassen worden.
Die übrigen Beteiligten haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.
II.
1. Die Verfassungsbeschwerde ist nur teilweise zulässig.
a) Unzulässig ist die Verfassungsbeschwerde gegen den angegriffenen Bescheid der Justizvollzugsanstalt sowie den Beschluss des Landgerichts Berlin, weil insoweit nur im Rechtsbehelfsverfahren korrigierbare Verletzungen von Grundrechten gerügt werden (vgl. Beschlüsse vom 15. April 2011 - VerfGH 134/09 - wie alle nachfolgend zitierten Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs unter www.gerichtsentscheidungen.berlin-brandenburg.de, Rn. 12, und 20. Juni 2012 - VerfGH 49/10, 49 A/10, 114/10 - Rn. 15 m. w. N.).
b) Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Kammergerichts vom 2. September 2010 richtet, ist sie zulässig. Das Rechtsschutzbedürfnis ist nicht durch die Entlassung des Beschwerdeführers aus der Haft entfallen. Insbesondere ist nicht erkennbar, dass die Gefangenenpersonalakte des Beschwerdeführers einschließlich des darin enthaltenen Gutachtens vollständig gelöscht bzw. vernichtet ist.
2. Die Verfassungsbeschwerde ist jedoch unbegründet. Der Beschwerdeführer ist nicht in seinen Rechten aus Art. 33 der Verfassung von Berlin - VvB - verletzt.
a) Es ist nicht Aufgabe des Verfassungsgerichtshofs, fachgerichtliche Entscheidungen als eine Art Superrevisionsinstanz ganz allgemein auf formelle oder materielle Rechtsverstöße zu überprüfen. Er überprüft gerichtliche Entscheidungen vielmehr nur auf Auslegungs- und Anwendungsfehler, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung und Tragweite des als verletzt bezeichneten Grundrechts beruhen (Beschluss vom 14. November 2012 - VerfGH 127/10 - Rn. 13; st. Rspr.). Nach diesem Maßstab ist die Entscheidung des Kammergerichts nicht zu beanstanden.
b) Die Übermittlung des Prognosegutachtens von der Strafvollstreckungskammer an die Justizvollzugsanstalt greift in das Grundrecht auf Schutz persönlicher Daten ein. Art. 33 VvB gewährleistet - in Übereinstimmung mit dem im Grundgesetz gewährleisteten Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 1Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG - Schutz gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung oder Weitergabe von auf die eigene Person bezogenen individualisierten oder individualisierbaren Daten (vgl. Beschluss vom 10. Februar 2009 - VerfGH 132/08, 132 A/08 - Rn. 14 m. w. N.; st. Rspr.). Das Grundrecht kann gemäß Art. 33 Satz 2 und 3 VvB durch Gesetz im überwiegenden Allgemeininteresse und unter strikter Wahrung der Verhältnismäßigkeit beschränkt werden (vgl. Beschluss vom 10. Februar 2009 - VerfGH 132/08, 132 A/08 - Rn. 14 m. w. N.). Aus der gesetzlichen Grundlage müssen sich die Voraussetzungen und der Umfang der Beschränkungen klar und für den Bürger erkennbar ergeben, damit diese dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit entspricht (vgl. Beschluss vom 13. Dezember 2005 - VerfGH 113/05 - NJW 2006, 1416 <1417> m. w. N.; vgl. zum Bundesrecht: BVerfGE 120, 378 <407 f.>).
c) Diese grundrechtlichen Anforderungen hat das Kammergericht seiner Entscheidung in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise zugrunde gelegt. Es hat sowohl den Eingriffscharakter der Übermittlung als auch die Erforderlichkeit einer normenklaren Rechtsgrundlage ausdrücklich bejaht. Die Einschätzung, dass § 179 Abs. 2 Satz 2 des Strafvollzugsgesetzes - StVollzG - i. V. m. § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2a und 2b des Bundesdatenschutzgesetzes - BDSG - solche Ermächtigungsnormen darstellen, ist vertretbar. Nach § 179 Abs. 2 Satz 2 StVollzG gelten für die Erhebung von Daten ohne Mitwirkung des Betroffenen die zitierten Regelungen des Bundesdatenschutzgesetzes entsprechend. Danach dürfen Daten ohne Mitwirkung des Betroffenen nur erhoben werden, wenn die zu erfüllende Verwaltungsaufgabe ihrer Art nach oder der Geschäftszweck eine Erhebung bei anderen Personen oder Stellen erforderlich macht (§ 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2a BDSG) oder die Erhebung beim Betroffenen einen unverhältnismäßigen Aufwand erfordern würde (§ 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2b BDSG) und keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass überwiegende schutzwürdige Interessen des Betroffenen beeinträchtigt werden. Dass diese Vorschriften datenschutzrechtliche Generalklauseln enthalten, die sich nicht ausdrücklich auf kriminalprognostische Gutachten beziehen, ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Das Gebot der Normenklarheit schließt die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe nicht aus (vgl. zum Bundesrecht: BVerfGE 118, 168 <188>). Durch Auslegung nach den Regeln der juristischen Methodik müssen sich die betreffenden Normen allerdings hinreichend konkretisieren lassen, so dass die Vorhersehbarkeit und Justitiabilität des Handelns der ermächtigten staatlichen Stellen gewährleistet sind (vgl. zum Bundesrecht: BVerfGE 110, 33 <56 f.>; 118, 168 <188> m. w. N.). Dies ist hier der Fall.
