Bundespatentgericht:
Urteil vom 15. März 2005
Aktenzeichen: 4 Ni 29/04
(BPatG: Urteil v. 15.03.2005, Az.: 4 Ni 29/04)
Tenor
1. Das europäische Patent 0 705 582 wird mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig erklärt.
2. Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Beklagten.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120% des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
Die Beklagten sind eingetragene Inhaber des auch mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 0 705 582 (Streitpatent), das am 7. Oktober 1994 angemeldet worden ist. Das Streitpatent, das in der Verfahrenssprache Deutsch veröffentlicht ist und beim Deutschen Patent- und Markenamt unter der Nr. 594 09 575 geführt wird, betrifft eine Kniegelenkorthese und umfasst 9 Ansprüche. Patentanspruch 1 lautet wie folgt:
Kniegelenkorthese (2) mit Befestigungsmitteln (3, 4) für den Ober- und Unterschenkel, welche mittels zwei einen Drehpunkt (9) aufweisenden Drehelementen (5, 6) verbunden sind, wobei das eine Drehelement (5) beim Verschwenken der Orthese (1) einen bezüglich der Befestigungsmittel (3, 4) fixen Drehpunkt und das andere Drehelement (6) einen bezüglich der Befestigungsmittel (3, 4) sich verschiebenden Drehpunkt (9) aufweist, dadurch gekennzeichnet, dass das fixe Drehelement (5) auf der medialen Knieseite angeordnet ist.
Wegen der unmittelbar und mittelbar auf Patentanspruch 1 rückbezogenen Patentansprüche 2 bis 9 wird auf die Streitpatentschrift verwiesen, Die Klägerin behauptet, der Gegenstand des europäischen Patents sei weder neu noch beruhe er auf erfinderischer Tätigkeit. Zur Begründung beruft sie sich auf folgende Druckschriften:
- US 4 966 133 (D1)
- US 4 686 969 (D2)
- Scott F. Dye: "An Evolutionary Perspective of the Knee", veröffentlicht in "The Journal of Bone and Joint Surgery", Vol. 69-A, No. 7. September 1987, Seiten 976-983 (D3)
- Walker et. al. : "External Knee Joint Design Based on Normal Motion", veröffentlicht in "Journal of Rehabilitation Research and Development", Vol. 22, No.1, 1985, Seiten 9-22 (D4)
- US 4 256 097 (D5)
- WO 91/04721 A 1(D6)
- GB 1 534 434 (D7).
Die Klägerin beantragt, das europäische Patent 0 705 582 mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig zu erklären.
Die Beklagten beantragen, die Klage abzuweisen.
Sie treten dem Vortrag der Klägerin entgegen und halten das Streitpatent für patentfähig.
Gründe
Die zulässige Klage, mit der der in Art II § 6 Abs 1 Nr 1 IntPatÜG, Art 138 Abs 1 lit a iVm Art 54 Abs 1 und Art 56 EPÜ vorgesehene Nichtigkeitsgrund der mangelnden Patentfähigkeit geltend gemacht wird, ist begründet; denn der Gegenstand des Streitpatents beruht nicht auf erfinderischer Tätigkeit.
I.
1.) Das Streitpatent betrifft eine Kniegelenkorthese mit Befestigungsmitteln für den Ober- und Unterschenkel, die durch zwei Drehelemente verbunden sind.
Bei Verletzungen insbesondere des Bandapparates des Kniegelenks wird üblicherweise eine Knieführungsorthese verordnet. Diese soll eine möglichst physiologische Bewegungsführung des Kniegelenks übernehmen, wobei unnötige und unnatürliche Krafteinwirkungen auf das Gelenk bzw den Bandapparat vermieden, und gleichzeitig eine stetige Bewegung des Kniegelenks ermöglicht werden sollen. Nach der Patentbeschreibung liegt ein Problem beim Erfüllen dieser Anforderungen darin, dass die Beugung des Kniegelenks nicht eine einfache Scharnierbewegung, sondern ein komplexer Bewegungsablauf mit bezüglich der Ober- und Unterschenkel ständig verändernder Drehachse ist.
2.) Ziel der Erfindung ist, eine Kniegelenkorthese zu finden, die dem Bewegungsablauf des natürlichen Kniegelenks in verbessertem Maße folgen kann und insbesondere eine zusätzliche Krafteinwirkung auf das Gelenk und damit auf den Bandapparat beim Beugen und Strecken verhindert.
