Oberlandesgericht München:
Urteil vom 25. Oktober 2012
Aktenzeichen: 23 U 2047/12
(OLG München: Urteil v. 25.10.2012, Az.: 23 U 2047/12)
Rechtliches Gehör im Rechtsstreit zwischen einem gekündigten Versicherungsvertreter und einer Versicherungsgesellschaft: Abgrenzung zwischen Beweisangebot und Ausforschungsbeweis; verfahrensfehlerhafte Ablehnung eines Zeugenbeweises
Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Endurteil des Landgerichts München I vom 12.04.2012, Az. 3 O 20270/10, samt dem ihm zugrundeliegenden Verfahren aufgehoben.
II. Der Rechtsstreit wird zur weiteren Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Berufungsverfahrens, an das Landgericht München I zurückverwiesen.
III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Das Urteil wird gemäß § 540 Abs. 1 ZPO begründet wie folgt.
I.
Das Landgericht, auf dessen tatsächliche Feststellungen nach § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO Bezug genommen wird, hat der Klage in Höhe von 10.372,58 Euro nebst Zinsen stattgegeben und im Übrigen die Klage ebenso wie die Widerklage abgewiesen.
Dagegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Berufung. Die Beklagte rügt insbesondere, das Landgericht habe zu Unrecht die seitens der Beklagten zum Beweis für Wettbewerbsverstöße des Klägers angebotenen Zeugen und auch die Zeugin L. nicht vernommen.
Die Beklagte verfolgt ihre erstinstanzlichen Anträge in vollem Umfang weiter und hat zudem Zurückverweisung des Verfahrens an das Landgericht beantragt.
Der Kläger beantragt Zurückweisung der Berufung und hat Anschlussberufung eingelegt.
Er behauptet, die ihm zustehende Freistellungsentschädigung sei höher als vom Landgericht angenommen und beantragt daher, die Beklagte zu verurteilen, über den in Ziff. 1 des Endurteils des Landgerichts München I, Az. 3 O 20270/10 ausgeurteilten Betrag hinaus weitere 8.432,48 Euro nebst Zinsen in Höhe von 8 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit 16.06.2010 an den Kläger zu bezahlen.
Die Beklagte beantragt Zurückweisung der Anschlussberufung.
Ergänzend wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.
II.
Auf die zulässige Berufung der Beklagten war das erstinstanzliche Urteil samt des zugrundeliegenden Verfahrens nach § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO aufzuheben und an das Landgericht zurückzuverweisen.
1. Das erstinstanzliche Verfahren leidet an einem wesentlichen Mangel, aufgrund dessen eine umfangreiche Beweisaufnahme erforderlich ist:
1.1. Die Beklagte ist in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, da das Landgericht die von der Beklagten zum Beweis eines Wettbewerbsverstoßes als Zeugen angebotenen 167 Versicherungsnehmer zu Unrecht nicht vernommen hat (zur Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG bei unzulässiger Ablehnung eines Beweisantrags vgl. BGH, Beschluss vom 22.08.2012, VII ZR 2/11, zitiert nach Juris Tz. 14):
1.1.1. Das Landgericht geht davon aus, der Anspruch des Klägers auf Freistellungsentschädigung bestehe, da die beweisbelastete Beklagte eine Abwerbetätigkeit des Klägers nicht nachgewiesen habe (Urteil S. 9 oben). Eine Einvernahme der von der Beklagten angebotenen 167 Versicherungsnehmer als Zeugen wäre eine bloße Ausforschung, es handle sich lediglich um Behauptungen der Beklagten ins Blaue hinein (Urteil S. 10, vorletzter Absatz und Urteil S. 12, letzter Absatz).
