Bundesgerichtshof:
Urteil vom 4. Februar 2010
Aktenzeichen: Xa ZR 4/07
(BGH: Urteil v. 04.02.2010, Az.: Xa ZR 4/07)
Tenor
Die Berufung gegen das am 8. November 2006 verkündete Urteil des 4. Senats (Nichtigkeitssenats) des Bundespatentgerichts wird auf Kosten der Klägerin zurückgewiesen.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Der unter einer Sachfirma auftretende Beklagte, ein niederländischer Einzelkaufmann, ist Inhaber des am 9. September 1994 unter Inanspruchnahme der Priorität einer Patentanmeldung in den Niederlanden vom 9. September 1993 angemeldeten, mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 643 297 (Streitpatents), das ein System zum Analysieren, Überwachen, Diagnostizieren und/oder Steuern eines Verfahrens für die Herstellung von Verpackungsprodukten aus Glas betrifft und elf Patentansprüche umfasst; die Patentansprüche 1 und 11 lauten in der Verfahrenssprache Englisch:
"1. An analytical system (1) for analyzing, monitoring, diagnosing and/or controlling a process for manufacturing packaging glass products (4) said analytical system (1) being provided with an infraredsensitive sensor system (24) and a digital processor (30) connected therewith, said infraredsensitive sensor system (24) detecting infrared radiation emitted by warm products in the section directly after the glassshaping process, and said digital processor (30) determining the energy distribution in the material of the shaped product and energy differences between different parts of the shaped product by means of information from the products obtained with said infraredsensitive sensor system wherein said energy distribution and/or energy differences are compared with criteria, obtained by means of a mathematical reference model, for determining deviations in glass distributions and causes leading to thermal stresses in the product."
"11. An apparatus (2) for producing packaging glass products, partly by heating, provided with an analytical system (1) according to any of the proceeding claims, in which a glass material (12) to be shaped into the packaging glass product is passed along a production stage comprising a first section (18) in which the glass material is molten, a second section (20), following the first section, in which the product is shaped from the glass material, and a third section (22), following the second section (20), in which the glass material shaped into a product (4) is cooled, said infraredsensitive sensor system (1) detecting products (4) at at least a point in the second section in which the products shaped are not yet cooled."
In der deutschen Übersetzung der Patentschrift lauten diese Patentansprüche:
"1. Analysesystem (1) zum Analysieren, Überwachen, Diagnostizieren und/oder Steuern eines Verfahrens zur Herstellung von Glasverpackungsprodukten (4), wobei das Analysesystem (1) mit einem infrarotempfindlichen Sensorsystem (24) und einem damit verbundenen Digitalprozessor (30) versehen ist, wobei das infrarotempfindliche Sensorsystem (24) Infrarotstrahlung erkennt, die von warmen Produkten in dem Bereich unmittelbar nach dem Glasformvorgang abgestrahlt wird, und wobei der Digitalprozessor (30) die Energieverteilung in dem Material des geformten Produkts und Energiedifferenzen zwischen verschiedenen Teilen des geformten Produkts mittels Informationen über die Produkte ermittelt, die mit dem infrarotempfindlichen Sensorsystem (24) erhalten werden, wobei die Energieverteilung und/oder Energiedifferenzen mit Kriterien verglichen werden, die mittels eines mathematischen Referenzmodells erhalten wurden, um Abweichungen in der Glasverteilung und Ursachen, die zu thermischen Belastungen im Produkt führen, zu ermitteln."
"11. Vorrichtung (2) zum Herstellen von Glasverpackungsprodukten, teilweise durch Erwärmen, die mit einem Analysesystem (1) nach einem der vorhergehenden Ansprüche versehen ist, bei der ein zum Glasverpackungsprodukt zu formendes Glasmaterial (12) durch eine Produktionsstufe geleitet, die einen ersten Abschnitt (18), in dem das Glasmaterial geschmolzen wird, einen dem ersten Abschnitt folgenden zweiten Abschnitt (20), in dem das Produkt aus dem Glasmaterial geformt wird, und einem dem zweiten Abschnitt (20) folgenden dritten Abschnitt (22), in dem das zu einem Produkt (4) geformte Glasmaterial abgekühlt wird, wobei das infrarotempfindliche Sensorsystem (1) Produkte (4) an wenigstens einer Stelle im zweiten Abschnitt erkennt, in dem die geformten Produkte noch nicht abgekühlt sind."
