Bundesgerichtshof:
Beschluss vom 24. Juli 2006
Aktenzeichen: NotZ 3/06

(BGH: Beschluss v. 24.07.2006, Az.: NotZ 3/06)

Tenor

Auf die sofortige Beschwerde des Antragstellers werden der Beschluss des 2. Notarsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 19. Dezember 2005 - 2 Not 2/05 - und der Bescheid des Antragsgegners vom 11. März 2005 aufgehoben.

Der Antragsgegner wird verpflichtet, den Antragsteller unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu bescheiden.

Gebühren und Auslagen werden nicht erhoben. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

Der Geschäftswert des Beschwerdeverfahrens wird auf 50.000 €

festgesetzt.

Gründe

I. Der Antragsgegner schrieb im Justiz-Ministerial-Blatt für Hessen vom 1. Oktober 2004 (JMBl. S. 527) unter anderem eine Notarstelle für die im Amts- und Landgerichtsbezirk F. gelegene Stadt P. aus, auf die sich insgesamt sechs Rechtsanwälte bewarben, darunter der Antragsteller und der weitere Beteiligte. Der Antragsteller hat vom 1. September 1978 bis zum 14. Dezember 1983 in Baden-Württemberg eine Ausbildung zum württembergischen Notar im Landesdienst (Bezirksnotar) durchlaufen und mit der Note "befriedigend" abgeschlossen. Nach dem sich anschließenden Studium der Rechtswissenschaften und dem Referendariat ist der Antragsteller seit dem Jahre 1991 als Rechtsanwalt zugelassen; am 11. November 2005 wurde ihm die Befugnis verliehen, die Bezeichnung "Fachanwalt für Erbrecht" zu führen.

Der Antragsgegner führte das Auswahlverfahren gemäß Abschnitt A II seines Runderlasses zur Ausführung der Bundesnotarordnung vom 25. Februar 1999 (JMBl. S. 222) in der geänderten Fassung des Runderlasses vom 10. August 2004 (JMBl. S. 323) durch. Aufgrund der für den weiteren Beteiligten ermittelten Gesamtpunktzahl von 161,95 schlug die Präsidentin des Oberlandesgerichts vor, diesem die freie Notarstelle zu übertragen. Der Antragsteller, der hinter dem weiteren Beteiligten die zweite Rangstelle einnimmt, wurde mit Verfügung vom 11. März 2005 davon unterrichtet, dass seiner Bewerbung angesichts einer Gesamtpunktzahl von 131,90 nicht entsprochen werden könne. Die Ausbildung zum Bezirksnotar, für die zudem drei Sonderpunkte vergeben worden seien, sei bei der Prüfung seine fachliche Eignung berücksichtigt worden. Es sei hingegen nicht gerechtfertigt, darüber hinaus Teile der schon über 20 Jahre zurückliegenden Ausbildung zum Bezirksnotar wie Fortbildungsveranstaltungen zu berücksichtigen.

Das Oberlandesgericht hat den Antrag des Antragstellers auf gerichtliche Entscheidung mit dem Inhalt, den Bescheid vom 11. März 2005 aufzuheben und den Antragsgegner zur Neubescheidung seiner Bewerbung um die am 1. Oktober 2004 ausgeschriebene Notarstelle zu verpflichten, zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich seine sofortige Beschwerde, mit der er sein Begehren weiterverfolgt.

II. Die gemäß § 111 Abs. 4 BNotO, § 42 Abs. 4 BRAO zulässige sofortige Beschwerde ist auch in der Sache begründet. Der angefochtene Bescheid ist entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts rechtswidrig und daher aufzuheben; der Antragsgegner hat den Antragsteller unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu bescheiden. Allerdings hat der Antragsteller nicht mit allen Beanstandungen, die er gegen die Auswahlentscheidung des Antragsgegners erhebt, Erfolg.