13Dieser Ansicht vermag der Senat nicht zu folgen: Ein ausreichendes Beweisangebot liegt vor, wenn eine Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das geltend gemachte Recht zu begründen; unerheblich ist, ob die Darstellung der Partei wahrscheinlich ist (BGH NJW-RR 2012, S. 728, 729). Der Beweisführer ist grundsätzlich nicht gehindert, Tatsachen zu behaupten, über die er keine genaue Kenntnis hat, die er aber nach Lage der Dinge für wahrscheinlich hält. Ein unzulässiger Ausforschungsbeweis liegt erst vor, wenn der Beweisführer ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich Behauptungen "aufs Geratewohl" oder "ins Blaue hinein" aufstellt (BGH, Urteil vom 8.05.2012, XI ZR 262/10, zitiert nach Juris Tz. 40 m.w.N; BGH NJW 2002, S. 1419, 1421). Bei der Annahme von Willkür in diesem Sinne ist jedoch Zurückhaltung geboten. In der Regel wird sie nur bei Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte zu bejahen sein (BGH, Urteil vom 8.05.2012, XI ZR 262/10, zitiert nach Juris Tz. 40 m.w.N).
14Nach diesen Grundsätzen lag kein Ausforschungsbeweis vor: Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass die 167 als Zeugen angebotenen Versicherungsnehmer aus dem Bestand des Klägers oder von Frau L. stammten, spätestens zum 01.01.2010 ihre KfZ-Versicherungen kündigten und zur V. bzw. E. Versicherungsgruppe wechselten. Zudem ist der Kläger seit Beendigung des Vertragsverhältnisses mit der Beklagten für die E. tätig und hat unstreitig in drei Fällen noch während der Freistellung Kündigungsschreiben von Versicherungsnehmern an die Beklagte weitergeleitet. Damit gab es schon in erster Instanz hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine Abwerbetätigkeit des Klägers. Weder war die Beklagte verpflichtet, zuvor die Versicherungsnehmer selbst zu befragen noch musste die Beklagte zuvor darlegen, welche der Versicherungsnehmer zum Bestand des Klägers und welche zum Bestand von Frau L. gehörten. Ohnehin durfte der Kläger auch Versicherungsnehmer aus dem Bestand von Frau L. nicht abwerben.
Allein die ebenfalls bestehende Möglichkeit, dass die Abwerbungen nicht vom Kläger, sondern von Frau L. selbst erfolgten, macht den Beweisantrag der Beklagten nicht zu einer Behauptung ins Blaue hinein.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem vom Kläger behaupteten Unfall samt anschließender Reha und Gehbehinderung. Dass infolge dessen eine Abwerbetätigkeit des Klägers etwa mittels Telefon, Telefax oder E-Mail völlig ausgeschlossen wäre, ist nicht ersichtlich - zumal der Kläger beispielsweise die Kündigung des Zeugen W. (vorgelegt als Anlage B 2) im Dezember 2009 an die Beklagte weiterleiten konnte.
1.1.2. Der Verfahrensfehler ist auch wesentlich i.S. des § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO. Das Landgericht spricht die Freistellungsentschädigung zu, da die Beklagte den Wettbewerbsverstoß nicht nachgewiesen habe (S. 9 oben des Urteils). Mit derselben Begründung weist das Landgericht die Widerklage ab (Urteil S. 12 letzter Absatz).
Entscheidungsreife liegt derzeit nicht vor, da sowohl für die Freistellungsentschädigung als auch für den widerklagend geltend gemachten Schadensersatzanspruch das Vorliegen eines Wettbewerbsverstoßes streitentscheidend ist.
1.2. Des Weiteren ist der Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, da das Landgericht die Zeugin L. nicht vernommen hat. Die Beklagte hat die Zeugin L. zum Beweis dafür angeboten, dass sie keine Abwerbungen vorgenommen hat. Da das Landgericht ausführt, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass auch etwaige Abwerbemaßnahmen durch Frau L. zu dem von der Beklagten monierten Wechseln führte (Urteil S. 11, 4. Absatz), hätte es - um diese Möglichkeit auszuschließen - dem Beweisangebot der Beklagten nachgehen müssen.
Auch dieser Verfahrensfehler ist wesentlich. Hätte sich im Wege der Beweisaufnahme geklärt, dass die Zeugin L. keine Abwerbemaßnahmen vorgenommen hatte, wäre die Wahrscheinlichkeit für Abwerbemaßnahmen des Klägers höher und damit auch ausgehend von der Einschätzung des Landgerichts das Beweisangebot des Klägers kein Ausforschungsbeweis mehr.