Wegen der unmittelbar oder mittelbar auf Patentanspruch 1 rückbezogenen Patentansprüche 2 bis 10 wird auf die Patentschrift verwiesen.
Die Klägerin hat gestützt auf die Nichtigkeitsgründe der mangelnden Patentfähigkeit und der unzureichenden Offenbarung die vollständige Nichtigerklärung des Streitpatents beantragt, und dabei dem Streitpatent die Veröffentlichung der europäischen Patentanmeldung 177 004 (K3), die US-Patentschrift 3 356 212 (K4), die japanische Offenlegungsschrift Hei 5-142 172 (K5, die Patentschrift ist nachveröffentlicht), die Veröffentlichung der internationalen Patentanmeldung WO 93/11410 (K6) sowie verschiedene Literaturstellen entgegengehalten.
Das Patentgericht hat die Klage abgewiesen.
Gegen die Entscheidung des Patentgerichts richtet sich die Berufung der Klägerin, der die Beklagte entgegentritt. Die Beklagte verfolgt dabei die in erster Instanz gestellten Hilfsanträge und vorrangig zu diesen zwei neu formulierte Hilfsanträge weiter; wegen der letzteren Hilfsanträge wird auf die Anlage zur Sitzungsniederschrift vom 4. Februar 2009 verwiesen.
Im Auftrag des Senats hat Privatdozent Dr.-Ing. G. , K. Institut für Technologie, ein schriftliches Gutachten erstattet, das er in der mündlichen Verhandlung erläutert und ergänzt hat. Die Klägerin hat ein von Prof. Dr. rer. nat. habil. S. für den Verletzungsstreit erstelltes schriftliches Gutachten vorgelegt; die Beklagte hat ein Gutachten vorgelegt, das Dr.-Ing. R. und Priv.-Doz. Dr.-Ing. M. in ihrem Auf- trag verfasst haben.
Gründe
Die zulässige Berufung bleibt ohne Erfolg.
I. Das Streitpatent betrifft ein analytisches System zum Analysieren, Überwachen, Diagnostizieren und/oder Steuern eines Verfahrens für die Herstellung von Verpackungsprodukten aus Glas. Nach dem System, das, wie sich aus seiner Definition in Patentanspruch 1 durch die apparative Ausstattung und deren Funktion und Arbeitsweise ergibt, in Gestalt eines Sachanspruchs geschützt wird, wird von den geformten Gegenständen ausgehende Strahlung nach der Glasformung mittels einer optischen Erfassungseinrichtung bestimmt und ausgewertet, um Produktfehler festzustellen. Die Beschreibung des Streitpatents bezeichnet solche Systeme als aus der europäischen Patentschrift 177 004 (K3) bekannt. Probleme bereite dabei die Menge des Ausschusses, die teilweise darauf beruhe, dass die Erzeugnisse erst dann untersucht würden, wenn sie die kritischen Verfahrensabschnitte bereits durchlaufen hätten. Werde zu diesem Zeitpunkt bemerkt, dass die Qualität nicht ausreichend sei, bestehe die Wahrscheinlichkeit, dass die anderen inzwischen geformten Erzeugnisse vergleichbare Probleme aufwiesen (vgl. Beschr. Sp. 1 Abs. 4-6). Diese Unzulänglichkeiten sollen durch die Lehre des Streitpatents vermieden werden (vgl. Beschr. Sp. 2 Z. 4/5); insbesondere sollen Defekte und Abweichungen im Glas frühzeitig und sicher detektiert werden (vgl. Beschr. Sp. 2/3 Abs. 10).
Hierzu wird durch Patentanspruch 1 des Streitpatents ein zum Analysieren, Überwachen, Diagnostizieren und/oder Steuern eines Verfahrens zur Herstellung von Glasverpackungsprodukten bestimmtes (geeignetes) Analysesystem mit folgenden Merkmalen unter Schutz gestellt:
1. Das Analysesystem ist versehen mit einem Infrarotsensorsystem, 1.1 das die von warmen Produkten abgestrahlte Infrarotstrahlung erkennt, 1.2 derart, dass die Abstrahlung in dem Bereich unmittelbar nach dem Glasformvorgang erfasst wird.