1. Der Antragsgegner hat die durch den Antragsteller abgeschlossene Ausbildung zum Bezirksnotar berücksichtigt und als dem Regelnachweis in Form eines vom Deutschen Anwaltsinstitut e.V. veranstalteten Grundkurses nach Abschnitt A II Nr. 2 des Runderlasses gleichwertig erachtet (vgl. dazu Senatsbeschluss vom 18. März 2002 - NotZ 19/01 - NJW-RR 2002, 1142). Der Antragsteller sieht die für die fachliche Eignung als Notar erforderlichen Grundkenntnisse bereits durch den Einführungslehrgang und die beiden Begleitlehrgänge I und II seiner Ausbildung vermittelt und möchte die über 18 Monate währende vertiefende fachwissenschaftliche Ausbildung in der Notariatsschule als Teilnahme an Fortbildungsveranstaltungen im Sinne von Abschnitt A II Nr. 3 Buchst. c mit 360 Punkten (= volle 360 Schultage), wenigstens aber 180 Punkten, angesetzt wissen. Dem ist nicht zu folgen.

Der Besuch der Notariatsschule (jetzt: Notarakademie) war zwingender Bestandteil der vom Antragsteller durchlaufenen Ausbildung zum Bezirksnotar; als Notariatskandidat war er verpflichtet, an den Lehrveranstaltungen teilzunehmen (§ 15 Abs. 1 Satz 2 der hier noch einschlägigen Verordnung des Justizministeriums über die Ausbildung und Prüfung für die Laufbahn des Bezirksnotars vom 14. März 1968, GBl. S. 119). Eine solche Ausbildungsleistung kann nicht den Fortbildungsleistungen für den Zweitberuf des Anwaltsnotars zugerechnet werden. Eine Ausbildung, die zu einem erstmaligen Abschluss in einem juristischen Beruf führt, lässt sich schon begrifflich nicht einer "Fortbildung" im Sinne des Abschnitts A II Nr. 3 Buchst. c des Runderlasses gleichstellen. Die genannte Regelung ermöglicht den Erwerb von für die Bewertung der fachlichen Eignung maßgeblichen Punkten durch Bewerber, die bereits als Rechtsanwälte zugelassen sind und sich - weiterführend - für den Beruf des Anwaltsnotars durch Teilnahme an entsprechenden Fortbildungskursen qualifizieren möchten. Unter "Fortbildung" ist demnach der Erwerb auf berufspraktischen Erfahrungen aufbauenden Wissens zu verstehen, dem dann erhöhte Aussagekraft zukommt, wenn es aktuell erworben ist, weil Kenntnisse und Fähigkeit aus länger zurückliegender Zeit erfahrungsgemäß leicht verblassen. Das kommt im Runderlass nicht zuletzt dadurch zum Ausdruck, dass mit zeitnahen Fortbildungsmaßnahmen eine höhere Punktzahl erzielt werden kann als mit solchen, die nicht innerhalb der letzten drei Jahre vor Ausschreibung der Stelle bis zum Ende der Bewerbungsfrist absolviert sind. Ob auch Fortbildungsseminare des Deutschen Anwaltsinstituts, die - wie der Besuch der Notariatsschule durch den Antragsteller - mehr als 20 Jahre zurückliegen, nicht mehr berücksichtigungsfähig wären, kann dabei offen bleiben. Entscheidend ist, dass der Antragsteller sich zwei Jahrzehnte vor seiner Bewerbung zum Anwaltsnotar in einem juristischen Beruf hat "ausbilden" und nicht - auf Basis einer abgeschlossenen Berufsausbildung - in einem schon geraume Zeit ausgeübten juristischen Beruf mit Blick auf die erstrebte Stelle als Anwaltsnotar hat "fortbilden" lassen.

