Bundesgerichtshof:
Urteil vom 12. Juni 2012
Aktenzeichen: X ZR 73/09
(BGH: Urteil v. 12.06.2012, Az.: X ZR 73/09)
Tenor
Die Berufung gegen das am 27. Januar 2009 verkündete Urteil des 3. Senats (Nichtigkeitssenats) des Bundespatentgerichts wird auf Kosten der Klägerin zurückgewiesen.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Die Beklagte ist Inhaberin des europäischen Patents 0 430 402 (Streitpatent), das - unter Inanspruchnahme der Priorität zweier US-Patentanmeldungen vom 1. Dezember 1989 und 20. März 1990 - am 8. August 1990 angemeldet wurde. Das Streitpatent umfasst 4 Patentansprüche. Patentanspruch 1 hat in der englischen Verfahrenssprache folgenden Wortlaut: 1
"A method of staining targeted chromosomal material based upon nucleic acid sequence to detect in an interphase cell one or more genetic translocation identified with chromosomal abnormalities, the method being performed outside the human body and comprising the steps of:
(a) hybridizing in situ a heterogeneous mixture of two or more human genome nucleic acid probes, each having a complexity of from 50 KB to 10 MB, which probes contain nucleic acid sequences which are substantially complementary to nucleic acid sequences that flank and/or extend partially or fully across breakpoint regions known to be associated with genetic rearrangements, wherein each probe is labelled with a different colour fluorochrome, with the targeted chromosomal DNA; and
(b) observing the proximity or overlap of the regions stained by each probe thereby allowing detection of a translocation."
Die Patentansprüche 2 bis 4 sind unmittelbar oder mittelbar auf Patentanspruch 1 rückbezogen.
Die Klägerin hat geltend gemacht, dass der Gegenstand des Streitpatents unzulässig erweitert und nicht so deutlich und vollständig offenbart sei, dass ein Fachmann ihn ausführen könne. Zudem sei dieser gegenüber dem Stand der Technik nicht patentfähig.
Das Patentgericht hat die Klage abgewiesen. Dagegen wendet sich die Klägerin und beantragt, das Urteil des Patentgerichts abzuändern und das 2 Streitpatent für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig zu erklären.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen. Zudem verteidigt sie das Streitpatent mit drei Hilfsanträgen.
Als gerichtlicher Sachverständiger hat Prof. Dr. med. R. , Uni- versitätsklinikum D. , Institut für Humangenetik und Anthropologie, ein schriftliches Gutachten erstellt, das er in der mündlichen Verhandlung erläutert und ergänzt hat. Die Klägerin hat ein Gutachten von Prof. C. eingereicht und das Gutachten vorgelegt, das Prof. Dr. B. als ge- richtlicher Gutachter in dem parallel vor dem Oberlandesgericht D. ge- führten Patentverletzungsstreit erstattet hat. Die Beklagte hat ein Gutachten von Prof. Dr. T. eingereicht.
Gründe
Die Berufung ist zulässig, hat aber in der Sache keinen Erfolg.
I. Das Streitpatent betrifft ein Verfahren zum Färben von chromosomalem Zielmaterial.
Nach den Erläuterungen in der Streitpatentschrift werden Chromosomenanomalien mit genetischen Störungen, degenerativen Erkrankungen und der Einwirkung von Mitteln, von denen bekannt ist, dass sie degenerative Erkrankungen herbeiführen, in Verbindung gebracht. Chromosomenanomalien könnten neben zusätzlichen oder fehlenden einzelnen Chromosomen oder Teilen 5 davon u.a. auch Translokationen umfassen, worunter die Übertragung eines Stücks von einem auf ein anderes Chromosom verstanden werde (vgl. Streitpatent Rn. 3 = Übersetzung DE 690 32 920 T 4 Rn. 3).