2. Es weist einen mit dem Sensorsystem verbundenen Digitalprozessor auf, 2.1 der die Energieverteilung in dem Material des geformten Produkts und 2.2 Energiedifferenzen zwischen verschiedenen Teilen des geformten Produkts ermittelt.
3. Die Ermittlung geschieht 3.1 mittels Produktinformationen, die mit dem Infrarotsensorsystem erhalten werden, 3.2 wobei die Energieverteilung und/oder Energiedifferenzen mit mittels eines mathematischen Referenzmodells erhaltenen Kriterien verglichen werden, um Abweichungen in der Glasverteilung und Ursachen thermischer Belastungen der Produkte zu ermitteln.
Die Merkmalsgruppen 2 und 3 bedürfen dabei näherer Erläuterung. Die Patentschrift gibt an, die Erfindung beruhe auf der Grundidee, dass die von einem noch nicht abgekühlten Glaserzeugnis abgegebene Strahlung in direkten Zusammenhang mit der Energieverteilung im Material des Erzeugnisses und/oder den Energiedifferenzen zwischen unterschiedlichen Teilen des Erzeugnisses gebracht werden könne ("The invention is therefore based on the fundamental idea that the emitted radiation of the packaging glass product not yet cooled can be directly connected with the energy distribution in the material of the shaped product and/or the energy differences between different parts of the shaped product"; Beschr. Sp. 2 Abs. 9 Z. 45-50). Erfasst (und sodann mit Referenzwerten verglichen) wird nicht die Energieverteilung, sondern die Intensität der diese repräsentierenden Infrarotstrahlung, und zwar ohne zwischengeschalteten Umrechnungsschritt in einen Temperaturwert o.ä. In der Beschreibung heißt es dementsprechend, durch Detektieren der emittierten Strahlung, d.h. durch Detektieren der Energieverteilung im Material des geformten Produkts ("by detecting the emitted radiation, i.e. by detecting the energy distribution in the material of the shaped product") würden Informationen über örtliche Glasdicke und thermische Belastungen erhalten (Sp. 2 Abs. 9 Z. 25-31). Hierdurch wird auch Merkmal 3.1 verständlich, nach dem die Energieverteilung mittels Produktinformationen ermittelt wird, die mit dem Infrarotsensorsystem erhalten werden. Dementsprechend sind auch die Referenzwerte - entgegen dem Eindruck, den der in Merkmal 3.2 referierte Wortlaut des Patentanspruchs 1 erwecken könnte - Strahlungswerte: Das Referenzmodell wird aus der Infrarotstrahlung, den Glasgrößen und der Glaszusammensetzung des Erzeugnisses abgeleitet (Sp. 2 Abs. 9 Z. 41-45). Örtliche Abweichungen von der vorgesehenen Glassollstärke führen zu Energiedifferenzen im warmen Glas (d.h. zwischen verschiedenen Teilen des geformten Produkts), die vom Analysesystem anhand der aufgenommenen Abstrahlung ("by means of the radiation received") erfasst werden (Sp. 3 Abs. 11 a.E.). Für das Ausführungsbeispiel schildert die Beschreibung den Vergleich der für jedes Pixel des Detektorelements erzeugten Signale mit einem Referenzwert (Sp. 6 Abs. 33 f.).
Der Begriff "mathematisches Referenzmodell" bedeutet dabei nicht mehr, als dass die die Sollenergieverteilung widerspiegelnden - zweckmäßigerweise empirisch gewonnenen - Strahlungssollwerte einen Referenzrahmen bilden, mit dem der Digitalprozessor die vom Sensorsystem empfangene Iststrahlung vergleicht. Die Beschreibung verdeutlicht dies, indem sie angibt, dass das Analysesystem als lernendes System ausgebildet sein kann (Sp. 8 Abs. 42).