2. Der Antragsgegner war daher berechtigt, den Besonderheiten des beruflichen Werdegangs des Antragstellers innerhalb des von ihm angewandten Punktesystems allein durch die Vergabe von Sonderpunkten Rechnung zu tragen. Es ist nicht zu beanstanden, dass er sich dafür an Abschnitt A II Nr. 3 Buchst. e des Runderlasses orientiert hat. Die Erfahrungen aus einer Tätigkeit als Notar, Notarvertreter oder Notariatsverwalter von mindestens durchschnittlichem Umfang mit einer ununterbrochenen Dauer von mindestens sechs Monaten können mit in der Regel 0,5 Punkten pro Halbjahr berücksichtigt werden (Buchst. aa). Die vom Antragsgegner angesetzten drei Sonderpunkte für sonstige Tätigkeiten, Leistungen und Kenntnisse, die in besonderer Weise für das Notariat qualifizieren (Buchst. cc), entsprechen damit einer dreijährigen Tätigkeit als Notar oder Notarvertreter. Das erweist sich angesichts des Umstandes, dass der Antragsteller sich in der Ausbildung zum Bezirksnotar befunden hat und diese Ausbildung über zwei Jahrzehnte zurückliegt, als ermessensfehlerfrei, zumal auch Bewerber, die den Anwärterdienst als Notarassessor in der gesetzlichen Regelzeit von drei Jahren (§ 7 Abs. 1 BNotO) durchlaufen haben, nicht mehr Sonderpunkte erreichen könnten.

3. Die Berechtigung des Antragstellers, die Bezeichnung "Fachanwalt für Erbrecht" zu führen, ist erst im November 2005, mithin außerhalb der im November 2004 ablaufenden Bewerbungsfrist, erworben worden und deshalb nicht beachtlich (§ 6b Abs. 2, Abs. 4 Satz 1 BNotO; vgl. Senatsbeschluss vom 22. November 2004 - NotZ 16/04 - ZNotP 2005, 155, 158). Überdies hat der Antragsgegner den Umstand, dass ein Schwerpunkt der anwaltlichen Tätigkeit des Antragstellers im Erbrecht liegt, mit der Vergabe von drei Sonderpunkten berücksichtigt. Es ist nicht ersichtlich, dass der daraus - und aus einer Promotion zu einem erbrechtlichen Thema - folgenden Qualifikation für den Notarberuf, wie sie vom Antragsteller geltend gemacht wird, damit nicht angemessen Rechnung getragen wäre.

4. Dennoch erweist sich die Auswahlentscheidung des Antragsgegners im Ergebnis als nicht rechtsfehlerfrei. Denn er hat, wie der Antragsteller zu Recht rügt, vorliegend die erforderliche Gesamtschau unterlassen. Er hat nicht geprüft, ob die in das Punktesystem eingeflossenen Kriterien im konkreten Fall ihr angemessenes Gewicht erhalten haben.

a) Durch Beschluss vom 20. April 2004 hat das Bundesverfassungsgericht die durch Verwaltungsvorschriften konkretisierte Auslegung und Anwendung der in § 6 BNotO normierten Auswahlmaßstäbe in verschiedenen Bundesländern - so auch den Runderlass des Antragsgegners in seiner früheren Fassung - für verfassungswidrig erklärt; die um der verfassungsrechtlich garantierten Berufsfreiheit Willen gebotene chancengleiche Bestenauslese sei nicht gewährleistet. Eine nach diesen Maßstäben erstellte Prognose über die Eignung eines Bewerbers für das von ihm erstrebte öffentliche Amt oder über seine bessere Eignung bei der Auswahl aus einem größeren Kreis von Bewerbern lasse vor allem eine konkrete und einzelfallbezogene Bewertung der fachlichen Leistung des Bewerbers vermissen (BVerfGE 110, 304 = DNotZ 2004, 560 = ZNotP 2004, 281 = NJW 2004, 1935).