Messungen der Häufigkeit von Chromosomen mit strukturellen Aberrationen würden häufig als quantitative Indikatoren hierdurch verursachter genetischer Schädigungen eingesetzt (Rn. 6). Solche Aberrationen könnten durch die Analyse von Karyotypen - worunter der spezielle Chromosomenbestand eines Individuums oder einer verwandten Gruppe von Individuen, definiert durch die Zahl und Morphologie der Chromosomen verstanden werde - untersucht werden. Die Karyotypen würden üblicherweise in der mitotischen Metaphase, also im Stadium der Zellteilung, durch Anfärben bestimmt, weil es bis vor kurzem infolge ihres dispersen Zustands und des Fehlens sichtbarer Grenzen zwischen ihnen im Zellkern nicht möglich gewesen sei, Interphasechromosomen sichtbar zu machen (Rn. 7). Dabei seien mehrere, auf chemischer Färbung beruhende zytologische Techniken entwickelt worden, welche als Banden bezeichnete Längsmuster auf Metaphasechromosomen erzeugten und üblicherweise die eindeutige Identifizierung des Chromosomentyps erlaubten (Rn. 8).
Die konventionelle Bandenanalyse sei jedoch arbeits- und zeitaufwändig und erfordere einen hochgeübten Analytiker, könne nur auf kondensierte Chromosomen angewendet werden und erlaube nicht den Nachweis struktureller Aberrationen, welche weniger als 3 bis 5 Megabasen (MB) umfassten (Rn. 9 f.).
Dem Streitpatent liegt danach das Problem zugrunde, ein im Vergleich zum Stand der Technik weniger aufwändiges Verfahren zur verlässlichen Detektion von Translokationen zur Verfügung zu stellen (Rn. 10). 10 Zur Lösung dieses Problems lehrt das Streitpatent ein - außerhalb des menschlichen Körpers durchgeführtes - Verfahren mit folgenden Bestandteilen [in eckigen Klammern die Gliederung des Patentgerichts]:
(1) Ein heterogenes Gemisch zweier oder mehrerer Nukleinsäuresonden des menschlichen Genoms wird bereitgestellt [Teil aus 3].
(2) Die Nukleinsäuresonden
(2.1) weisen jeweils eine Komplexität von 50 KB bis 10 MB auf [3.1],
(2.2) enthalten Nukleinsäuresequenzen [3.2], die im Wesentlichen komplementär zu Nukleinsäuresequenzen sind, welche die (bekannten) Bruchstellenregionen einer genetischen Umordnung flankieren oder sich ganz oder teilweise darüber erstrecken [3.2.1], und
(2.3) sind jeweils mit einem Fluorochrom unterschiedlicher Farbe markiert [3.3].
(3) Das Sondengemisch wird in situ mit der chromosomalen Ziel-Desoxyribonukleinsäure hybridisiert [Teil aus 3].
(4) In der Interphasenzelle [1.2] ist die Nachbarschaft oder die Überlappung der von der Sonde eingefärbten Regionen beobachtbar [4] und hierdurch der Nachweis einer eine chromosomale Anomalie kennzeichnenden ("identified with chromosomal abnormalities") Translokation möglich [1.1, 4.1].
Bei dem erfindungsgemäßen Verfahren werden demnach zur Identifizierung der Translokation Nukleinsäuresonden des menschlichen Genoms mit der chromosomalen Ziel-DNS in situ hybridisiert. Das bedeutet, dass - wie in der Streitpatentschrift erläutert wird - die doppelsträngigen Nukleinsäuresonden und 13 die - in ihrer natürlichen biologischen Umgebung, d.h. im Chromosom, verbleibenden - Zielnukleinsäuren zunächst durch Erhitzen aufgetrennt werden. Bei der darauf folgenden Abkühlung rekombinieren oder reassoziieren sich dann die Stränge, die komplementäre Basen aufweisen. Trägt die Sonde eine Markierung, kann nach der Reassoziation die Länge der Sonde auf dem Zielnukleinsäurestrang nachgewiesen werden (Rn. 14). Dies macht sich die Erfindung zunutze, um mittels der Fluorchrommarkierung die Translokation nachweisbar zu machen.
