Sozialgericht Würzburg:
Beschluss vom 31. Mai 2011
Aktenzeichen: S 2 SF 71/10 E

(SG Würzburg: Beschluss v. 31.05.2011, Az.: S 2 SF 71/10 E)

Tenor

I. Auf die Erinnerung der Antragsgegnerin vom 04.08.2010 wirdder Kostenfestsetzungsbeschluss vom 29.07.2010 abgeändert.

II. Die nach dem Anerkenntnis vom 09.04.2010 von derAntragsgegnerin an den Antragsteller zu erstattendenaußergerichtlichen Kosten gemäß § 197 Abs. 1 SGG werden auf 226,10Euro festgesetzt.

III. Eine Verzinsung entfällt. Bei Eingang desVerzinsungsantrags am 27.09.2010 war der geschuldete Betrag von226,10 Euro bereits von der Antragsgegnerin an den Antragstellerbezahlt.

Gründe

I. Streitig ist, ob für das Antragsverfahren auf einstweiligen Rechtschutz (Az.: S 9 AS 288/10 ER) nach angenommenem Anerkenntnis eine fiktive Terminsgebühr angefallen ist.

Der Bevollmächtigte hat für den Antragsteller am 03.04.2010 beim Sozialgericht Würzburg einen Antrag auf einstweilige Anordnung gestellt und beantragt, die Antragsgegnerin zu verpflichten, für den Antragsteller die Umzugskosten zu übernehmen. Mit Schreiben vom 09.04.2010 erklärte sich die Antragsgegnerin bereit, die angemessenen Umzugskosten inklusive Personal und die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu übernehmen. Der Antragsteller nahm das Anerkenntnis an und erklärte den Rechtsstreit für erledigt. Mit Schriftsatz vom 09.04.2010 beantragte der Bevollmächtigte, die dem Antragsteller er-stattungsfähigen Kosten gemäß der nachstehenden Kostenberechnung festzusetzen.

