Bundesverfassungsgericht:
Beschluss vom 6. Juli 2001
Aktenzeichen: 1 BvR 1063/00

(BVerfG: Beschluss v. 06.07.2001, Az.: 1 BvR 1063/00)

Tenor

1. Der Beschluss des Anwaltsgerichts für den Bezirk der Rechtsanwaltskammer Hamm/Westfalen vom 5. April 2000 - AR 14/99 - und der Rügebescheid der Rechtsanwaltskammer für den Oberlandesgerichtsbezirk Hamm vom 13. April 1999 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 6. September 1999 - A/II/416/99 - verletzen die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben.

Das Verfahren wird an das Anwaltsgericht für den Bezirk der Rechtsanwaltskammer Hamm/Westfalen zur Entscheidung über die Kosten zurückverwiesen.

2. Das Land Nordrhein-Westfalen hat den Beschwerdeführern die ihnen im Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.

3. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 20.000 DM (in Worten: zwanzigtausend Deutsche Mark) festgesetzt.

Gründe

I.

Die beschwerdeführenden Rechtsanwälte wenden sich gegen einen ihnen erteilten Rügebescheid wegen der Angabe von Dienstleistungen ihrer Kanzlei in einer Zeitungsanzeige.

1. Die Beschwerdeführer schalteten auf einer Sonderseite der in Dortmund erscheinenden Ruhrnachrichten mit der Überschrift "Die Steuerberater im Dortmunder Süden" eine Anzeige, die unter anderem folgende Angaben enthielt:

W...

Rechtsanwälte - Steuerberatung

Dr. W...

Fachanwalt für Steuerrecht

W...

Tätigkeitsschwerpunkt Verwaltungsrecht

W...

Tätigkeitsschwerpunkt Steuerrecht

- Lohn- und Gehaltsabrechnung

- laufende Finanzbuchhaltung

- Jahresabschlüsse

- Steuererklärungen

- Finanzgerichtsverfahren

Dies nahm die Rechtsanwaltskammer zum Anlass, den Beschwerdeführern eine Rüge wegen Verstoßes gegen § 7 der Berufsordnung für Rechtsanwälte vom 29. November 1996 (BRAK-Mitt 1996, S. 241 - im Folgenden: BORA) zu erteilen. Der hiergegen erhobene Einspruch sowie der Antrag auf anwaltsgerichtliche Entscheidung blieben erfolglos.

2. Mit ihrer fristgemäß erhobenen Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer vornehmlich die Verletzung ihres Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 GG. Es müsse ihnen - unabhängig von der Benennung von Interessen- und Tätigkeitsschwerpunkten - erlaubt sein, in einer Anzeige die ihnen wichtigen Tätigkeitsfelder zu beschreiben, für die sie auch kompetent seien.

3. Zu der Verfassungsbeschwerde haben der Bundesfinanzhof, die Bundesrechtsanwaltskammer, die Rechtsanwaltskammer für den Oberlandesgerichtsbezirk Hamm und der Deutsche AnwaltVerein Stellung genommen. Nach Auffassung der Bundesrechtsanwaltskammer und des Deutschen AnwaltVereins ist die Verfassungsbeschwerde begründet.

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93 c Abs. 1 BVerfGG sind gegeben. Die angegriffenen Hoheitsakte verletzen die Beschwerdeführer in ihrer Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG).

1. Die Verfassungsbeschwerde wirft keine Fragen von grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung auf. Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zum anwaltlichen Werberecht bereits entschieden (vgl. BVerfGE 57, 121; 76, 196; 82, 18). Den Rechtsanwälten muss für interessengerechte und sachangemessene Information, die keinen Irrtum erregt, im rechtlichen und geschäftlichen Verkehr Raum bleiben (vgl. nur BVerfGE 82, 18 <28>). Hieran hat sich auch nach der Bundesrechtsanwaltsordnung von 1994 und der Berufsordnung von 1996 nichts geändert (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats, NJW 2000, S. 1635 f.; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 25. April 2001 - 1 BvR 494/00 -, Umdruck S. 6).

2. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführer aus Art. 12 Abs. 1 GG angezeigt.

a) Auslegung und Anwendung von § 7 Abs. 1 BORA können vom Bundesverfassungsgericht - abgesehen von Verstößen gegen das Willkürverbot - nur darauf überprüft werden, ob sie Auslegungsfehler enthalten, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des betroffenen Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen. Das ist der Fall, wenn die von den Fachgerichten vorgenommene Auslegung der Normen die Tragweite des Grundrechts nicht hinreichend berücksichtigt oder im Ergebnis zu einer unverhältnismäßigen Beschränkung der grundrechtlichen Freiheit führt (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f., 96>; 85, 248 <257 f.>; 87, 287 <323>).

b) So liegt es hier. Der angegriffene Rügebescheid in der Fassung der Einspruchsentscheidung und die Entscheidung des Anwaltsgerichts werden dem Maßstab des Art. 12 Abs. 1 GG nicht gerecht. Die den angegriffenen Hoheitsakten zugrunde liegende Annahme, die Beschwerdeführer dürften in einer Zeitungsanzeige einzelne Dienstleistungen ihrer Kanzlei nicht angeben, beruht auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der Berufsfreiheit.

Nach §§ 6, 7 BORA dürfen Anwälte über ihre Dienstleistungen sachlich unterrichten. Sie dürfen Praxisbroschüren, Rundschreiben und andere vergleichbare Informationsmittel dafür einsetzen und über die bloße Angabe von Fachanwaltsbezeichnungen oder Tätigkeits- und Interessenschwerpunkten hinausgehen. Letztere sind im Einzelnen definiert und - bezogen auf den einzelnen Anwalt - zahlenmäßig zu begrenzen; sie betreffen jeweils "Teilbereiche der Berufstätigkeit". Die angegriffene Auslegung dieses Satzteils, die das Verbot auf sämtliche denkbaren Dienstleistungen ausweitet und zugleich der Kanzlei als wirtschaftlicher Einheit eine Gesamtdarstellung ihres Leistungsangebots verbietet, ist mit Sinn und Zweck von § 7 BORA nicht vereinbar. Sie berücksichtigt auch nicht ausreichend die in § 6 Abs. 1 BORA niedergelegte Informationsbefugnis über berufsbezogene Dienstleistungen. In ihrer Einengung trägt sie insgesamt der wertsetzenden Bedeutung von Art. 12 Abs. 1 GG nicht hinreichend Rechnung.

In nachvollziehbarer Weise hat die Bundesrechtsanwaltskammer ausgeführt, dass § 7 BORA von der Vorstellung getragen sein könnte, es gebe eine Qualifikationsleiter, die vom Interessenschwerpunkt über den Tätigkeitsschwerpunkt zur Fachanwaltsbezeichnung reicht (vgl. Römermann, in Hartung/Holl, Anwaltliche Berufsordnung, 1997, § 7 BerufsO Rn. 26; BGH, BRAK-Mitt 2001, S. 139 f.). Nach dieser Rechtsauffassung würde § 7 BORA nur für große Rechtsgebiete (vgl. § 59 b Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe a BRAO) gelten, für die auch Fachanwaltsbezeichnungen verliehen werden können. "Teilbereiche der Berufstätigkeit" wären demnach diese Rechtsgebiete sowie nennenswerte Teile von Rechtsgebieten. Damit vertrüge sich auch die Begrenzung auf insgesamt nur fünf Benennungen, davon höchstens drei Tätigkeitsschwerpunkte; so könnte sichergestellt werden, dass der Anwalt seine Spezialgebiete beherrscht (vgl. Römermann, a.a.O., § 7 Rn. 27).