b) Der Antragsgegner hat mit Blick darauf seinen Runderlass geändert. Im Unterschied zum Runderlass in der Fassung, wie sie der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde lag, sind die Kappungsgrenzen für den Bereich theoretischer Befähigung und praktischer Bewährung aufgegeben. Die für Fortbildung und praktische Notartätigkeit erzielbaren Punkte sind nicht mehr gedeckelt; auch gibt es keine gemeinsame Kappungsgrenze für den Besuch von Fortbildungsveranstaltungen und den Erwerb notarieller Praxis mehr. Zudem werden die Fortbildungskurse danach gewichtet, ob sie innerhalb der letzten drei Jahre vor Ausschreibung bis zum Ende der Bewerbungsfrist (1,0 Punkte je Halbtag) oder davor (0,5 Punkte je Halbtag) absolviert wurden. Die von den Bewerbern vorgenommenen Notariatsgeschäfte - mit Ausnahme von Niederschriften nach § 38 BeurkG und Vermerken nach § 39 BeurkG einschließlich Beglaubigungen (mit oder ohne Entwurf) - werden ebenfalls nach Anzahl und zeitlicher Vornahme gewichtet. Durch den Wegfall der Kappungsgrenzen erhalten die Examensnoten das vom Bundesverfassungsgericht geforderte geringere Gewicht; zugleich erfolgt eine Stärkung der fachbezogenen Anforderungen. Im Rahmen der Gesamtentscheidung können nach Anhörung der Notarkammer weitere Punkte für im Einzelfall vorhandene besondere notarspezifische Qualifikationsmerkmale angerechnet werden (Abschnitt A II Nr. 3 Buchst. e des Runderlasses).

5. Der Senat hat zur Umsetzung der verfassungsgerichtlichen Entscheidung vom 20. April 2004 bereits in seinen Beschlüssen vom 22. November 2004 (aaO S. 157) und vom 11. Juli 2005 (NotZ 29/04 - DNotZ 2005, 942, 945) Stellung genommen. Erforderlich ist eine Bewertung der Bewerber, bei der auch die von ihnen bei der Vorbereitung auf das angestrebte Amt gezeigten theoretischen Kenntnisse und praktischen Erfahrungen differenziert zu berücksichtigen sind. Solange es insoweit an beachtlichen Bewertungen noch fehlt, ist eine individuelle Eignungsprognose im weiteren Sinne zu treffen, bei der diese beiden notarspezifischen Eignungskriterien mit eigenständigem, höherem Gewicht als bisher im Verhältnis zu der Anwaltspraxis und dem Ergebnis des Staatsexamens einfließen müssen. Vor diesem Hintergrund gilt Folgendes:

a) Der Senat hat keine Bedenken, wenn der Antragsgegner für das Bewerbungsverfahren grundsätzlich an einem Punktesystem - mit seinen unter 4 b) dargestellten Modifizierungen - festhält. Auch das Bundesverfassungsgericht hat ein solches Punktesystem prinzipiell nicht beanstandet; es ist durch die gesetzlichen Auswahlkriterien des § 6 Abs. 3 BNotO gedeckt (BGHZ 124, 327, 335). Das Punktesystem ermöglicht ein Auswahlverfahren nach objektiven, nachvollziehbaren und transparenten Bewertungsmaßstäben (Examensnote, Dauer der anwaltlichen Tätigkeit, theoretische Fortbildung, praktische Beurkundungserfahrungen). Der einzelne Bewerber kann sich auf feste und für ihn durchschaubare Auswahlkriterien einstellen. Er kann ihnen entnehmen, welches Anforderungsprofil zu erfüllen ist und auf dieser Grundlage beantworten, ob eine Bewerbung Erfolg verspricht und welche Nachweise er für die von ihm erworbenen theoretischen und praktischen Fähigkeiten in das Bewerbungsverfahren einzuführen hat. Dem Antragsgegner selbst erlaubt das Punktesystem eine verlässliche Sichtung des Bewerberfeldes. Er kann die Bewerber erfassen, die nach ihrer fachlichen Eignung für die Besetzung der ausgeschriebenen Notarstelle in Frage kommen; anhand der nach dem Punktesystem vorgegebenen Kriterien ist eine Vergleichbarkeit ihrer Leistungen und sonstigen Eignungsmerkmale gewährleistet. Dieser Vergleich mit den Verhältnissen anderer Bewerber setzt ein gewisses Maß an Abstraktion, Generalisierung und Schematisierung notwendig voraus, damit ein einheitlicher und nachprüfbarer Maßstab gewonnen werden kann, nach dem sich die Justizverwaltung zu richten hat (vgl. Senatsbeschluss vom 18. März 2002 - NotZ 19/01 - NJW-RR 2002, 1142, 1143).