II. Das Patentgericht hat die Ausführbarkeit der Erfindung bejaht (Art. II § 6 Abs. 2 Nr. 2 IntPatÜbkG; Art. 138 Abs. 1 Buchst. b EPÜ). In der Patentschrift sei nämlich angegeben, dass das mathematische Referenzmodell mittels spezifischer physikalischer Eigenschaften entwickelt worden sei, zu denen die emittierte Infrarotstrahlung, die Abmessungen des Produkts und die Glaszusammensetzung gehörten. An anderer Stelle (Patentanspruch 2) werde ausgeführt, dass die mit dem Modell bestimmten Kriterien von der Stelle auf dem Produkt und von dem Material des Produkts abhingen. Damit sei dem Fachmann - einem Physiker mit Universitätsabschluss und langjähriger Erfahrung in der Entwicklung von Infrarotmessgeräten - für die Ausgestaltung des Modells die entscheidende Richtung vorgegeben, was für die Bejahung der Ausführbarkeit ausreiche.
Dies hat die Berufung nicht in zulässiger Form angegriffen. Hat der berufungsführende Nichtigkeitskläger wie hier in erster Instanz mehrere Nichtigkeitsgründe (als selbstständige Klagegründe) erfolglos geltend gemacht, seine Berufung aber nur hinsichtlich eines der Nichtigkeitsgründe begründet, ist die Berufung im Umfang der anderen, nicht angegriffenen Nichtigkeitsgründe unzulässig. Für die Klagegründe im Nichtigkeitsberufungsverfahren gilt insoweit nach § 111 Abs. 3 Nr. 1, 2 PatG in der für den Streitfall maßgeblichen Fassung vom 16. Juli 1998 nichts anderes als für unterschiedliche prozessuale Ansprüche im Berufungsverfahren nach der Zivilprozessordnung (§ 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1, 2 ZPO, vgl. hierzu BGH, Urt. v. 26.1.2006 - I ZR 121/03, GRUR 2006, 429, 431 f. - Schlank-Kapseln, m.w.N.; Zöller/Heßler, ZPO, 28. Aufl., § 520 Rdn. 37). Die Berufungsbegründung enthält neben Ausführungen zur Patentfähigkeit lediglich einen pauschalen Verweis auf die erstinstanzlichen Ausführungen der Klägerin. Selbst wenn hierin auch eine Bezugnahme auf die schriftsätzlichen Ausführungen zur ausführbaren Offenbarung gesehen werden könnte, ließe die Berufungsbegründung damit nicht erkennen, aus welchen tatsächlichen oder rechtlichen Gründen die Berufungsklägerin die Bejahung der Ausführbarkeit durch das Patentgericht für unrichtig hält (vgl. zu dieser Anforderung statt aller BGH, Urt. v. 15.6.2000 - I ZR 231/97, GRUR 2000, 872 - Schiedsstellenanrufung).
III. Das Patentgericht hat weiter die Patentfähigkeit des Gegenstands der Erfindung bejaht und dazu im Wesentlichen ausgeführt:
Nach der US-Patentschrift 3 356 212 (K4) werde zwar die von der Flasche ausgehende Infrarotstrahlung unmittelbar nach dem Formungsprozess gemessen, durch geeignete Filter werde aber erreicht, dass nur von der Oberfläche der Flasche ausgehende Strahlung erfasst werde. Die Auswertung der vom Detektor aufgenommenen Signale erfolge mit einer elektronischen Schaltung, nicht mit einem Mikroprozessor.
Das Analysesystem der japanischen Offenlegungsschrift Hei 5-142 172 (K5) sei mit einer Infrarotkamera und einem damit verbundenen Digitalprozessor versehen. Erkannt werde Infrarotstrahlung, die im Bereich unmittelbar nach dem Glasformvorgang von warmen Produkten abgestrahlt werde, wobei nur die von der Oberfläche des Produkts ausgesandte Strahlung gemessen werde, wie sich daraus schließen lasse, dass das äußere Erscheinungsbild der Flasche aufgenommen werde und nur Oberflächenfehler der Glasflasche festgestellt werden sollten, die auch einzig genannt seien (Falten, Grate, Ölflecken). Der Digitalprozessor bestimme in dem aufgenommenen Bild die Isothermen, die die Oberflächentemperatur des Produkts widerspiegelten, wobei ein Produkt als fehlerhaft gelte, wenn eine Isotherme die Isothermen eines fehlerfreien Produkts schneide. Die Temperaturverteilung auf der Oberfläche werde somit mit vorher bestimmten Kriterien verglichen, um Oberflächenfehler zu ermitteln. Um unterschiedliche Temperaturen der Produkte zu berücksichtigen, würden die Kriterien durch ein mathematisches Modell bestimmt. Der Gegenstand der Erfindung unterscheide sich hiervon dadurch, dass die Energieverteilung in dem Glas und außerdem Energiedifferenzen zwischen verschiedenen Stellen des Glases ermittelt würden, für die das mathematische Modell Kriterien liefere.