3.) Patentanspruch 1 beschreibt demgemäss eine Kniegelenkorthese mit folgenden Merkmalen:
1. Kniegelenkorthese (2) mit Befestigungsmitteln (3, 4) für den Ober- und Unterschenkel, 2. die Befestigungsmittel sind mittels zwei einen Drehpunkt (9) aufweisenden Drehelementen (5, 6) verbunden, 3. wobei das eine Drehelement (5) beim Verschwenken der Orthese (1) einen bezüglich der Befestigungsmittel (3, 4) fixen Drehpunkt aufweist 4. und das andere Drehelement (6) einen bezüglich der Befestigungsmittel (3, 4) sich verschiebenden Drehpunkt (9) aufweist, dadurch gekennzeichnet, dass 5. das fixe Drehelement (5) auf der medialen Knieseite angeordnet ist.
II.
1.) Der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 des Streitpatents ist neu, denn keine der im Verfahren befindlichen Druckschriften weist eine Kniegelenkorthese auf, bei der das fixe Drehelement auf der medialen Knieseite angeordnet ist.
Das gilt, entgegen der Auffassung der Klägerin, insbesondere auch gegenüber dem Gegenstand der Druckschrift D1. Aus dieser ist eine Kniegelenkorthese mit Befestigungsmitteln (Oberschenkelmanschette 20, Unterschenkelmanschette 40) für den Ober- und Unterschenkel (vergl. z.B. Figuren 2, 3 und Beschreibung Spalte 2, Zeile 62 bis Spalte 3, Zeile 10) bekannt.
Bei diesem Gegenstand weist das auf der medialen Seite angeordnete Drehelement (drehbare Befestigung 33 in Figur 3) in Bezug auf die Befestigungsmittel (20 und 40 in Figur 3) für den Ober- und Unterschenkel keinen fixen Drehpunkt auf, wie das gemäß Merkmal 3. von Anspruch 1 gefordert ist. Bei der bekannten Orthese kann sich der vordere Riemen (anterior strap 130), der die mediale Platte 120, die die drehbare Befestigung 33 trägt, mit der Unterschenkelmanschette 40 verbindet, auf Grund seiner gewollten Elastizität dehnen und zusammenziehen. Auf diese Weise erlaubt er eine begrenzte Trennung der medialen Platte 120 und der Unterschenkelmanschette 40 während der Kniebeugung, wie in Spalte 6, Zeilen 19 bis 22 beschrieben ist. Damit kann hier nicht von einem fixen Drehpunkt der Befestigung 33 in Bezug auf die Manschette 40, also auf das Befestigungsmittel des Unterschenkels, gesprochen werden.
2.) Der Gegenstand des Anspruchs 1 beruht jedoch auf keiner erfinderischen Tätigkeit.
Aus der Druckschrift D2 ist eine Kniegelenkorthese mit Befestigungsmitteln (untere Manschette 11, obere Manschette 12 in Figur 1 von D2) für den Ober- und Unterschenkel (Merkmal 1. des Anspruchs 1) bekannt. Diese Befestigungsmittel sind mittels zwei je einen Drehpunkt (27 in Figur 1) aufweisenden Drehelementen (Gelenk 13 und Gelenk 14 in Figur 1) verbunden (Merkmal 2. des Anspruchs 1). Die beiden Drehelemente haben in der bekannten Ausbildung beim Verschwenken der Orthese bezüglich der Befestigungsmittel 11,12 je einen fixen Drehpunkt (27 in Figur 1) (teilweise Merkmal 3. des Anspruchs 1), da die Gelenke über sog. obere Verlängerungsträger 28 mit der oberen Manschette 12 und über sog. untere Verlängerungsträger 24 mit der unteren Manschette 15 verbunden sind (Figur 2, Spalte 3, Zeilen 14 bis 18), ohne irgendwelche elastische Zwischenelemente. Somit ist bei dieser Ausgestaltung in Übereinstimmung mit Merkmal 5. ein fixes Drehelement vorhanden, das auf der medialen Knieseite angeordnet ist.
Von diesem Stand der Technik unterscheidet sich der Gegenstand des Anspruchs 1 dadurch, dass das andere, auf der lateralen Knieseite angeordnete Drehelement, einen bezüglich der Befestigungsmittel sich verschiebenden Drehpunkt aufweist (Merkmal 4.).