Die Nukleinsäuresonden sind weiterhin dadurch gekennzeichnet, dass sie jeweils eine Komplexität von 50 KB bis 10 MB aufweisen. Dabei ist aus Sicht des Fachmanns, bei dem es sich nach den unangegriffenen und durch die Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen bestätigten Feststellungen des Patentgerichts um einen wissenschaftlich arbeitenden Mediziner oder Biochemiker handelt, der über fundierte Kenntnisse und umfangreiche Erfahrungen auf dem Gebiet der Zytogenetik verfügt, den Begriff der "Komplexität" als Sequenzkomplexität zu verstehen. Dies ergibt sich aus dem Verweis in der Beschreibung des Streitpatents (Rn. 105 = Übersetzung Rn. 103) auf die Definition von Britten et al. in Methods in Enzymology 1974 (29), 363, (Anlage 1, dort S. 368: "For clarity, the phrase 'sequence complexity' is to be preferred over the often used word 'complexity'"). Er bezeichnet mithin einen eindeutigen und objektiven Tatbestand, nämlich die Gesamtlänge verschiedener (= nicht wiederkehrender bzw. nicht repetitiver) DNS-Sequenzen, gemessen in Nukleotidpaaren (= Basenpaaren) (Anlage 1, S. 368).
Entgegen der Ansicht des Patentgerichts wird der Fachmann jedoch nicht auf ein bestimmtes Messverfahren zur Bestimmung der Komplexität der zwei oder mehreren Nukleinsäuresonden des menschlichen Genoms festge-15 legt, aus denen das heterogene Gemisch erfindungsgemäß bestehen soll. Zwar ist es zutreffend, dass in der Beschreibung des Streitpatents darauf hingewiesen wird, dass Komplexität nach dem von Britten in dem vorgenannten Aufsatz aufgestellten Standard für die Nukleinsäure-Komplexität definiert ist (Rn. 105). Aus fachlicher Sicht folgt daraus jedoch nur, dass der erfindungsgemäße Begriff der Komplexität nach den Erläuterungen von Britten als Sequenzkomplexität im Sinne einer idealen Größe zu verstehen ist (vgl. Anlage 1, S. 368). Hingegen enthalten weder Patentanspruch 1 noch die Beschreibung einen Anhalt dafür, Komplexität im Zusammenhang mit der Erfindung weitergehend als kinetische Komplexität zu definieren. Kinetische Komplexität meint nach den Erläuterungen von Britten die Sequenz-Komplexität, wie sie sich aus den Ergebnissen der Messung der Reassoziationsrate einer DNS-Präparation berechnet, wobei - wie vom gerichtlichen Sachverständigen bestätigt - eine genaue Messung des Gehaltes von sich wiederholenden Sequenzen in einem definierten Genom mittels Reassoziationskinetik nicht möglich ist (Anlage 1, S. 368 ff.). Dass sich die kinetische Komplexität grundsätzlich von Messungen der Sequenzkomplexität nach anderen Verfahren unterscheidet, ist jedoch weder der Streitpatentschrift noch dem Aufsatz von Britten zu entnehmen. Vielmehr war dem Fachmann aufgrund seines allgemeinen Fachwissens als alternative Messmethode vor allem auch das Southern-Blot Verfahren bekannt, wie der gerichtliche Sachverständige in seinem Gutachten und in der Verhandlung überzeugend erläutert hat. Dem steht auch nicht entgegen, dass das Southern-Blot Verfahren in der Beschreibung des Streitpatents zwar erwähnt wird (vgl. Rn. 161 f., 211 = Übersetzung Rn. 162 f., 213), dass dies aber nicht in Zusammenhang mit der Definition des Begriffes der Komplexität steht (vgl. Rn. 105). Denn allein diese Nichterwähnung stellt aus fachlicher Sicht noch keinen Grund dar, nicht auch das aus dem allgemeinen Fachwissen bekannte Southern-Blot Verfahren als alternative Messmethode in Erwägung zu ziehen. Daraus folgt, dass es in das Belieben des Anwenders gestellt ist, nach welchem Messverfahren er feststellt, ob die in dem heterogenen Gemisch enthaltenen Nukleinsäuresonden über die erfindungsgemäß erforderliche Komplexität verfügen, vorausgesetzt, dass dieses zumindest über eine annähernd gleiche Messgenauigkeit wie die Reassoziationskinetik verfügt. Soweit es etwa um die Frage der Verletzung des Streitpatentes geht, kommen danach gegebenenfalls auch nach dem Prioritätszeitpunkt entwickelte Messverfahren in Betracht.