Das Patentgericht hat den Gegenstand des Patentanspruchs 1 des Streitpatents als nicht nahegelegt angesehen. Für den Fachmann bestehe Veranlassung, ausgehend von der japanischen Offenlegungsschrift Hei 5-142 172 (K5) auch das Innere der Glaswand zu untersuchen. Es sei für ihn ohne Weiteres möglich, einen zusätzlichen Glasdetektor einzusetzen, der Strahlung aus dem Inneren des Glases empfange, denn solche Detektoren seien ihm aus dem Vortrag von D. Smith, Glass Temperature Measurement, aus dem September 1986 (K10) bekannt. Damit gelange er zu einem System, bei dem neben den Isothermen der Oberfläche auch Isothermen aus dem Glasinneren mit Isothermen einer idealen Glasflasche verglichen würden. Veranlassung, weitere Änderungen vorzunehmen, insbesondere den Vergleich von Isothermenlinien aufzugeben, habe für den Fachmann nicht bestanden. Er gelange daher nur mit erfinderischem Zutun dazu, anstelle von Temperaturverteilungen Energieverteilungen im Material des geformten Produkts und Energiedifferenzen zwischen den verschiedenen Teilen des Produkts zu bestimmen. Zwar stehe die Temperatur im Zusammenhang mit der Energie der Materieteilchen, nur aus der Temperatur eines Körpers lasse sich jedoch nicht auf seine Wärmeenergie schließen, denn diese werde auch durch die Masse bestimmt, und die Energieverteilung im Material des geformten Glasprodukts enthalte somit auch Informationen über die Glasverteilung. Damit sei die Bestimmung der Energieverteilung Voraussetzung dafür, Abweichungen in der Glasverteilung feststellen zu können. Hinweise auf die Bestimmung der Energieverteilung im Material ergäben sich aus dem Stand der Technik insgesamt nicht.
IV. Dies hält den Angriffen der Berufung im Ergebnis stand.
1. Dem Gegenstand des Patentanspruchs 1 ist der erforderliche technische Charakter ohne weiteres zuzubilligen, selbst wenn er gegenüber dem Vorbekannten einen geänderten apparativen Aufbau nicht erfordern, sondern sich auf eine Änderung des Auswertealgorithmus (insbesondere durch Verzicht auf die Umwandlung des Strahlungswerts in die Temperatur oder durch Verzicht auf die Errechnung der thermischen Energie aus der ermittelten Strahlungsintensität) beschränken sollte, mit der das erfindungsgemäße Analysesystem auch ohne weitere apparative Änderungen verwirklicht werden kann. Denn für die Technizität einer erfindungsgemäßen Lehre genügt ihre Einbettung in eine technische Vorrichtung, wie sie im Streitfall gegeben ist (für Sachansprüche BGHZ 144, 282 - Sprachanalyseeinrichtung; für Verfahrensansprüche BGH, Beschl. v. 20.1.2009 - X ZB 22/07, GRUR 2009, 479 Tz. 8 - Steuerungseinrichtung für Untersuchungsmodalitäten).