Verfahrensgebühr Sozialrecht (1. Rechtszug) gem. § 3 RVG i.V.m. Nr. 3102 VV RVG170,00 EURTerminsgebühr Sozialrecht (1. Rechtszug) gem. § 3 RVG i. V. m. Nr. 3106 VV RVG200,00 EURAuslagenpauschale gem. Nr. 7002 VV RVG20,00 EURNettobetrag390,00 EUR19 % Umsatzsteuer gem. Nr. 7008 VV RVG74,10 EURGesamtbetrag464,10 EUR.Die Antragsgegnerin erkannte die Kosten mit Ausnahme der fiktiven Terminsgebühr zuzüglich Umsatzsteuer an. Eine Terminsgebühr gemäß Nr. 3106 VV-RVG sei nur in Verfahren anwendbar, in denen die mündliche Verhandlung der Regelfall sei. Sinn und Zweck der fiktiven Terminsgebühr sei es, eine unnötige mündliche Verhandlung zu vermeiden. Unerheblich sei daher, dass das Verfahren nach Anerkenntnis geendet habe. Da der Antragsteller an seinen Antrag auf Festsetzung der fiktiven Terminsgebühr unter Berufung auf die Entscheidungen des Bayerischen LSG vom 26.08.2009 und des Thüringer LSG vom 26.11.2008 festhielt, setzte die Urkundsbeamtin des Sozialgericht mit Kostenfestsetzungsbeschluss vom 29.07.2010 die von der Antragsgegnerin an den Antragsteller zu erstattenden außergerichtlichen Kosten auf 345,10 EUR fest. Diese Berechnung sieht wie folgt aus: Verfahrensgebühr §§ 3, 14 i.V.m. der Anlage 1 zu § 2 Abs. 2 RVG - VV Nr. 3102 170,00 EUR Terminsgebühr VV Nr. 3106 100,00 EUR Auslagenpauschale - VV Nr. 7002 20,00 EUR Nettobetrag 290,00 EUR 19 % Mehrwertsteuer - VV Nr. 7008 55,10 EUR Gesamtbetrag 345,10 EUR. Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin könne auch in einem einstweiligen Rechtschutzverfahren eine Terminsgebühr anfallen. Die Voraussetzungen aus VV 3106 Nr. 3 RVG (Verfahren vor dem Sozialgericht, in dem Betragsrahmengebühren entstehen, Beendigung des Verfahrens nach angenommenem Anerkenntnis und ohne mündliche Verhandlung) lägen vor. Da ein Termin nicht stattgefunden habe, sei bei der Bemessung der Höhe der Terminsgebühr auf den hypothetischen Aufwand abzustellen, der bei Durchführung eines Termins im konkreten Fall voraussichtlich entstanden wäre. Im Termin hätte es lediglich der Annahme des Anerkenntnisses bedurft. Der Aufwand sowohl zur Vorbereitung des Termins als auch am Tag des Termins wäre unterdurchschnittlich gewesen. Daher werde die fiktive Terminsgebühr auf 100,00 EUR festgesetzt. Dagegen hat die Antragsgegnerin Erinnerung eingelegt (Eingang am 12.08.2010). In der Rechtsprechung sei es strittig, ob im einstweiligen Verfahren eine fiktive Terminsgebühr entstehen könne, da keine mündliche Verhandlung vorgesehen sei, die durch Anerkenntnis vermieden werden könne. Unter Zugrundelegung folgender Rechtsprechung könne eine Terminsgebühr im einstweiligen Rechtschutzverfahren gar nicht entstehen: SG Reutlingen vom 12.09.2007, LSG Schleswig-Holstein vom 10.09.2009, SG Berlin vom 20.01.2010, LSG Nordrhein-Westfalen vom 28.05.2010 und 09.07.2010. Wenn das Gericht entgegen dieser Auffassung eine Terminsgebühr annehme, sei maximal ein Viertel der Mittelgebühr angemessen. Die Urkundsbeamtin hat der Erinnerung nicht abgeholfen und den Vorgang der erkennenden Kammer zur Entscheidung vorgelegt.