II. 1. Das Patentgericht hat angenommen, die Erfindung sei im Streitpatent so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann sie nacharbeiten könne. Entgegen der Auffassung der Klägerin habe es im Prioritätszeitpunkt nicht deswegen an einer zuverlässigen Messmethode zur Bestimmung der Komplexität gefehlt, weil die in der Patentschrift in Bezug genommene Methode nach Britten zu keinen hinreichend reproduzierbaren Ergebnissen führe. Dem Fachmann hätten zur Bestimmung der Komplexität seinerzeit mehrere Methoden zur Verfügung gestanden. Von diesen habe sich aber die Messung der Reassoziationskinetik nach Britten, bei der der Gehalt an repetitiven und nichtrepetitiven Elementen anhand des Verlaufes der Reassoziationskurve ermittelt werde, als übliche Methode etabliert. Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass diese Methode zur Bestimmung der Komplexität von Nukleinsäuresonden nicht geeignet sei, ergäben sich weder aus dem Vortrag der Klägerin noch aus den von ihr vorgelegten Vergleichsversuchen.
Die beiden von der Klägerin durchgeführten Vergleichsversuche seien nicht geeignet, deren Behauptung zu belegen, mit dem Verfahren nach Britten würden keine reproduzierbaren Ergebnisse erhalten. Die Differenz in den Ergebnissen der beiden Versuche fänden ihre Erklärung schon darin, dass jeweils unterschiedliche Sondenkonzentrationen zum Einsatz gekommen seien. Auch der Umstand, dass mit einem der Versuche nur eine Komplexität von 44,8 KB 17 für die von der Beklagten vertriebene Sonde Y5400 ETV6 habe nachgewiesen werden können, obwohl diese nach den Angaben der Beklagten eine Komplexität von mindestens 50 KB hätte aufweisen müssen, beweise nicht die Unzuverlässigkeit des Verfahrens, weil lediglich ein einziger Versuch und nicht, wie zur Bestätigung von Analysearbeiten erforderlich, eine Versuchsreihe durchgeführt worden sei.
2. Die Ausführungen des Patentgerichts halten der Berufung im Ergebnis stand.
Der Gegenstand von Patentanspruch 1 ist so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann ihn ausführen konnte (Art. 83, 138 Abs. 1 b EPÜ i.V.m. Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 2 IntPatÜG).
Nach der Rechtsprechung des Senats ist eine für die Ausführbarkeit hinreichende Offenbarung gegeben, wenn der Fachmann ohne erfinderisches Zutun und ohne unzumutbare Schwierigkeiten in der Lage ist, die Lehre des Patentanspruchs auf Grund der Gesamtoffenbarung der Patentschrift in Verbindung mit dem allgemeinen Fachwissen am Anmelde- oder Prioritätstag praktisch so zu verwirklichen, dass der angestrebte Erfolg erreicht wird. Dabei genügt es jedenfalls, wenn der Fachmann die insoweit notwendigen Einzelangaben nicht bereits dem Patentanspruch, sondern erst der allgemeinen Beschreibung oder den Ausführungsbeispielen entnehmen kann (BGH, Urteil vom 11. Mai 2010 - X ZR 51/06, GRUR 2010, 901 Rn. 31 - Polymerisierbare Zementmischung, mwN). Bedarf es zur Feststellung, ob ein im Patentanspruch vorgesehener Parameter eingehalten ist, einer Messung, kann die Erfindung in aller Regel nur dann als ausführbar angesehen werden, wenn die Patentschrift Angaben zur Messmethode enthält, in der Patentschrift auf eine in einer anderen Veröffentlichung hinreichend erläuterte Messmethode verwiesen wird oder 19 aber der Fachmann aufgrund seines allgemeinen Fachwissens oder seiner praktischen Erfahrung weiß, welches Messverfahren er anzuwenden hat (vgl. Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamtes, 6. Aufl. 2010, 281 ff., mwN aus der Praxis).