Auch die Auslegung, die der Deutsche AnwaltVerein für die Informations- und Werbefreiheit der Rechtsanwälte, wie sie in § 6 Abs. 1 und 2 BORA verankert ist, gefunden hat, trägt der grundrechtlichen Verbürgung des Art. 12 Abs. 1 GG Rechnung, indem der Selbstdarstellung einer aus mehreren Anwälten bestehenden Kanzlei ausreichend Raum gegeben wird. Das für die Mandanten wesentliche Dienstleistungsprofil einer Personenmehrheit beruht auf den Kenntnissen und Fähigkeiten jedes einzelnen Kanzleimitglieds und setzt sich aus den Arbeitsschwerpunkten dieser Personen zusammen, die sich zur gemeinsamen Berufsausübung verbunden haben. Indem der Deutsche AnwaltVerein Hinweise auf die Leistungsfähigkeit der Kanzlei nicht von vornherein auf Praxisbroschüren und Rundschreiben verengt, sondern der Öffnungsklausel in der Norm, die auch "andere vergleichbare Informationsmittel" benennt, weiten Raum gibt, vermeidet er eine verfassungsrechtlich bedenkliche Verengung der den Rechtsanwälten gewährleisteten beruflichen Freiheit.

Welchem der beiden Auslegungswege der Vorzug zu geben ist, bedarf hier keiner Entscheidung. Jedenfalls handelt es sich bei den von den Beschwerdeführern in der Anzeige genannten Tätigkeiten "Lohn- und Gehaltsabrechnung, laufende Finanzbuchhaltung, Jahresabschlüsse, Steuererklärungen, Finanzgerichtsverfahren" um Dienstleistungen, die der Beschwerdeführer zu 1) - im Rahmen seiner Tätigkeit als Fachanwalt für Steuerrecht - und die Beschwerdeführerin zu 3) - im Rahmen ihres Tätigkeitsschwerpunktes Steuerrecht - erbringen. Es sind keine Bereiche anwaltlicher Tätigkeit, die über die Fachanwaltsbezeichnung oder den Tätigkeitsschwerpunkt hinausgingen. Es handelt sich vielmehr um konkrete Unterstützungsangebote, mit denen die Rechtsanwälte befugterweise zu anderen Berufsgruppen außerhalb der Anwaltschaft in Konkurrenz treten. Insofern kann es nicht dem Zweck von § 7 BORA entsprechen, das Verbot auch auf solche anwaltlichen Leistungen auszuweiten, die aufgrund der erlaubterweise genannten Fachanwaltsbezeichnung und des ausdrücklich vorgesehenen Tätigkeitsschwerpunkts innerhalb der hierdurch umschriebenen speziellen fachlichen Qualifikation konkret erbracht werden. Welche Schwerpunkte eine Anwaltskanzlei nach fachanwaltschaftlicher Spezialisierung tatsächlich setzt, darf als Information über die Dienstleistung im Sinne des § 6 Abs. 1 BORA benannt werden. Das gilt in besonderem Maße, wenn - wie hier - mehr als ein Kanzleimitglied für die genannten Aufgaben zur Verfügung steht und damit ein die Kanzlei charakterisierender Arbeitsschwerpunkt näher konkretisiert wird.

c) Es ist auch kein vernünftiger Gemeinwohlbelang ersichtlich, der es rechtfertigen könnte, Rechtsanwälten eine sachliche und berufsbezogene Unterrichtung über ihre konkreten Dienstleistungen (§ 6 Abs. 1 BORA) zu verbieten, soweit sie mit einer derartigen Ankündigung nicht Rechtsgebiete im Sinne von § 59 b Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe a BRAO benennen, in denen sie weder die Fachanwaltsbezeichnung erworben haben noch seit mindestens zwei Jahren nachhaltig tätig sind. Insoweit enthält § 7 BORA eine gemeinwohlbezogene Einschränkung der Werbemöglichkeiten, um einer Irreführung des rechtsuchenden Publikums vorzubeugen.

3. Der angegriffene Rüge- und Einspruchsbescheid und die Entscheidung des Anwaltsgerichts beruhen auf dem dargelegten Verstoß gegen Art. 12 Abs. 1 GG. Da den Beschwerdeführern keine wahrheitswidrige Aussage, sondern nur formale Verstöße gegen § 7 BORA vorgeworfen worden sind, bleibt bei verfassungskonformer Auslegung der Vorschrift kein Raum für eine Rüge.

4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34 a Abs. 2 BVerfGG, die Entscheidung über die Festsetzung des Gegenstandswerts aus § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO (vgl. dazu BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).






BVerfG:
Beschluss v. 06.07.2001
Az: 1 BvR 1063/00


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