Bundesverfassungsgericht:
Beschluss vom 18. Dezember 2003
Aktenzeichen: 1 BvR 918/03

(BVerfG: Beschluss v. 18.12.2003, Az.: 1 BvR 918/03)

Tenor

Der Beschluss des Oberlandesgerichts Rostock vom 26. Februar 2003 - 1 W 85/01 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.

Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

Das Land Mecklenburg-Vorpommern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 100.000 € (in Worten: einhunderttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe für die Durchsetzung eines Staatshaftungsanspruchs.

A.

I.

Der Beschwerdeführer brach im November 1994 zusammen mit anderen rumänischen Staatsangehörigen zur Nachtzeit in einen Einkaufsmarkt ein. Die Täter wurden entdeckt und flüchteten. Auf einen Polizisten, der an einer Straßensperre Signal zum Anhalten gab, fuhren sie mit erhöhter Geschwindigkeit zu, so dass der Beamte sich nur durch einen Sprung zur Seite retten konnte. Als die Flüchtenden gestellt wurden, sprang der Beschwerdeführer in einen Fluss. Nach einem Warnschuss schwamm er ans Ufer und ließ sich festnehmen. Unter im Einzelnen streitigen Umständen traf den Beschwerdeführer aus eineinhalb bis zwei Metern Entfernung eine Kugel aus der Dienstpistole des Beamten waagerecht in den Hals. Der damals 21-jährige Beschwerdeführer ist seither vom Hals an abwärts gelähmt, musste mehrfach operiert werden und wird nach medizinischem Ermessen bis zu seinem Lebensende nur noch seinen Kopf ein wenig bewegen können.

Gegen den Polizeibeamten wurde mit inzwischen rechtskräftigem Strafbefehl wegen fahrlässiger Körperverletzung eine Strafe von 90 Tagessätzen festgesetzt, weil er bei Abgabe des Schusses, der den Beschwerdeführer verletzte, sorgfaltswidrig gehandelt habe. Das Land Mecklenburg-Vorpommern hat dem Beschwerdeführer ein Schmerzensgeld von 150.000 DM gewährt und Anspruch auf Schadensersatz wegen vermehrter Bedürfnisse dem Grunde nach für den Fall der Rückkehr nach Rumänien anerkannt.

Der Beschwerdeführer beantragte im Ausgangsverfahren Prozesskostenhilfe für eine Klage gegen das Land Mecklenburg-Vorpommern auf insgesamt 11,112 Mio. DM wegen erhöhten Lebenshaltungsaufwands und Einkommensverlusts. Das Landgericht lehnte den Antrag ab. Der Beschwerdeführer habe den Schaden in erheblichem Umfang mitverursacht. Das Oberlandesgericht wies die Beschwerde des Beschwerdeführers zurück. § 1 Abs. 1 des in Mecklenburg-Vorpommern fortgeltenden Staatshaftungsgesetzes der Deutschen Demokratischen Republik setze eine objektiv rechtswidrige hoheitliche Tätigkeit voraus, die bloße Rechtswidrigkeit des Handlungsergebnisses genüge nicht. Der Polizeibeamte habe nicht rechtswidrig gehandelt. Es sei von dem von ihm geschilderten Ablauf auszugehen, da absehbar sei, dass eine Beweisaufnahme nichts anderes ergeben werde. Der Schuss sei als Warnschuss gerechtfertigt gewesen. Ein Warnschuss verliere nicht deshalb seine Rechtmäßigkeit, weil er fehlgehe. Etwas anderes ergebe sich nicht daraus, dass auch die konkrete Durchführung eines Warnschusses amtspflichtwidrig sein könne. An die dem Strafbefehl zugrunde liegende Bewertung des Verhaltens des Polizeibeamten sei das Gericht nicht gebunden. Es sei bislang nicht festgestellt, aus welchen Gründen sich der Schuss ungewollt vorzeitig gelöst habe oder in die falsche Richtung gegangen sei. Es könne nicht ohne weiteres ein sorgloser Umgang mit der Waffe unterstellt werden.

II.

Der Beschwerdeführer rügt mit der Verfassungsbeschwerde, die sich außer gegen die vorgenannten Entscheidungen auch gegen zuvor ergangene Behördenbescheide und gegen einen Nichtabhilfebeschluss des Landgerichts richtet, eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG. Es werde aus fiskalischen Gründen missachtet, dass das Staatshaftungsrecht der Deutschen Demokratischen Republik schon dem Wortlaut nach Schadensersatz für Erfolgsunrecht gewährt habe. Die Feststellung, ob der Umgang mit der Waffe sorgfaltswidrig gewesen sei, hätte nicht im Prozesskostenhilfeverfahren getroffen werden dürfen, hier seien lediglich die Erfolgsaussichten zu prüfen. Auch dürfe das Gericht nicht vorwegnehmen, wie sich der Polizeibeamte bei einer erneuten Beweisaufnahme äußern würde.

III.

Dem Justizministerium Mecklenburg-Vorpommern und dem Antragsgegner des Ausgangsverfahrens wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Sie haben von einer Stellungnahme abgesehen.

B.

I.

Die Verfassungsbeschwerde ist, soweit sie sich gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts richtet, gemäß § 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung anzunehmen, weil dies zur Durchsetzung des Rechts des Beschwerdeführers aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG auf Rechtsschutzgleichheit geboten ist. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen insoweit vor (§ 93 c Abs. 1 BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (vgl. BVerfGE 81, 347 <356 ff.>).