1.3. Infolge der vorstehend aufgeführten Verfahrensmängel ist eine umfangreiche Beweisaufnahme, die Einvernahme von 168 Zeugen, erforderlich.
Der Senat verkennt nicht, dass die Vernehmung einer solchen Zahl von Zeugen im Zivilprozess ganz erhebliche Probleme verursacht. Dieser Gesichtspunkt allein kann aber nicht dazu führen, gänzlich von einer Beweisaufnahme abzusehen, zumal gegebenenfalls eine Vereinfachung durch eine schriftliche Befragung nach § 377 Abs. 3 ZPO in Betracht kommt.
2. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:
2.1. Nach § 11 Ziff. 1 des Vertrages vom 25.05./30.07.2001 (Anlage B 1) hat der Vertreter im Fall der Freistellung einen Anspruch auf die tatsächlich anfallenden Folgeprovisionen und eine monatliche Zahlung für entgangenes Vermittlungsentgelt. Nur die monatliche Zahlung für entgangenes Vermittlungsentgelt errechnet sich nach dem monatlichen Durchschnitt der in den letzten 12 Monaten vor der Freistellung verdienten erstjährigen Provisionen.
Damit steht weder die von der Beklagten vorgenommene Berechnung (insgesamt nach dem Durchschnitt der letzten 12 Monate), noch die vom Kläger geforderte gesonderte Berechnung für Januar 2010 in Einklang.
2.2. Zutreffend verweist der Kläger darauf, dass eine außerordentliche Kündigung nach § 89 a HGB nicht zeitlich unbefristet möglich ist (vgl. BGH NJW-RR 1999, S. 1481, 1484; BGH NJW 2011, S. 3361, 3362). Die Beweislast dafür, dass die außerordentliche Kündigung vom 10.03.2010 (Anlage K 6) rechtzeitig ausgesprochen wurde, trägt die Beklagte als Kündigende (vgl. Löwisch in: Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 2. Auflage 2008, § 89 a Rz. 81). Wann die Beklagte Kenntnis vom Kündigungsgrund hatte, wurde von ihr bislang nicht hinreichend klar dargetan.
2.3. Sofern und soweit ein Wettbewerbsverstoß des Klägers nachgewiesen wird, ist zu prüfen, ob der Anspruch auf die Freistellungsentschädigung nach § 326 Abs. 1 BGB erloschen ist.
Eine Karenzentschädigung nach § 90 a HGB entfällt für die Dauer des Wettbewerbsverstoßes (BGH, Urteil vom 9.05.1974, VII ZR 34/72, zitiert nach Juris Tz. 24; BAG, NJW 1964, S. 1641 ff, 1643; Thume in: Röhricht/Graf von Westphalen, 3. Auflage 2008, § 90 a Rz. 25; Hopt in: Baumbach/Hopt, 35. Auflage 2012, § 90 a Rz. 21). Sieht man in der einvernehmlichen Freistellung des Versicherungsvertreters letztlich nichts anderes als ein vorgezogenes Wettbewerbsverbot nach § 90 a HGB (so wohl BGH NJW 1995, S. 1552, 1553; Thume, a.a.O., § 89 Rz. 22; Löwisch, a.a.O., § 89 Rz. 31) könnte für die Dauer eines Verstoßes auch der Anspruch auf Freistellungsentschädigung nach § 326 Abs. 1 BGB erlöschen.
2.4. Selbst wenn Wettbewerbsverstöße des Klägers nachgewiesen werden, dürfte der geltend gemachte Anspruch des Klägers auf Rückerstattung der AMAIS - Gebühren bestehen:
2.4.1. § 326 Abs. 1 BGB ist nicht einschlägig. Die Rückerstattung ist keine Gegenleistung dafür, dass sich der Kläger des Wettbewerbs enthält.