Dieser Unterschied vermag indes nicht die erfinderische Tätigkeit des Gegenstands des Anspruchs 1 zu begründen. Der Fachmann, das ist hier der mit der Entwicklung von Orthesen für den menschlichen Körper befasste Maschinenbauingenieur, der mit einem Arzt der Orthopädie zusammenarbeitet, erhält aus dem nachgewiesenen Stand der Technik die entscheidenden Anregungen, die ihn zum Gegenstand des Anspruchs 1 hinführen, so zum Beispiel aus der Druckschrift D3. Diese befasst sich im Rahmen wissenschaftlicher Untersuchungen mit den Bewegungsabläufen bei Kniegelenken in der Tierwelt und beim Menschen. Auf Seite 983 im letzten Absatz der rechten Spalte wird die Schlussfolgerung gezogen, dass es ein unterschiedliches Abrollverhalten des Femurs auf der Tibia gibt, das auf der lateralen Seite größer als auf der medialen Seite ist. Dies sei auch charakteristisch für das menschliche Knie, trotzdem berücksichtige kein gegenwärtiges Orthesensystem diese Erkenntnis. Orthesen, die medial und lateral das gleiche Gelenkdesign haben, seien nicht in der Lage, die komplexe Bewegung des menschlichen Kniegelenks nachzuvollziehen. Zukünftige Verbesserungen im Design von Knieorthesen sollten unterschiedliche mediale und laterale Gelenke beinhalten, um die normale, asymmetrische, physiologische Bewegung des Kniegelenks zu erlauben, ohne unnötigen Stress auf die Kniebänder auszuüben. Wenn nun an den Fachmann diese Erkenntnis herangetragen wird, so entnimmt er daraus die Anregung, dass bei einer Kniegelenkorthese, wie zum Beispiel der nach D2, die beiden Gelenke nicht identisch ausgebildet werden dürfen, sondern dass sie dem unterschiedlichen Abrollverhalten Rechnung tragen müssen. Da die laterale Seite, wie in D3 ausgeführt, die größere Abrollstrecke im Vergleich zur medialen Seite aufweist, wird er in erster Linie dieses laterale Gelenk entsprechend verändern, das heißt, zum Beispiel einen sich verschiebenden Drehpunkt wählen. Damit ist der Fachmann ohne erfinderisches Zutun zum Merkmal 4. gelangt. Das Merkmal 5. ergibt sich automatisch, wenn vom Stand der Technik nach D2 ausgegangen wird, wie vorstehend schon ausgeführt worden ist. Dieses Vorgehen bedeutet für den Fachmann auch insbesondere deshalb keine Schwierigkeiten, da er Drehelemente in Verbindung mit Kniegelenkorthesen kennt, die solche verschiebende Drehpunkte aufweisen.
Schon in D3, zum Beispiel Figur 7 und der dazugehörigen Beschreibung auf Seite 979 rechte Spalte, zweiter Absatz, ist skizzenhaft darauf verwiesen. In D6 ist ein solcher Mechanismus ausführlich beschrieben und dargestellt. Dabei ist besonders herausgehoben, dass die beschriebene Ausgestaltung die tatsächliche Roll-Gleit-Bewegung sehr gut nachbildet und somit das Knie wirksam entlastet (Seite 1, letzter Absatz).
Wenn die Beklagten hier einwenden, der Fachmann hätte angesichts der Veröffentlichung nach D3 Drehelemente eingesetzt, die auf beiden Seiten, also medial und lateral, einen verschiebenden Drehpunkt aufweisen, so kann dem nicht gefolgt werden. Aus D3, Seite 983 rechte Spalte, weiß der Fachmann, dass das Abrollverhalten des Femurs auf der Tibia unterschiedlich ist und zwar auf der lateralen Seite stärker ist. Aus D4, Seite 15, Figur 5, kennt er genaue Abmessungen und entnimmt dabei, dass die medialseitigen Verschiebungen sich zwischen 1,2 und 2,2 Millimeter bewegen, also sehr kleine Strecken im Vergleich zu den lateralen Strecken, die zwischen 4,3 und 17,0 Millimeter liegen, darstellen. Um seine Orthese nicht konstruktiv zu aufwändig gestalten zu müssen, wird er daher in jedem Fall zunächst das fixe, aus D2 bekannte Drehelement auf der medialen Seite beibehalten und damit gegebenenfalls einige Versuche durchführen. Dabei wird er zwangsläufig feststellen, dass die Orthese voll funktionsfähig ist und es keiner komplizierteren Ausbildung des medialen Drehelements bedarf.