2. Die Berufung meint, dass die Nutzung von mittels eines thermographischen Verfahrens erzeugten Wärmebildern entgegen der Auffassung des Patentgerichts bereits in der US-Patentschrift 3 356 212 (K4) offenbart sei. Sie verweist dazu auf die Beschreibung Sp. 1 Z. 63 - Sp. 2 Z. 6, wonach die Wandstärke (und damit die Materialverteilung) mittels der von den Glaskörpern ausgehenden Energiestrahlung analysiert würden. Es sei auch naheliegend gewesen, nicht nur eine horizontale Linie zu prüfen, sondern eine Gesamtaufnahme des Glaskörpers vorzunehmen. Die japanische Offenlegungsschrift Hei 5-142 172 (K5) beziehe sich nicht darauf, dass nur die von der Oberfläche selbst abgestrahlte Wärmemenge aufgenommen werde, was nur durch die Anwendung eines speziellen Filters möglich sei. Ihre Lehre nehme die des Patentanspruchs 1 des Streitpatents vollständig vorweg. Auch die sonstige Literatur, die auf die Temperaturmessung bei geformten Glaskörpern abstelle, nenne Infrarotsensoren. Diese seien aber nicht in der Lage, die Temperatur unmittelbar zu messen, sondern nur die Intensität der von dem Körper ausgehenden Strahlung. Die Temperaturermittlung setze daher die Messung der emittierten Strahlung voraus. Dem Aufsatz von Gabor Karlos, Infrared Non-Contact Temperature Measurement, in der Zeitschrift "Glass Industry", Juli 1983, S. 28 links unten (K7), sei zu entnehmen, dass mittels der Infrarotaufnahme eines heißen Glaskörpers die Wärmeenergieverteilung desselben bestimmt werden könne. Das gelte auch für den gleichfalls neuheitsschädlichen Bericht "Infrared Line Scanning Helps Insure Quality Production for Ford" in "Glass Industry", November 1992, S. 13, mittlere Spalte (BB1). Schließlich macht die Klägerin geltend, der Gegenstand des Patentanspruchs 1 werde durch die japanische Offenlegungsschrift Hei 5-142 172 (K5) in Verbindung mit dem Aufsatz BB1 nahegelegt.
3. Die in Patentanspruch 1 des Streitpatents geschützte Lehre ist neu (Art. 54 EPÜ).
a) Die US-Patentschrift 3 356 212 (K4) beschreibt ein Verfahren und eine Anlage zur Überprüfung der Wandstärkenverteilung von heißen, hohlen Glaserzeugnissen unmittelbar nach dem Formgebungsprozess. Gemessen wird dazu die von den Glasbehältern nach dem Glasformungsprozess auf einer Horizontallinie abgegebene Infrarotstrahlung. Durch entsprechende Filter wird erreicht, dass diejenige Strahlung erfasst wird, die die "Hauttemperatur" (skin temperature) des Glasbehälters (die Temperatur bis zu einer Tiefe von 1/10 Zoll [0,254 cm] unterhalb der Oberfläche) repräsentiert. Die empfangenen Signale werden darauf hin überprüft, ob sie einen festgelegten Aussonderungsgrenzwert überschreiten. Auf diese Weise sollen Behälter mit mangelhafter Verteilung der Wandstärke erkannt und ausgesondert werden.
Dies entspricht jedenfalls insofern nicht der Merkmalsgruppe 2, als nach der Entgegenhaltung kein Digitalprozessor verwendet wird. Es werden aber Energiedifferenzen zwischen verschiedenen Teilen des geformten Prozesses ermittelt (Merkmal 2.2), denn unterschiedliche empfangene Infrarotsignale repräsentieren Energiedifferenzen und damit diejenigen unterschiedlichen Wandstärken, die nach der US-Patentschrift 3 356 212 (K4) festgestellt werden sollen. Anders als nach Merkmal 2.2 werden aber nicht Energiedifferenzen im Material, sondern nur in der "Materialhaut" ermittelt.
b) Die japanische Offenlegungsschrift Hei 5-142 172 (K5) beschreibt ein Verfahren, das es ermöglicht, Flaschen aus Glas, die mit hoher Geschwindigkeit an einer Messstelle unmittelbar nach Formung der Flaschen und vor Eintritt in den Kühlofen vorbeilaufen, auf Fehler zu kontrollieren. An der Messstelle fertigt eine Infrarotkamera von jeder der geformten Flaschen eine Abbildung an, die zu einem Bildprozessor weitergeleitet wird, der die Bilder (auch digital) so weiterbearbeitet, dass der Verlauf von Linien gleicher Temperatur (Isothermen) auf den Flaschen berechnet werden kann. Fehler wie Falten, Grate oder Ölrückstände führen zu "abnormen" Isothermen, die die "normalen" Isothermen schneiden. Die Qualität einer Flasche soll nach dem Fehlen oder dem Vorhandensein sich schneidender Isothermen beurteilt werden.