2.4.2. Entgegen der Ansicht der Beklagten handelt es sich bei der eingeforderten Rückerstattung auch nicht um eine zeitanteilige Rückerstattung wegen Ausscheidens aus der Gesellschaft nach § 12 letzter Absatz der Vereinbarung vom 27.07.2006 (Anlage B 12), sondern um eine Rückerstattung nach § 12 drittletzter Absatz der Vereinbarung vom 27.7.2006 (Anlage B 12) i.V.m. dem Anschreiben vom 27.7.2006 (Anlage K 20). Dieser Rückerstattungsanspruch besteht unabhängig von einer etwaigen Beendigung des Vertrages und wird auch nicht durch eine außerordentliche Kündigung berührt. Dieser Ansicht war offensichtlich zunächst auch die Beklagte. Im Schreiben vom 14.4.2010 (Anlage K 8) hat die Beklagte nach Ausspruch der fristlosen Kündigung mitgeteilt, sie habe dem Kläger noch den Betrag von 2.592,00 Euro auf sein Agenturkonto gutgeschrieben.
Darüber hinaus dürfte die in § 12 letzter Absatz der Vereinbarung vom 27.7.2006 (Anlage B 12) geregelte Einschränkung einer Kontrolle nach § 307 BGB nicht standhalten. Die Rückerstattung ist nach dem Wortlaut der Klausel auch dann ausgeschlossen, wenn der Versicherungsvertreter aufgrund eines wichtigen, in der Person des Unternehmers liegenden Grundes außerordentlich kündigt.
2.5. Wenn ein Wettbewerbsverstoß des Klägers nachweisbar ist und der Anspruch auf Freistellungsentschädigung deshalb ganz oder teilweise entfällt (vgl. oben Ziff. 2.3), muss sich die Beklagte, auf ihren Schadensersatzanspruch die ersparte Freistellungsentschädigung anrechnen lassen (vgl. BGH, Urteil vom 9.05.1974, VII ZR 34/72, zitiert nach Juris Tz. 24; Thume, a.a.O., § 90 a Rz. 27).
Außerdem müsste die Beklagte um die Berechnung eines etwaigen Schadensersatzanspruches zu ermöglichen, noch vortragen, welcher der in Anlage B 3 aufgeführten Versicherungsverträge welchem konkreten Versicherungsnehmer der Anlage B 11 zuzuordnen ist.
2.6. Ein Unterlassungsanspruch der Beklagten könnte sich aus § 8 Abs. 1, § 3 Abs. 1, § 4 Nr. 11, § 17 Abs. 2 UWG, § 90 HGB ergeben. Ein Handelsvertreter darf die während der Vertragsdauer erworbenen Kenntnisse auch später unbeschränkt verwenden, wenn er keinem Wettbewerbsverbot unterliegt. Dies gilt aber nur für Informationen, die er im Gedächtnis bewahrt. Schriftliche Aufzeichnungen oder Kopien von Dateien, die Geschäftsgeheimnisse enthalten, darf der Handelsvertreter hingegen auch nach Vertragsbeendigung nicht verwenden (dazu ausführlich BGH NJW 2009, S. 1420 ff; BGH NJW-RR 2003, S. 833, BGH NJW 2006, S. 3424 ff Tz. 10 ff).
Der von der Beklagten bislang als Widerklage gestellte Antrag ist allerdings zu weit gefasst. Eine Verurteilung gemäß dem Antrag würde dem Kläger auch die Verwendung von Daten verbieten, die dem Kläger noch im Gedächtnis geblieben sind. Darauf hat die Beklagte keinen Anspruch.
3. Die Revision war nach § 543 Abs. 2 ZPO nicht zuzulassen. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung ohne grundsätzliche Bedeutung. Die entscheidungserheblichen Rechtsfragen sind höchstrichterlich geklärt.
OLG München:
Urteil v. 25.10.2012
Az: 23 U 2047/12
Link zum Urteil:
https://www.admody.com/urteilsdatenbank/23957056eddb/OLG-Muenchen_Urteil_vom_25-Oktober-2012_Az_23-U-2047-12