1. Hinsichtlich der beiden Bescheide des Landes und der Beschlüsse des Landgerichts wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, weil sie insoweit nicht den Darlegungsanforderungen von § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG genügt. Die Beschwerdeschrift setzt sich im Einzelnen nur mit der Entscheidung des Oberlandesgerichts auseinander. Die Verfassungsbeschwerde ist auch unsubstantiiert, soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG rügt. Dass gerichtliche Entscheidungen, die finanzielle Ersatzansprüche wegen Körperverletzung betreffen, ihrerseits das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit verletzen, versteht sich nicht von selbst (vgl. BVerfGE 49, 304 <320>). Die Beschwerdeschrift enthält keinerlei Ausführungen zur Einschlägigkeit des Grundrechts.

2. Hinsichtlich der Entscheidung des Oberlandesgerichts ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und begründet. Der Beschluss verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG, soweit er den Anspruch des Beschwerdeführers in vollem Umfang zurückweist.

a) Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsgrundsatz gebietet eine weit gehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes. Die Prüfung hinreichender Erfolgsaussichten als Voraussetzung der Gewährung von Prozesskostenhilfe ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Die Anforderungen an die Erfolgsaussichten dürfen jedoch nicht überspannt werden (vgl. BVerfGE 81, 347 <356 ff.>; BVerfG, 3. Kammer des Ersten Senats, FamRZ 2003, S. 833 <834>). Insbesondere darf die Rechtsverfolgung oder -verteidigung nicht in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe verlagert werden, so dass dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens tritt. Auslegung und Anwendung der Vorschriften über das Prozesskostenhilfeverfahren, Feststellung und Würdigung des entscheidungserheblichen Sachverhalts sowie Auslegung und Anwendung des jeweils einschlägigen einfachen Rechts bei der Prüfung der Erfolgsaussichten obliegen zwar in erster Linie den Fachgerichten. Verfassungsrecht wird jedoch verletzt, wenn die angegriffene Entscheidung Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der Rechtsschutzgleichheit beruhen (vgl. BVerfGE 81, 347 <357 f.>; BVerfG, 2. Kammer des Ersten Senats, NJW-RR 2002, S. 1069; 1. Kammer des Zweiten Senats, NJW 2003, S. 576).

b) Die Entscheidung des Oberlandesgerichts wird diesem verfassungsrechtlichen Maßstab nicht gerecht. Dabei kann offen bleiben, ob das Gericht die Rechtsfrage, ob das anzuwendende Staatshaftungsrecht eine rechtswidrige hoheitliche Handlung oder nur einen rechtswidrigen Erfolg voraussetzt, im Prozesskostenhilfeverfahren entscheiden durfte. Auch kann angenommen werden, dass das Oberlandesgericht bereits im Verfahren der Prozesskostenhilfe die Erfolgsaussicht hinsichtlich der Höhe des gestellten Klageantrages hätte berücksichtigen können.

Die angegriffene Entscheidung ist jedoch deshalb mit dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit unvereinbar, weil die Feststellung, der Polizeibeamte habe seine Waffe nicht amtspflichtwidrig eingesetzt, im Prozesskostenhilfeverfahren nicht ohne verfassungsrechtlich nicht hinnehmbare Benachteiligung des Beschwerdeführers getroffen werden konnte. Auch nach den Schilderungen des Polizeibeamten hat der Schuss sich nicht ungewollt gelöst, sondern der Beamte hat ihn willentlich abgegeben. Der Einschuss in Höhe des Halses und der Verlauf des Schusskanals, wie sie der angegriffenen Entscheidung zugrunde gelegt worden sind, deuten darauf hin, dass der Beamte dabei die Waffe annähernd waagerecht hielt, statt durch die Richtung der Waffe sicherzustellen, dass der Warnschuss niemanden trifft; auf dieser Einschätzung beruht auch der Strafbefehl. Das Gericht verkennt die Funktion des Prozesskostenhilfeverfahrens, wenn es feststellt, es könne dennoch ein sorgloser Umgang mit der Waffe nicht ohne weiteres unterstellt werden. Entscheidend ist, dass das Gegenteil nicht unterstellt werden kann und angesichts der bisher bekannten Umstände die Annahme, es könne durch die dem Hauptsacheverfahren vorbehaltene weitere Erörterung und Tatsachenfeststellung eine Amtspflichtwidrigkeit nachgewiesen werden, jedenfalls nicht fern liegend ist.

Selbst wenn das Verhalten des Beamten entschuldbar sein sollte, spräche das nicht gegen die für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe allein maßgebliche hinreichende Aussicht, im Hauptsacheverfahren die Rechtswidrigkeit seines Handelns feststellen zu können.

c) Die angegriffene Entscheidung beruht auf dem festgestellten Verfassungsverstoß. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Oberlandesgericht zu einem für den Beschwerdeführer günstigen Ergebnis gekomen wäre, wenn es die sich aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip ergebenden Anforderungen an das Prozesskostenhilfeverfahren beachtet hätte.

II.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG, die Festsetzung des Wertes des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit auf § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO in Verbindung mit den vom Bundesverfassungsgericht hierzu entwickelten Grundsätzen (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).






BVerfG:
Beschluss v. 18.12.2003
Az: 1 BvR 918/03


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