II. Die form- und fristgerecht eingelegte Erinnerung ist zulässig. Sie ist auch begründet. Ausgehend davon, dass die Tätigkeit des Bevollmächtigten des Antragstellers im Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes mit der Verfahrensgebühr abgegolten ist und keine besondere Tätigkeit erforderlich war, einen Termin zu vermeiden, ist nach Sinn und Zweck keine besondere "Tätigkeitsgebühr" angefallen. Die Kammer schließt sich der Auffassung an, dass die fiktive Terminsgebühr als zusätzliche Gebühr nach § 3106 Ziffer 3 VV€RVG nur in solchen Verfahren anfallen kann, in denen eine mündliche Verhandlung vorgeschrieben ist bzw. regelmäßig stattfindet. Gemäß § 124 Abs. 3 SGG können Entscheidungen des Gerichts, die nicht Urteile, sind ohne mündliche Verhandlung ergehen, soweit nichts anderes bestimmt ist. Nach § 86 b Abs. 4 SGG entscheidet das Gericht in Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes durch Beschluss. Nach Nr. 3106 VV-RVG entsteht eine Terminsgebühr in Verfahren vor den Sozialgerichten, in denen Betragsrahmengebühren entstehen (§ 3 RVG), wenn ein Termin stattfindet. Die Gebühr entsteht auch, wenn 1. in einem Verfahren, für das mündliche Verhandlung vorgeschrieben ist, im Einverständnis mit den Parteien ohne mündliche Verhandlung entschieden wird, 2. nach § 105 Abs. 1 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entschieden wird oder 3. das Verfahren nach angenommenem Anerkenntnis ohne mündliche Verhandlung endet. Die von den Beteiligten zitierte unterschiedliche Rechtsprechung zeigt, dass die zitierte Ziffer 3 der Nr. 3106 VV-RVG nicht eindeutig formuliert ist und damit auslegungsfähig ist. Entsprechend der Auslegungsvorschrift des § 133 BGB ist bei der Auslegung der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an den buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften. Die Vorschrift der Nr. 3106 Ziffer 3 VV RVG ist eine Willenserklärung des Gesetzgebers, die nicht eindeutig ist. Die Auslegung einer Willenserklärung ist Ermittlung ihres rechtlich maßgebenden Sinnes. Dabei ist zwischen dem Gegenstand und den Mitteln der Auslegung zu unterscheiden. Auslegungsgegenstand ist der konkrete Erklärungsakt, dessen rechtlicher Inhalt festgestellt werden soll. Mittel der Auslegung sind die außerhalb des Erklärungsaktes liegenden Umstände, die einen Schluss auf den Sinn der Erklärung damit auf ihren rechtlichen Inhalt zulassen (vgl. Palandt, Kommentar zum BGB, 65. Auflage, 2006, zu § 133 Rd.Nrn. 1 und 3). Die Geschäftsgebühr für das Widerspruchsverfahren (Nr. 2400, 2401) und die Verfahrensgebühr nach Nr. 3102, 3103 VV RVG sind Grundgebühren, die grundsätzlich in allen Verfahren anfallen. Sowohl die Erledigungs- und die Einigungsgebühr als auch die Terminsgebühr sind Erfolgsgebühren bzw. Tätigkeitsgebühren, die für zusätzliche Tätigkeiten des Rechtsanwaltes anfallen können. Die Terminsgebühr soll grundsätzlich dann anfallen, wenn der Rechtsanwalt einen Termin wahrnimmt. Da der Rechtsanwalt nach seiner Bestellung zum Verfahrens- bzw. Prozessbevollmächtigten in jeder Phase des Verfahrens zu einer möglichst frühen, der Sach- und Rechtslage entsprechenden Beendigung des Verfahrens beitragen soll, soll die Terminsgebühr auch schon dann verdient sein, wenn der Rechtsanwalt an auf die Erledigung des Verfahrens gerichteten Besprechungen ohne Beteiligung des Gerichts mitwirkt, insbesondere, wenn diese auf den Abschluss des Verfahrens durch eine gütliche Regelung zielen (vgl. Müller-Rabe in Gerold/Schmitt, Kommentar zum RVG, 19. Auflage, zu Vorbemerkung 3 VV Rd. Nr. 1). In seinen Entscheidungen zur Erledigungsgebühr ist das Bundessozialgericht in ständiger Rechtsprechung (vgl. BSG vom 0.5.05.2009 € B 13 R 137/08 R) der Auffassung, dass weitere Gebühren neben der Geschäftsgebühr bzw. Verfahrensgebühr nur bei qualifizierter anwaltlicher Mitwirkung entstehen können. So führt es in o. g. Entscheidung an, dass die Erledigungsgebühr nicht damit verdient wird, dass der Rechtsanwalt das vom Beklagten abgegebene Anerkenntnis nach