Bundespatentgericht:
Beschluss vom 16. März 2010
Aktenzeichen: 6 W (pat) 12/09
(BPatG: Beschluss v. 16.03.2010, Az.: 6 W (pat) 12/09)
Tenor
Auf die Beschwerden der Einsprechenden wird der Beschluss der Patentabteilung 23 des Deutschen Patentund Markenamts vom 29. Juni 2006 aufgehoben und das Patent 42 40 030 widerrufen.
Gründe
I.
Die Patentabteilung 23 des Deutschen Patentund Markenamts hat das am 28.
November 1992 angemeldete Patent 42 40 030 mit Beschluss vom 29.
Juni 2006 antragsgemäß beschränkt aufrechterhalten.
Der geltende Anspruch 1 lautet:
"Seilbzw. Bowdenzugfensterheber bestehend aus einer Antriebseinheit, einer Führungsschiene mit einer Längsachse und mit einer Führungsfläche (10) für den Mitnehmer der Fensterscheibe, Befestigungsmitteln zur Arretierung der Führungsschiene an einem Basiselement sowie Umlenkelementen für das Seil, wobei die Führungsschiene zumindest im Bereich einer Befestigungsstelle (7) derartige Materialeinziehungen (600) aufweist, dass der Abstand zwischen der Führungsschiene und dem zu ihrer Befestigung vorgesehenen Basiselement ausgeglichen ist, dadurch gekennzeichnet, dass sich die Führungsfläche (10) im Bereich der Materialeinziehungen (600) in Flächen (10a, 10b) teilt, von denen die eine Fläche (10a) zur Führung des Mitnehmers dient und die andere Fläche (10b) von der Führungsfläche (10) längs der Führungsschiene in die Befestigungsstelle (7) übergeht, so dass die Führungsfläche im Bereich der Materialeinziehungen (600) ihre Führungseigenschaften behält."
Der nebengeordnete geltende Anspruch 2 lautet:
"Seilbzw. Bowdenzugfensterheber bestehend aus einer Antriebseinheit, einer Führungsschiene mit einer Längsachse und mit einer Führungsfläche (10) für den Mitnehmer der Fensterscheibe, Befestigungsmitteln zur Arretierung der Führungsschiene an einem Basiselement sowie Umlenkelementen für das Seil, wobei die Führungsschiene zumindest im Bereich einer Befestigungsstelle (7) derartige Materialeinziehungen (600) aufweist, dass der Abstand zwischen der Führungsschiene und dem zu ihrer Befestigung vorgesehenen Basiselement ausgeglichen ist, dadurch gekennzeichnet, dass von der Führungsfläche (10) über ihre gesamte Länge eine Teilfläche (10') stufenhaft abgesetzt ist, die mit der gesamten Breite in die Fläche (10'b) der Materialeinziehungen (600) übergeht, so dass das Profil der Führungsschiene im Querschnitt eine treppenförmige Struktur aufweist."
Hinsichtlich des Wortlauts der Unteransprüche 3 bis 13 wird auf den Akteninhalt verwiesen.
Gegen diesen das Patent beschränkt aufrechterhaltenden Beschluss richten sich die Beschwerden der Einsprechenden I und II.
Die Einsprechende I führt in der mündlichen Verhandlung die US 50 70 648 neu ins Verfahren ein und ist der Meinung, die geltenden Ansprüche 1 und 2 seien unzulässig erweitert, ferner sei der geltende Anspruch 1 unklar. Darüber hinaus sei der geltende Anspruch 2 gegenüber der US 50 70 648 nicht neu, beruhe aber zumindest im Hinblick auf die US 50 70 648 und die US 49 64 238 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.
Die Einsprechenden beantragen übereinstimmend, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und das angegriffene Patent zu widerrufen.
Die Patentinhaberin, die -wie angekündigt -ebenso wie die Einsprechende II nicht zur mündlichen Verhandlung erschienen ist, beantragt schriftsätzlich, das angegriffene Patent beschränkt aufrecht zu erhalten.
Sie ist der Auffassung, dass der Gegenstand der nebengeordneten Ansprüche 1 und 2 gegenüber dem nachgewiesenen Stand der Technik neu und erfinderisch sei.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Akteninhalt verwiesen.
II.
Die Beschwerden der Einsprechenden sind zulässig, sie haben in der Sache auch Erfolg.
1.
Die geltenden Ansprüche 1 bis 13 sind zulässig.