Wie erläutert, kam aus Sicht des Fachmanns neben der Reassoziationskinetik nach dem Aufsatz von Britten, auf den in der Beschreibung des Streitpatents in Zusammenhang mit der Definition des Begriffes der Komplexität ausdrücklich hingewiesen wird (Rn. 105), aufgrund des allgemeinen Fachwissens des Fachmanns auch die Southern-Blot-Analyse als mögliche Methode zur Messung der Komplexität von Nukleinsäuresonden in Betracht. Jedenfalls bei Anwendung der Southern-Blot-Analyse war es dem Fachmann zum Prioritätszeitpunkt überdies auch praktisch möglich, Nukleinsäuresonden herzustellen, deren Komplexität in dem durch Merkmal 2.1 vorgegebenen Bereich lag.
Nach den schlüssigen Erläuterungen des gerichtlichen Sachverständigen wird die menschliche DNS nach der Southern-Blot-Analyse derart vorbereitet, dass diese zunächst mit einem molekularen Werkzeug, einem sog. Restriktionsenzym, in Stücke geschnitten wird. Dabei erfolgen die Schnitte an den Stellen der DNS, die eine bestimmte Abfolge von Basenpaaren aufweisen. Diese Stellen kommen zufällig verteilt in der DNS vor. Entsprechend entstehen unterschiedlich große DNS-Fragmente. Die DNS-Fragmente werden durch Gelelektrophorese aufgetrennt, so dass sie nach ihrer Größe geordnet im Gel vorliegen. Die derart fraktionierte, aufgetrennte und immobilisierte DNS wird mit einer markierten DNS-Sonde, deren Basensequenz etwa aus Bibliotheken bekannt ist (vgl. dazu Rn. 207) und die mithilfe des gleichen Restriktionsenzyms hergestellt worden sind, in situ hybridisiert, so dass die Sonde an den Fragmenten 22 der aufgetrennten DNS anbinden, die die entsprechende DNS-Sequenz aufweist (Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen S. 15 Abs. 3).
Wenngleich sich die Komplexität der Sonden mit der Southern-Blot-Analyse nur näherungsweise bestimmen ließ, weil kleine repetitive Sequenzen dem Nachweis entgehen können und zudem repetitive Sequenzen, die auf die ausgewählte Sonde beschränkt sind, nicht detektiert werden können, weil das jeweilige Fragment als Ganzes eine isolierte Bande erzeugt (vgl. dazu im Einzelnen Gutachten S. 15 f.), stand dem Fachmann damit doch ein praktikables Verfahren zur Messung der Sondenkomplexität zur Verfügung, wie sich etwa auch aus der D 1 ergibt (D 1, S. 9664 rechte Sp. Abs. 3) und der gerichtliche Sachverständige im Verhandlungstermin zudem ausdrücklich bestätigt hat.
Dem stand nicht entgegen, dass die Sonden mittels eines Abkömmlings eines Bakteriophagen namens Charon 21 A vermehrt wurden, das lediglich DNS-Fragmente in einer Größe von maximal 22 KB aufnehmen kann (vgl. Gutachten S. 16 Abs. 4). Denn es war, wie der gerichtliche Sachverständige auf Nachfrage im Verhandlungstermin erläutert hat, dem Fachmann möglich, mehrere Sonden nach der Klonierung wieder zu verbinden und derart auch Sonden mit einer signifikant höheren Komplexität als die in Merkmal 2.1 als unterer Schwellenwert geforderten 50 KB herzustellen.