b) Die Ausrichtung auf ein Punktesystem und die darauf beruhende Einordnung der fachlichen Qualifikationsmerkmale in eine benotete Rangskala bergen aber auch die Gefahr in sich, dass den Besonderheiten des Einzelfalles nicht immer ausreichend Rechnung getragen und das Maß der Eignung des einzelnen Bewerbers nicht vollständig ermittelt wird. Das Punktesystem für sich allein kann dann den Anforderungen, die an einen individuellen Leistungsvergleich zu stellen sind, nicht genügen und - vor allem - eine abschließende, alle Gesichtspunkte umfassende Beurteilung der fachlichen Eignung der Bewerber nicht ersetzen. Der Antragsgegner schöpft in solchen Konstellationen seinen Beurteilungsspielraum nicht aus, wenn er sich auf eine Gegenüberstellung der für die einzelnen Bewerber innerhalb des Bezugssystems gewonnenen Gesamtpunktzahlen beschränkt und ohne weiteres ("im Regelfall") dem Bewerber den Vorzug gibt, der die auf diese Weise ermittelte höchste Punktzahl erreicht hat; eine an den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts orientierte Besetzungsentscheidung läge darin nicht.

c) Der Antragsgegner hat daher, bevor er seine endgültige Auswahl trifft, zum einen danach zu fragen, ob für die jeweiligen Bewerber Umstände ersichtlich sind, die in das an festen Kriterien (Examensnote, Dauer der anwaltlichen Tätigkeit, theoretische Fortbildung, praktische Beurkundungserfahrung) ausgerichtete Punktesystem keinen Eingang gefunden haben, aber dennoch zu berücksichtigen sind, um die Kenntnisse und Fähigkeiten des Bewerbers zutreffend und vollständig zu erfassen. Folgerichtig sieht der Runderlass in Abschnitt A II Nr. 3 Buchst. e vor, dass "im Rahmen der Gesamtentscheidung" die Vergabe von Sonderpunkten in Betracht kommt. Dadurch erhalten hervorragende Leistungen - wie vom Bundesverfassungsgericht gefordert - das ihnen gebührende Gewicht.

d) Der Antragsgegner hat zum anderen aber auch zu prüfen, ob die in das Punktesystem aufgenommenen Kriterien und sonst eingeflossenen Gesichtspunkte im jeweiligen Einzelfall angemessen gewichtet sind. Nur auf diese Weise ist der Vorrang desjenigen gewährleistet, der die beste fachliche Eignung aufzuweisen hat. Mit der wertenden Gesamtschau hat der Antragsgegner das über das Punktesystem gewonnene Ergebnis, das sich regelmäßig in einer nach der erreichten Gesamtpunktzahl bestimmten Rangfolge der Bewerber ausdrückt, auf seine Richtigkeit zu hinterfragen. Das vom Antragsgegner verwendete Bezugssystem gewährleistet nämlich nicht, dass die einzelnen Voraussetzungen, die von den Bewerbern für ihre fachliche Eignung zu erfüllen sind, stets in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Ein Bewerber vermag im Auswahlverfahren die höchste Punktzahl aufgrund seiner Teilnahme an zahlreichen Fortbildungsveranstaltungen zu erzielen, ohne zugleich auf praktische Erfahrungen verweisen zu können, oder - umgekehrt - durch intensive Beurkundungstätigkeit eine fehlende theoretische Vorbereitung auf das Notaramt auszugleichen. Das kann zu einem völligen Ausfall des einen oder anderen Bereichs führen, obwohl sich die fachliche Eignung nur unter Heranziehung beider Komponenten - der theoretischen Fortbildung ebenso wie der praktisch erworbenen Fähigkeiten und Kenntnisse - zuverlässig beurteilen lässt.