Rücksprache mit seinem Mandanten angenommen hat. Zwar hat die Annahme des Anerkenntnisses gemäß § 101 Abs. 1 SGG verfahrensbeendende und damit den Rechtstreit erledigende Wirkung. Die Annahme des Anerkenntnisses ist aber, wie auch eine Klagerücknahmeerklärung oder eine Erledigterklärung, noch keine über die normale Prozessführung hinausgehende, qualifizierte Mitwirkung des Rechtsanwalts an der Erledigung. Die Abgabe einer solchen Prozesserklärung wird mit der Verfahrensgebühr abgegolten. Eine besondere Mühewaltung des Rechtsanwalts, die die Entstehung der zusätzlichen Gebühr rechtfertigen würde, ist nicht erkennbar. Wenn der Prozessgegner ein Anerkenntnis abgegeben und damit dem Kläger den vollen Klageerfolg zugestanden hat, wird ein Rechts-anwalt seinen Mandanten regelmäßig ohne Mühe zur Annahme des Anerkenntnisses bewegen können. Aus diesen Erwägungen heraus schließt sich die Kammer der Rechtsprechung der von der Antragsgegnerin genannten Gerichte an. Diese führen zu Recht aus, dass aus dem Sinn und Zweck der Regelung der Nr. 3106 Satz 2 Nr. 3 VV RVG sich eine Ausweitung des Anwendungsbereiches der Nr. 3106 Satz 2 Nr. 3 VV RVG auf Beschlussverfahren nach § 86 b SGG nicht ableiten lässt. Die Regelungen der Nr. 3106 Satz 2 VV RVG über den Anfall der sogenannten "fiktiven" Terminsgebühr dienen zur Entlastung der Gerichte, da vermieden werden soll, dass ein Rechtsanwalt aus Gebühreninteresse auf der Durchführung einer mündlichen Verhandlung besteht. Es soll die Bereitschaft eines Rechtsan-walts somit gefördert werden, durch sein prozessuales Verhalten dem Gericht die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu ersparen (so auch BGH vom 10.07.2006 € II ZB 28/05). Im einstweiligen Rechtschutzverfahren nach § 86 b SGG kann aber ein Rechtsanwalt eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch sein prozessuales Verhalten nicht verhindern, da die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht vorgeschrieben, sondern nur fakultativ ist. Das Gericht entscheidet nach Ermessen, ob in einem Verfahren nach § 86 b SGG eine mündliche Verhandlung anberaumt wird oder nicht. Des Weiteren soll ein Rechtsanwalt keinen Gebührennachteil dadurch erleiden, dass er das Verfahren im schriftlichen Verfahren so vorbereitet, dass eine Klärung der Sach- und Rechtslage im Rahmen einer mündlichen Verhandlung nicht mehr erforderlich ist. Ihm soll eine Vergütung für die besonders gründliche und umfassende schriftliche Vorarbeit zuge-billigt werden, die regelmäßig erwartet werden darf, wenn aufgrund einer Ausnahmevorschrift im Einzelfall ohne mündliche Verhandlung entschieden wird. Nach dem Willen des Gesetzgebers knüpft die Bestimmung der Nr. 3106 Satz 2 VV RVG bzw. der Nr. 3104 Abs. 1 VV RVG über den Anfall einer Terminsgebühr ohne Durchführung eines Termins im Sinne der Vorbemerkung 3 Abs. 3 VV RVG in gerichtskostenpflichtigen Verfahren an die Regelung des § 35 BRAGO an, wonach eine fiktive Verhandlungsgebühr bei entfallener, aber an sich vorgeschriebener Verhandlung entstehen konnte (Beschluss des Landesozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 09.07.2010 € L 19 B 395/09 AS). Die entgegenstehende Auffassung und der angegriffene Kostenfestsetzungsbeschluss, die sich u. a. auf eine Entscheidung des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26.08.2009 € L 15 B 950/06 AS KO beziehen, trägt den Kostenfestsetzungsbeschluss nicht. Denn das BayerLSG führt in obiger Entscheidung aus, dass durchaus eine fiktive Terminsgebühr entstehen könne, wenn intensive telefonische Bemühungen des Rechtsanwaltes mit dem Ziel der außergerichtlichen Erledigung des anhängigen Eilverfahrens geführt worden sind und fast erfolgreich gewesen wären. Damit wird aber nicht ausgesagt, dass der Rechtsanwalt in jedem Verfahren auf einstweiligen Rechtschutz Anspruch auf eine "fiktive" Terminsgebühr hat, wenn sich das Verfahren durch ein Anerkenntnis er-ledigt. Die Entscheidung ist endgültig (§ 197 Abs. 2 SGG).






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