Ob mit der Southern-Blot-Analyse darüber hinaus auch Nukleinsäuresonden mit Werten erhalten werden können, die nahe dem in Merkmal 2.1 vorgesehenen oberen Schwellenwert von 10 MB kommen, ist von dem gerichtlichen Sachverständigen zwar nicht bestätigt worden und kann daher auch nicht festgestellt werden. Dem Erfordernis der deutlichen und vollständigen Offenbarung steht dies jedoch nicht entgegen, weil es nach der ständigen Rechtsprechung des Senats nicht erforderlich ist, dass alle denkbaren Ausgestaltungen 24 ausgeführt werden können. Vielmehr ist es ausreichend, wenn ein gangbarer Weg zur Ausführung der Erfindung offenbart worden ist (BGH, aaO Rn. 36 - Polymerisierbare Zementmischung, mwN). Ein dem Sachverhalt der Entscheidung "Thermoplastische Zusammensetzung" (BGH, Urteil vom 25. Februar 2010 - Xa ZR 100/05 Rn. 23, BGHZ 184, 300 = GRUR 2010, 414) vergleichbarer oder ähnlicher Fall ist hier nicht zu beurteilen.
III. 1. Das Patentgericht hat das patentgemäße Verfahren zum Färben von chromosomalem Zielmaterial für neu gehalten und angenommen, dass es auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass der Aufsatz von Lichter, et al (PNAS 1988, 9664; D 1) Untersuchungen zur Insitu-Hybridisierung von plasmidischer DNS mit menschlicher DNS sowohl in Meta- als auch in Interphase-Zellen zum Nachweis von Aberrationen des Chromosoms 21 betreffe. Ziel der Veröffentlichung sei es, eine schnelle und einfache klinische Diagnose von Trisomie (Down-Syndrom) bereitzustellen und diese insbesondere durch die direkte Analyse von Interphasen-Zellen zu erleichtern. Zum Einsatz komme dabei auch eine farbstoffmarkierte Sonde mit einer Komplexität von 94 KB. Während der Nachweis der Translokation einer Chromosom-21-Subregion mit einer Sonde aber in der Metaphase als erfolgreich beschrieben werde, hätten die Interphasen-Zellkerne jedoch nur eine Markierung aufgewiesen, die der eines normalen Karyotyps entspreche und damit das Down-Syndrom als mögliche Diagnose ausschließe. Ferner würden Doppelmarkierungstechniken, jedoch ohne weitere Differenzierung, für die Aufgabe erwogen, mittels einer direkten Detektion das gesamte Translokations-Chromosom mit dem Chromosom-21-Material identifizieren zu können. Es werde daher kein Färbeverfahren zum Nachweis genetischer Translokationen unter Anwendung von zwei oder mehreren Sonden in Interphasen-Zellen offenbart, 27 weshalb jedenfalls die Merkmale 2.1 und 4 [3.1, 4 u. 4.1] nicht verwirklicht seien.
Auch die Beiträge von Nederlof et al. (Cancer Genet. Cytogenet 1989, 89; D 6) und Cremer et al. (Hum. Genet. 1988, 235; D 7) könnten die Neuheit nicht in Frage stellen. Beide Veröffentlichungen beschäftigten sich mit dem Nachweis von Chromosomenanomalien bei Tumorzellen durch Insitu-Hybridisierung in der Interphase. Während nach der D 6 dabei jedoch repetitive Sonden mit einer Insertions-Sequenz von maximal 1,77 KB verwendet würden, kämen in dem in der D 7 beschriebenen Verfahren Sonden zum Einsatz, die nach dem in der D 1 beschriebenen Verfahren hergestellt worden seien. Angaben zur Komplexität dieser Sonden enthalte jedoch keine der Veröffentlichungen.