6. Das bedeutet hier: Der Antragsteller und der weitere Beteiligte liegen hinsichtlich der im zweiten Staatsexamen erzielten Note ("befriedigend") und der berücksichtigungsfähigen Dauer ihrer anwaltlichen Tätigkeit jedenfalls nicht signifikant auseinander. Im Bereich der für die theoretische Vorbereitung erzielten Punkte hat sich der weitere Beteiligte (72,5 Punkte) deutlich gegenüber dem Antragsteller (7 Punkte) durchgesetzt. Sein Vorsprung in der Gesamtpunktzahl ist zu einem wesentlichen Teil dadurch erklärt; unter dem Blickwinkel theoretischer Fortbildung wäre die Auswahlentscheidung des Antragsgegners daher nicht zu beanstanden. Den Besonderheiten im beruflichen Werdegang des Antragstellers und den geltend gemachten notarspezifischen Bezügen seiner anwaltlichen Tätigkeit ist durch die Vergabe von Sonderpunkten Rechnung getragen; diese vermögen den Punktevorsprung des weiteren Beteiligten jedoch nicht auszugleichen.

Indes hat der Antragsgegner außer Betracht gelassen, dass der weitere Beteiligte über nahezu keine Erfahrungen in der Beurkundungstätigkeit verfügt. Er hat hier lediglich 1,6 Punkte erzielt, innerhalb der letzten drei Jahre vor der Ausschreibung nur ein Urkundsgeschäft (1 x 0,2 Punkte) vorgenommen und für sonstige Beurkundungen lediglich 14 x 0,1 Punkte erreicht. Ein ausgewogenes Verhältnis der fachspezifischen Leistungen zueinander ist jedenfalls in einer solchen Konstellation nicht erkennbar; die Einseitigkeit der vom Bewerber erworbenen Fähigkeiten und Kenntnisse tritt offen zu tage. Das Gewicht ist deutlich zugunsten einer rein theoretischen Vorbereitung auf das angestrebte Notaramt - bei gleichzeitig fast gänzlich fehlender praktischer Einarbeitung - verschoben, obwohl das Bundesverfassungsgericht schon für das frühere Bewertungssystem beanstandet hat, dass eine hohe und für die konkrete Bewerbungsentscheidung ausschlaggebende Punktzahl ohne nennenswerte praktische Erfahrung erreicht werden kann. Dem steht der Antragsteller mit immerhin 731 Beurkundungen gegenüber, wenn diese auch außerhalb eines dreijährigen Zeitraums vor seiner Bewerbung liegen.

Der Antragsgegner hat nicht deutlich gemacht, diesen Gesichtspunkt in seine Auswahlentscheidung einbezogen zu haben. Sein Besetzungsvermerk aus dem Monat März 2005, in dem verneint ist, dass weitere Umstände ein Abweichen von der nach Punkten ermittelten Reihenfolge der Bewerber rechtfertigen könnten, spricht dagegen. Die gebotene Abwägung wird nachzuholen sein. Der Antragsgegner wird differenziert zu bewerten und zu entscheiden haben, ob er dem Antragsteller, der Beurkundungserfahrung, aber nur geringe theoretische Fortbildung - wenn auch mit einschlägiger theoretischer "Vor-Ausbildung" - aufzuweisen hat, oder dem weiteren Beteiligten mit einer hohen Zahl von Fortbildungsveranstaltungen, aber einem nahezu völligem Defizit an fachbezogener beruflicher Praxis den Vorzug geben möchte.

Schlick Streck Kessal-Wulf Doye Ebner Vorinstanz:

OLG Frankfurt/Main, Entscheidung vom 19.12.2005 - 2 Not 2/05 -






BGH:
Beschluss v. 24.07.2006
Az: NotZ 3/06


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