Hessischer Verwaltungsgerichtshof:
Beschluss vom 5. November 1986
Aktenzeichen: 9 TE 2275/86

(Hessischer VGH: Beschluss v. 05.11.1986, Az.: 9 TE 2275/86)

Gründe

Die Antragstellerin hatte im Juni 1983 bei dem Antragsgegner beantragt, ihr Förderungsleistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) unabhängig vom Einkommen ihrer Eltern zu gewähren. Nachdem der Antragsgegner mit Bescheid vom 29. Februar 1984 die Förderungsansprüche der Antragstellerin für die Zeit. von Oktober 1983 bis September 1984 festgestellt und wiederum elterliches Einkommen angerechnet hatte, erhob die Antragstellerin hiergegen am 13. März 1984 Widerspruch, den der Antragsgegner durch Widerspruchsbescheid vom 19. Juni 1984 zurückwies.

Mit der am 12. Juli 1984 zum Verwaltungsgericht Frankfurt am Main erhobenen Klage verfolgte die Antragstellerin ihr Begehren auf Ausbildungsförderung ohne Anrechnung des elterlichen Einkommens weiter. Im Verlauf des Klageverfahrens gab der erkennende Senat einem Eilantrag der Antragstellerin durch Beschluß vom 8. November 1985 - 9 TG 2251/84 - statt. Daraufhin erkannte der Antragsgegner den mit der Klage geltend gemachten Anspruch an. Beide Beteiligte erklärten nunmehr den Rechtsstreit für erledigt.

Durch Beschluß vom 13. März 1986 stellte das Verwaltungsgericht daraufhin das Klageverfahren ein und verpflichtete den Antragsgegner zur Tragung der Kosten des Verfahrens.

Am 21. April 1986 beantragte die Antragstellerin bei dem Verwaltungsgericht Frankfurt am Main, die Zuziehung von Rechtsanwalt S./Frankfurt am Main im Vorverfahren gemäß § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO für notwendig zu erklären.

Sie trug vor, sie habe sich im Vorverfahren anwaltlichen Rat über die Erfolgsaussichten eines Verwaltungs- und Gerichtsverfahrens zur Geltendmachung eines Anspruchs auf Ausbildungsförderung ohne Anrechnung des elterlichen Einkommens und Vermögens geholt. Als Rechtsunkundige hätte sie ihre Rechte gegenüber der Verwaltungsbehörde nicht anders wahren können.

Der Antragsgegner hielt die Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes im Vorverfahren nicht für notwendig.

Durch Beschluß vom 25. Juli 1986 erklärte das Verwaltungsgericht Frankfurt die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig.

Gegen diesen dem Antragsgegner am 4. August 1986 zugestellten Beschluß richtet sich dessen am 12. August 1986 eingegangene Beschwerde.

Der Antragsgegner vertritt die Auffassung, aus den im Antragsverfahren eingereichten Schriftsätzen der Antragstellerin ergebe sich, daß sie durchaus in der Lage gewesen sei, ihre förderungsrechtlichen Interessen selbst wahrzunehmen.

II.

Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet.

Das Verwaltungsgericht hat dem Antrag der Antragstellerin, die Zuziehung eines Rechtsanwaltes für das Vorverfahren für notwendig zu erklären, zu Recht stattgegeben.

Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren durch den Widerspruchsführer ist notwendig im Sinne des § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO, wenn dieser bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände des Einzelfalles davon ausgehen durfte, daß er ohne den Beistand eines Rechtskundigen nicht in der Lage sein würde, die entscheidungserheblichen Gesichtspunkte vor der Widerspruchsbehörde zur Geltung zu bringen. Hiervon ist vor allem dann auszugehen, wenn der Sachverhalt insbesondere in rechtlicher Hinsicht nicht ohne weiteres zu beantwortende Fragen aufwirft und der Widerspruchsführer selbst nicht über hinlängliche Rechtskenntnisse verfügt (vgl. Beschluß des Hess. VGH vom 12. März 1985 - 4 TE 2645/84 - mit weiteren Rechtssprechungsnachweisen).

Im vorliegenden Fall erscheint es gerechtfertigt, daß die Antragstellerin im Widerspruchsverfahren einen Rechtsanwalt hinzugezogen hat. Der Anspruch der Antragstellerin auf Förderungsleistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz ohne Anrechnung des elterlichen Einkommens und Vermögens hing von der für einen juristischen Laien nicht ohne weiteres zu beantwortenden Frage ab, unter welchen Voraussetzungen Kinder von ihren Eltern die Übernahme der Kosten für eine Zweitausbildung verlangen können. Zur Beantwortung dieser Frage bedarf es der Kenntnis der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesverwaltungsgerichts, die von einem Rechtsunkundigen nicht erwartet werden kann. Unter den gegebenen Umständen war es sachgerecht und vernünftig, wenn die Antragstellerin sich zur Durchsetzung ihres Anspruchs auf elternunabhängige Förderungsleistungen eines mit der Rechtsprechung und einschlägigen Literatur vertrauten Rechtsanwalts bediente.

Allerdings ist hier Rechtsanwalt S. nur beratend für die Antragstellerin tätig geworden und nicht als Bevollmächtigter der Antragstellerin in Erscheinung getreten. Nach dem Wortlaut des § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO hat das Prozeßgericht nur über die Notwendigkeit von Gebühren für die Zuziehung eines Bevollmächtigten zu entscheiden. Jedoch ergibt sich aus dem Sinn und Zweck des § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO, daß diese Bestimmung entsprechend anwendbar ist, wenn die Tätigkeit des Rechtsanwalts sich im Vorverfahren nur auf eine Beratung erstreckt hat (so auch Redeker/von Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 7. Aufl., § 162 Anm. 13a; anderer Ansicht OVG Lüneburg, OVGE 28, 366 f.).

Die Kosten des verwaltungsgerichtlichen Vorverfahrens sind - soweit sie zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig waren - grundsätzlich nach § 162 Abs. 1 VwGO von dem Kostenschuldner zu tragen, ohne daß das Prozeßgericht dies besonders auszusprechen hat (vgl. Eyermann/Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, 8. Aufl., § 162 Anm. 12). § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO regelt von diesem Grundsatz eine Ausnahme. Danach soll die Entscheidung darüber, ob die Gebühren und Auslagen eines Bevollmächtigten, der im Vorverfahren tätig geworden ist, von dem Kostenschuldner übernommen werden müssen, von einer besonderen Entscheidung durch das Prozeßgericht abhängig sein. Schon im Hinblick darauf, daß die Gebühren für einen Rechtsanwalt, der im Vorverfahren nur beratend tätig war, je nach der Lage des Einzelfalles die gleiche Höhe haben können, wie die Gebühren für einen im Vorverfahren bevollmächtigten Rechtsanwalt (vgl. §§ 20 Abs. 1, 118 Abs. 1 Nr. 1 BRAGO), entspricht es dem Zweck des § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO, diese Bestimmung auch dann anzuwenden, wenn der erstattungsberechtigte Prozeßbeteiligte Kostenersatz für die Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts verlangt, den er nur mit seiner Beratung beauftragt hat.

Dementsprechend hat das Verwaltungsgericht die Zuziehung von Rechtsanwalt S./Frankfurt am Main im Vorverfahren zutreffend für notwendig erklärt. Da Rechtsanwalt S. nicht als Bevollmächtigter tätig geworden ist, war insoweit der Tenor des angefochtenen Beschlusses zu ändern.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2 VwGO.

Dieser Beschluß ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).






Hessischer VGH:
Beschluss v. 05.11.1986
Az: 9 TE 2275/86


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