Das Verfahren nach Patentanspruch 1 sei auch nicht durch den Stand der Technik nahegelegt gewesen. In der D 1 werde nicht die Verwendung von unterschiedlich farbmarkierten Sonden mit der erfindungsgemäßen Komplexität zur Detektion von Bruchstellenregionen in Interphasen-Zellen beschrieben. Die Entgegenhaltung vermittle auch keine Anregungen, die in Patentanspruch 1 angegebenen Maßnahmen im Zusammenhang zu ergreifen. Auf die Doppelmarkierungstechnik werde nur im Zusammenhang mit dem Nachweis von Translokationschromosomen an solchen verwiesen. Zu Bruchstellenregionen erhalte der Fachmann nur die Information, dass Sonden mit einer Komplexität von 6 KB sehr gut lokalisierbar seien und den Nachweis von Bruchstellenregionen erleichtern sollten. Eine Anregung, zum Nachweis von Translokationen Sonden mit unterschiedlicher Farbmarkierung und der erfindungsgemäßen Komplexität einzusetzen, werde damit nicht gegeben. 28 Eine entsprechende Lehre werde dem Fachmann auch nicht in einer Zusammenschau mit den weiteren Entgegenhaltungen vermittelt. Insbesondere betreffe der Artikel von Hopmann et al. (Histochemistry 1988, 1; D 2) zwar Anfärbeverfahren nach der Doppelmarkierungstechnik zur gleichzeitigen Detektion unterschiedlicher DNS-Sequenzen in der Interphase unter Verwendung der Insitu-Hybridisierungstechnik. Zudem werde diese Technik auch als geeignet angesehen, relative Positionen von Gensequenzen in normalen und anormalen Karyotypen zu detektieren. Die Veröffentlichung enthalte aber keine Angaben zur Komplexität der verwendeten Sonden und könne daher nicht dazu anregen, von dem Hinweis in der D 1 auf die besondere Eignung kleiner Sonden abzuweichen. Dies treffe auch auf den Beitrag von Cremer et al. (Hum. Genet. 1986, 346; D 5) zu, der die Doppelmarkierungstechnik unter Verwendung unterschiedlich farbmarkierter Sonden zum Nachweis von Translokationen des Chromosoms 18 in der Interphase zur Diagnose von Trisomie 18 beschreibe.
2. Auch gegenüber diesen Ausführungen des Patentgerichts greifen die von der Berufung erhobenen Bedenken nicht durch.
a) Der Gegenstand von Patentanspruch 1 ist neu (Art. 54, 138 Abs. 1 a EPÜ i.V.m. Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 1 IntPatÜG).
Die D 1 beinhaltet Untersuchungen zum schnellen Nachweis von Anomalien des menschlichen Chromosoms 21 im Hinblick auf Trisomie (Down-Syndrom) durch Insitu-Hybridisierung mit Sonden mit menschlicher DNA, die mit einem Fluoressenzfarbstoff markiert sind. Dabei wurden auch Plasmid-Sonden mit einer Komplexität von 94 KB eingesetzt. Bei einem Patienten mit einer Translokation zwischen den Chromosomen 4 und 21 zeigte sich bei der Analyse der Metaphasechromosomen, dass der Teil von Chromosom 21, den die Sonde repräsentierte, an Chromosom 4 verlagert war (D 1, S. 9665 rechte 30 Sp. letzter Abs., Figur 1, Abbildungen L und M). Demgegenüber wurde mit den Interphasen-Zellen ein Ergebnis erhalten, das das Down-Syndrom als mögliche Diagnose ausschloss (D 1, aaO, Figur 1, Abbildung K). Der D 1 ist zudem der Hinweis zu entnehmen, dass der direkte Nachweis eines translozierten Chromosoms in Zellkernen Doppelmarkierungstechniken zur Identifizierung des Empfängerchromosoms erfordern würde, an welches sich das Chromsom-21-Material angeschlossen hat. Was im Einzelnen mit Doppelmarkierungstechniken gemeint ist, wird allerdings nicht erläutert. Ob sich dem Fachmann im Hinblick darauf, dass zwischen dem Chromosom 21 und dem Empfängerchromosom unterschieden werden muss, gleichwohl ohne weitere Erläuterungen im Sinne eines "Mitlesens" offenbart, dass Sonden verwendet werden müssen, bei denen die beiden Chromosomen voneinander unterschiedlich markiert werden (so Gutachten R. S. 26), bedarf keiner abschließenden Beurteilung. Denn jedenfalls erschließt sich dem Fachmann aus der D 1 kein Färbeverfahren zum Nachweis von genetischen Translokationen unter Anwendung von zwei oder mehreren Sonden in Interphasen-Zellen, weil die insoweit mitgeteilten Versuche erfolglos waren.
b) Der Gegenstand von Patentanspruch 1 ergab sich für den Fachmann auch nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik und beruht daher auf einer erfinderischen Tätigkeit (Art. 56, 138 Abs. 1 a) EPÜ i.V.m. Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 1 IntPatÜG).