Ein neuheitsbegründender Unterschied gegenüber dieser Entgegenhaltung liegt zunächst darin, dass nur die von der Oberfläche des Erzeugnisses emittierte Strahlung gemessen wird. Ein weiterer Unterschied liegt im Merkmal 3.2, weil nach der Entgegenhaltung der Vergleich nicht mit mittels eines (mathematischen) Referenzmodells erhaltenen Kriterien vorgenommen wird, sondern alleiniger Prüfungsmaßstab das Fehlen oder Vorhandensein von sich schneidenden Isothermen ist, die als Fehlerindikatoren angesehen werden. Soweit in der Entgegenhaltung von Temperaturdifferenzen die Rede ist, geht es lediglich darum, die Empfindlichkeit der Infrarotkamera unterschiedlichen Flaschenarten anzupassen.
c) Die Veröffentlichung "Infrared Line Scanning Helps Insure Quality Production for Ford" in "Glass Industry", November 1992, S. 13-15 (BB1) berichtet über eine infrarotbasierte Messtechnik bei der Produktion von Glasscheiben im Kraftfahrzeugbau, bei der Infrarotlinienscanner eingesetzt werden und die produzierten Teile mittels eines thermischen Modells eines optimalen Produkts einer Konformitätsprüfung unterzogen werden. Die Messstrahlung wird über ein transparentes Fenster zum Scanner geführt, mit dem Messpunkte des geformten Glasprodukts aufgenommen und computerunterstützt weiterverarbeitet und bewertet werden. Die ausgestrahlte thermische Energie soll dazu in Temperaturwerte umgewandelt werden, mit denen kontrolliert werden kann, ob die Temperaturen zu hoch sind, was Wellen im Glas zur Folge haben kann, oder zu niedrig, was Brüche verursachen kann. Zur Überwachung oder Steuerung eines Verfahrens zur Herstellung von Glasverpackungsprodukten ist das Analysesystem nicht geeignet; damit liegt schon keine Übereinstimmung mit der Gattung des patentgemäßen Systems vor. Da die Temperaturen ermittelt werden, liegen eine Ermittlung der Energieverteilung und von Energiedifferenzen im Material und deren Vergleich mit Referenzwerten im Sinn der Merkmale 2.1, 2.2 und 3.2 nicht vor, auch wenn die Temperaturmessung, wie die Klägerin an sich zutreffend bemerkt, die Ermittlung der emittierten (Infrarot-)Strahlung notwendigerweise voraussetzt. Denn da die Energieverteilung nicht nur von der Temperatur, sondern auch von der Masse abhängt, ist die Temperaturermittlung, wie das Patentgericht zu Recht angenommen hat, von der Energieverteilungsermittlung sachlich zu unterscheiden, die es ermöglicht, Abweichungen in der Glasverteilung festzustellen.
d) Die übrigen Entgegenhaltungen kommen dem Streitpatent nicht näher und werden auch von der Klägerin nicht als neuheitsschädlich angeführt.
4. Der durch Patentanspruch 1 des Streitpatents geschützte Gegenstand ergab sich für den Fachmann nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik (Art. 56 EPÜ).
a) Zunächst ist das Argument des Patentgerichts, der Fachmann habe keine Veranlassung, von den Isothermen abzugehen, mit denen die japanische Offenlegungsschrift Hei 5-142 172 (K5) arbeitet, nicht widerlegt. Insbesondere bedeutet ein Vergleich mit einem Referenzmodell eine Abkehr vom Konzept dieser Entgegenhaltung.
b) Auch die auf lokaler Temperaturermittlung basierende Veröffentlichung "Infrared Line Scanning Helps Insure Quality Production for Ford" (BB1) führt nicht in naheliegender Weise zum Gegenstand des Streitpatents.
c) Schließlich enthält die US-Patentschrift 3 356 212 (K4) keine hinreichenden Anregungen für den Fachmann, unter Berücksichtigung der besseren Möglichkeiten zur Aufnahme und Verarbeitung der Infrarotstrahlungswerte am Prioritätstag mittels eines Digitalprozessors eine erfindungsgemäße Analyseeinrichtung bereitzustellen.