Im Übrigen ist der Senat der Auffassung, dass der Fachmann auch ausgehend vom Gegenstand der Druckschrift D1 in Verbindung mit seinem vorauszusetzenden Fachwissen aus der Praxis heraus in nicht erfinderischer Weise zum Gegenstand des Anspruchs 1 gelangt. Der Gegenstand der Druckschrift D1 betrifft unbestritten eine Kniegelenkorthese, die auf der lateralen Seite ein polyzentrisches Drehelement (60 in den Figuren 1 und 2), also einen sich verschiebenden Drehpunkt aufweist (vgl. z.B. abstract). Auf der medialen Seite ist der Drehpunkt (33 in Figur 2) lediglich fix in Bezug auf die Befestigungsmittel (obere Manschette 20) für den Oberschenkel, nicht jedoch in Bezug auf die Befestigungsmittel (untere Manschette 40) für den Unterschenkel. Dies liegt an dem elastischen, dehnbaren Riemen 130, der die mediale Platte 120 in Figur 2 oder 3 mit der Unterschenkelmanschette 40 verbindet, wie vorstehend zur Neuheit bereits ausgeführt worden ist. Wenn nun der Fachmann beim Einsatz dieser bekannten Orthese feststellt oder wenn z.B. seitens des Arztes an ihn herangetragen wird, dass die bekannte Orthese auf Grund der möglichen Bewegung zwischen Oberschenkelmanschette 20 und Unterschenkelmanschette 40 auf der medialen Seite (vgl. Spalte 6, Zeilen 19 bis 22) keine ausreichende Stabilität und keine unmittelbare Führung für das gesamte Kniegelenk bietet, was für bestimmte Anwendungen aber zwingend notwendig ist, wie auch die Beklagten eingeräumt haben, so kann der Fachmann hier ohne weiteres Abhilfe schaffen. Er braucht nur das Element, das die geschilderte unerwünschte Bewegung zulässt, zu versteifen. Diese Maßnahme führt bereits zu einer Kniegelenkorthese mit sämtlichen Merkmalen des Anspruchs 1.
3.) Die auf Anspruch 1 rückbezogenen und ebenfalls angegriffenen Unteransprüche 2 bis 9 vermögen nicht, insbesondere auch nicht die von den Beklagten besonders herausgegriffenen Ansprüche 3, 5 und 6, zur Stützung der erfinderischen Tätigkeit herangezogen zu werden, da sich deren Gegenstände entweder in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergeben oder lediglich auf fachmännischem Handeln beruhen.
Der Gegenstand des Anspruchs 2 ist dem Fachmann aus D5, Spalte 3, Zeilen 1 bis 3 und 15 bis 18 nahegelegt, denn daraus ist ein Kugelgelenk zum Einsatz bei Orthesengelenken bekannt.
Beim Gegenstand des Anspruchs 3 handelt es sich um einen Verschiebebereich, der schon durch das natürliche menschliche Knie vorgegeben ist, so dass eine solche Nachbildung nicht erfinderisch ist. Im Übrigen ist der Druckschrift D4, Seite 15, Figur 5 dieses Verhalten entnehmbar.
Die beim Gegenstand des Anspruchs 4 genannten überschlagenen Vierergelenke sind in Verbindung mit Orthesen im Stand der Technik bekannt, vgl. z.B. Druckschrift D6, Vierergelenkketten 21 in Figur 1.
Die Maßnahmen nach den Gegenständen der Ansprüche 5 und 6 liegen im Bereich des handwerklichen Könnens des Fachmanns und ergeben sich schon daraus, dass es erforderlich ist, Orthesen an Patienten verschiedener Körpergrößen und damit an verschiedene Größen der Gliedmaßen anpassen zu müssen.
Somit kann in der beanspruchten, aufgabenhaften Feststellung, dass Gelenkstangen und Lagen von Drehelementen einstellbar sind, nichts Erfinderisches gesehen werden, zumal keinerlei konkrete technische Realisierungsmöglichkeiten angegeben oder erkennbar sind.
Die im Anspruch 7 genannten Anschlagmittel sind auch beim Stand der Technik, zum Beispiel nach D1 vorgesehen. Man vergleiche Figur 4 und dort die Position 71, 72 (Flansche an den Armen 61, 62) und den Anschlag (Block 161), sowie die Beschreibung Spalte 5, Zeilen 30 bis 34.
Die in den Ansprüchen 8 und 9 genannte Schalenbauweise ist in der Orthesentechnik Gang und Gäbe. Auch der Stand der Technik zeigt solche Formen, zum Beispiel D1, Figur 5, Position 20 und 40.
4.) Die Kostenentscheidung folgt aus § 84 Abs 2 PatG iVm § 91 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 99 Abs 1 PatG iVm § 709 ZPO.
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BPatG:
Urteil v. 15.03.2005
Az: 4 Ni 29/04
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