Das Kammergericht hat sich mit dem Regelungsgefüge der §§ 179 ff. StVollzG insgesamt und den Voraussetzungen der einzelnen Ermächtigungsnormen eingehend und mit verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Erwägungen auseinandergesetzt. Es hat die für die Datenübermittlung relevanten Aufgaben des Justizvollzugs und die sich aus den gesetzlichen Vorschriften (§ 179 Abs. 1 und § 180 Abs. 1 StVollzG) ergebenden Verwendungszwecke bestimmt. Der Entscheidung liegt die vertretbare Annahme zugrunde, dass Erhebung, Verarbeitung und Nutzung der Daten nach den zugrunde liegenden Vorschriften dem Vollzug der Freiheitsstrafe dienen müssen und damit hinreichend eingegrenzt sind. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem inzwischen in Kraft getretenen und das Strafvollzugsgesetz insofern verdrängenden Justizvollzugsdatenschutzgesetz Berlin - JVollzDSG Bln -. Soweit in § 15 Abs. 1 Satz 2 JVollzDSG Bln nunmehr eine ausdrückliche Rechtsgrundlage für die Erhebung gutachterlicher Stellungnahmen durch den Justizvollzug aus den zugrunde liegenden Gerichtsverfahren enthalten ist, ergibt sich daraus nicht im Umkehrschluss, dass die frühere Rechtslage aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht hinreichend bestimmt war.
Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist weiterhin die Prüfung der Zweckbindung im vorliegenden Fall. Das Kammergericht ist mit vertretbaren Argumenten zu dem Ergebnis gekommen, dass die Kenntnis des Gutachtens für den Vollzug der Freiheitsstrafe und insbesondere für im Rahmen des Vollzugs zu treffende Entscheidungen erforderlich war. Überdies ist es zu Recht davon ausgegangen, dass eine erneute Begutachtung durch den Justizvollzug mit einem unverhältnismäßigen Aufwand verbunden gewesen wäre. Schließlich hat es in nicht zu beanstandender Weise ausgeführt, dass keine überwiegenden schutzwürdigen Interessen des Beschwerdeführers beeinträchtigt werden. Eine Verkennung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist vor diesem Hintergrund nicht ersichtlich.
Auch die Prüfung einer besonderen Schutzwürdigkeit der übermittelten Daten begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Das Kammergericht hat mit vertretbaren Erwägungen eine besondere Schutzwürdigkeit wegen der Auswertung von Krankenakten sowie eine Anwendung der den Schutz besonderer Daten regelnden Vorschrift des § 182 StVollzG abgelehnt. Für eine Missachtung des Schutzes des Kernbereichs des Persönlichkeitsrechts fehlt es bereits an einer konkreten Darlegung gegebenenfalls betroffener kernbereichsrelevanter Daten (vgl. zu den entsprechenden Anforderungen im Bundesrecht: BVerfG,Beschluss vom 7. Dezember 2011 - 2 BvR 2500/09, 2 BvR 1857/10 - juris 2 BvR 2500/09, Rn. 98 ff.). Insoweit kann offen bleiben, ob Angaben in einem mit Kenntnis und unter Mitwirkung des Betroffenen erstellten psychologischen Gutachten in den verfassungsrechtlich besonders geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung fallen können.
3. Demnach ist auch der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das vorliegende Verfahren mangels hinreichender Erfolgsaussicht abzulehnen (§ 52 Satz 1 VerfGHG i. V. m. § 114 ZPO).
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG.
Mit dieser Entscheidung ist das Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof abgeschlossen.
VerfGH des Landes Berlin:
Beschluss v. 31.05.2013
Az: VerfGH 174/10
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