Zwar ist die Merkmalsgruppe 1 bei dieser gattungsmäßig übereinstimmenden Entgegenhaltung erfüllt. Es bot sich am Prioritätstag auch - wie auch der gerichtliche Sachverständige bestätigt hat - ohne Weiteres an, statt der in der US-Patentschrift 3 356 212 (K4) beschriebenen Schaltung einen Digitalprozessor zur Datenverarbeitung einzusetzen.
Der Fachmann hatte jedoch keinen hinreichenden Anlass, das Material in seiner ganzen Tiefe zu erfassen. Die US-Patentschrift geht ersichtlich davon aus, dass es genügt, die "Materialhaut" bis zu der angegebenen Tiefe von 1/10 Zoll zu erfassen, und filtert deshalb die Strahlung bestimmter Wellenlänge aus dem Inneren der Flasche aus ("and does not reflect the radiation ... which may occur deeper within the bottle", Sp. 3 Z. 20-22). Wäre dies dem Fachmann als unzureichend oder weniger zuverlässig erkennbar gewesen, so hätte für ihn Anlass bestehen können, auch die Strahlung aus den tieferen Materialschichten zu erfassen. Dass er dies tun konnte, war schon der US-Patentschrift zu entnehmen, die Filter verwendet, um nur die "Hautstrahlung" zu erfassen. Das Weglassen der Filter hätte ihn nicht vor besondere Schwierigkeiten gestellt. Es haben sich jedoch keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der Fachmann Anlass hatte, die Erfassung der "Materialhaut" als problematisch anzusehen. Durch das Weglassen des Filters entfiel zudem eine zusätzliche Referenzgröße, nämlich die Strahlungsintensität bei einer definiert berücksichtigten Materialtiefe und damit eine zusätzliche Referenzgröße, die aufzugeben der Fachmann keinen Anlass hatte.
Schließlich spricht für das Vorliegen einer erfinderischen Leistung entscheidend, dass im Stand der Technik durchgehend die Materialtemperatur erfasst wird, aus der auf Ungleichmäßigkeiten im Material zurückgeschlossen wird. Diese Denkweise spiegelt auch die Entgegenhaltung K4 wider. Die thermische Energie eines Materials ergibt sich nach der Formel E = m . c . T aus seiner Masse, der spezifischen Wärmekapazität und der Temperatur. Indem die Strahlung aus der "Materialhaut", d.h. einer konstanten Masse erfasst wird, kann bei als gegeben angenommener gleichfalls konstanter spezifischer Wärmekapazität aus unterschiedlichen Strahlungsintensitäten auf unterschiedliche Temperaturen der Materialhaut und daraus wiederum auf eine unterschiedliche Glasmasse (Wandstärke) geschlossen werden. Auch die K4 spricht deswegen von der Hauttemperatur, obwohl sie diese gar nicht ermittelt. Es ist demgegenüber, wie das Patentgericht zu Recht angenommen hat, das Verdienst der Erfindung, aufgezeigt zu haben, dass es für die Fehlerkontrolle von Glasflaschen und dergleichen weder der Ermittlung der Glastemperatur noch der Ermittlung der Wandstärke bedarf, sondern es ausreicht, die Energieabstrahlung über die gesamte Glastiefe zu messen und mit dem jeweiligen für eine fehlerfreie Flasche ermittelten Referenzwert zu vergleichen, ohne den Umweg über die Temperaturauswertung zu gehen.
5. Patentanspruch 11 und die Unteransprüche sind mit Patentanspruch 1 rechtsbeständig.
V. Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 Satz 1 PatG i.V.m. § 97 Abs. 1 ZPO.
Meier-Beck Keukenschrijver Mühlens Bacher Hoffmann Vorinstanz:
Bundespatentgericht, Entscheidung vom 08.11.2006 - 4 Ni 10/05 (EU) -
BGH:
Urteil v. 04.02.2010
Az: Xa ZR 4/07
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