Wie dargelegt, wird dem Fachmann in der D 1 nicht die Verwendung von unterschiedlich farbmarkierter Sonden mit der in Patentanspruch 1 vorgesehenen Komplexität zur Detektion von Bruchstellenregionen in Interphasen-Zellen offenbart. Auch Anregungen, weiter in diese Richtung zu forschen, ergeben sich aus der D 1 nicht. Denn der Versuch, die Translokation einer Chromsom-21-34 Subregion durch Insitu-Hybridisierung mit Nukleinsäuresonden in Interphasen-Zellen nachzuweisen, hat sich nach den Angaben der Entgegenhaltung gerade als nicht erfolgreich herausgestellt, während der Nachweis bei Versuchen in der Metaphase geführt werden konnte.
Entsprechende Hinweise ergaben sich auch nicht aus den Entgegenhaltungen D 6 und D 7. Beide Entgegenhaltungen betreffen zwar den Nachweis von Chromosomenanomalien bei Tumorzellen durch Insitu-Hybridisierung in der Interphase, jedoch werden in der D 6 repetitive Sonden mit einer Insertions-Sequenz von maximal 1,77 KB eingesetzt (D 6, 89 Abs. 3 i.V.m. Tabelle 1, während die D 7 Angaben zur Komplexität der verwendeten Sonden nicht enthält (D 7, 235, Summary; 236 linke Sp. Abs. 3 f.). Dadurch wird der Fachmann nicht dazu motiviert, für die Insitu-Hybridisierung in der Interphase, Nukleinsäuresonden mit der erfindungsgemäß vorgesehenen Komplexität einzusetzen.
Dem steht auch nicht entgegen, dass nach den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen viel dafür spricht, dass bei der in der D 7 beschriebenen Insitu-Hybridisierung tatsächlich Sonden mit einer Komplexität von etwa 140 MB, 98 MB, 81 MB, 43 MB oder 22 MB verwendet worden sind (Gutachten R. S. 27). Abgesehen davon, dass - entgegen der Annahme von Prof. Dr. R. - die Verwendung von Sonden mit einer Komplexität von über 10 MB nicht mehr vom Gegenstand des Patentanspruchs 1 erfasst wird, weist dieser zutreffend darauf hin, dass die verschiedenfarbig markierten Sonden eine komplexe und eine repetitive Sonde betrafen, während erfindungsgemäß der Einsatz von mindestens zwei komplexen Sonden vorgesehen wird.
Ein Anlass, für die Insitu-Hybridisierung Nukleinsäuren der erfindungsgemäß beanspruchten Komplexität zu verwenden, ergab sich schließlich auch nicht aus der D 5. Diese betrifft die Detektion von Chromosomenanomalien in 36 menschlichen Interphasen-Zellkernen durch die Visualisierung spezifischer Ziel-DNS durch radioaktive und nichtradioaktive Insitu-Hybridisierungstechniken insbesondere bei der Diagnose von Trisomie 18. Dabei wird vermutet, dass bei einer Doppelmarkierung von Chromosomenregionen die Zusammenlagerung der unterschiedlichen Farbsignale im Interphasen-Zellkern eine spezifische Translokation zwischen diesen Chromosomen anzeigen kann (K 5, 351 rechte Sp.; Gutachten R. S. 32). Die dabei eingesetzten Sonden haben jedoch nur eine geringe Länge, so dass der Fachmann auch dieser Entgegenhaltung keinen Hinweis auf die erfindungsgemäß vorgesehene Komplexität der Sonden entnehmen konnte.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 Satz 2 PatG in Verbindung mit §§ 91, 97 ZPO.
Meier-Beck Keukenschrijver Mühlens Grabinski Schuster Vorinstanz:
Bundespatentgericht, Entscheidung vom 27.01.2009 - 3 Ni 78/06 (EU) - 39
BGH:
Urteil v. 12.06.2012
Az: X ZR 73/09
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