Hierzu hat die Patentabteilung in ihrem Beschluss bereits ausführlich Stellung bezogen. Diese Ausführungen macht sich der Senat vollinhaltlich zu eigen. Insbesondere ist der Senat der Auffassung, dass sich aus dem Wortlaut der Beschreibung in Verbindung mit den Verweisungen auf die Zeichnungen der Gegenstand der geltenden Ansprüche als zur Erfindung gehörig deutlich ursprünglich offenbart ist.
2.
Der Patentgegenstand erweist sich als nicht patentfähig.
a) Der Gegenstand des geltenden Anspruchs 1 ist -anders als die Einsprechende I meint -nach Auffassung des Senats klar, und die Erfindung ist auch so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann sie ausführen kann.
Die Ausführungen der Einsprechenden zum geltenden Anspruch 1 mögen zwar im streng philologischen Sinne zutreffend sein, jedoch ist der Fachmann, welcher sich nicht alleine am Wortlaut des Anspruchs orientiert, sondern zum Verständnis der Lehre die Gesamtheit der Patentschrift mit allen Ansprüchen, Beschreibung und Zeichnungen heranzieht, ohne weiteres in der Lage zu erkennen, wie die patentierte Lehre zu verstehen ist und insbesondere wie die hier in Frage stehende Führungsfläche im Einzelnen aussehen soll, da dies beispielsweise aus den Figuren 1 und 2 zweifelsfrei zu ersehen ist.
b) Der Senat teilt aber die Ansicht der Einsprechenden, dass der Gegenstand des geltenden Anspruchs 2 im Hinblick auf die US 50 70 648, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, nicht neu ist.
Diese Druckschrift offenbart einen Seilbzw. Bowdenzugfensterheber (Sp. 1, Z. 5 bis 8. Fig. 1, Pos. 20) bestehend aus einer Antriebseinheit 30, einer Führungsschiene 11, 12 mit einer Längsachse und mit einer Führungsfläche (Fig. 6, 7) für den Mitnehmer 13A, 13B der Fensterscheibe 6, Befestigungsmitteln 28 zur Arretierung der Führungsschiene 11, 12 an einem Basiselement 1A (Sp. 2, Z. 66 bis Sp. 3, Z. 1) sowie Umlenkelementen 25, 26 für das Seil 21, wobei die Führungsschiene 11, 12 zumindest im Bereich einer Befestigungsstelle 28 derartige Materialeinziehungen aufweist, dass der Abstand zwischen der Führungsschiene 11, 12 und dem zu ihrer Befestigung vorgesehenen Basiselement 1A ausgeglichen ist (Fig. 3).
Dieser bekannte Seilbzw. Bowdenzugfensterheber zeichnet sich weiterhin dadurch aus, dassvon der Führungsfläche 11, 12 über ihre gesamte Länge eine Teilfläche stufenhaft abgesetzt ist, die mit der gesamten Breite in die Fläche der Materialeinziehungen übergeht, so dass das Profil der Führungsschiene 11, 12 im Querschnitt eine treppenförmige Struktur aufweist.
Denn wie sich insbesondere den vergrößerten Figuren 3 und 6 der US 50 70 648 entnehmen lässt, ist dort ebenfalls eine Ausgestaltung dargestellt, wie sie im kennzeichnenden Teil des geltenden Anspruchs 2 beschrieben ist, wobei das Profil der Führungsschiene zumindest im Bereich der Materialeinziehungen auch eine treppenförmige Struktur aufweist.
Ausschnittvergrößerung aus Figur 3 vergrößerte Figur 6 Da somit die US 50 70 648 einen Gegenstand mit sämtlichen Merkmalen des geltenden Anspruchs 2 offenbart, ist dieser nicht neu.
c. Die übrigen Ansprüche fallen notwendigerweise mit dem Anspruch 2 (vgl. BGH GRUR 1989, 103 "Verschlussvorrichtung für Gießpfannen" i. V. m. BGH GRUR 1980, 716 "Schlackenbad").
3. Der Senat konnte zu Lasten der nicht zur mündlichen Verhandlung erschienenen Patentinhaberin auf der Grundlage der erst in der Verhandlung eingeführten Druckschrift US 50 70 648 entscheiden.
Zwar besteht nach der Rechtsprechung des BGH im Fall GRUR 2009, 1192, 1194 -Polyolefinfolie die Verpflichtung des Patentgerichts, Verfahrensbeteiligte im Beschwerdeverfahren nach § 73 ff. PatG auf Entgegenhaltungen hinzuweisen, von denen sie auch bei Anwendung der von ihnen zu erwartenden Sorgfalt nicht erkennen können, dass diese als entscheidungsrelevant berücksichtigt werden könnten, unabhängig davon, ob die Entscheidung nach mündlicher Verhandlung ergeht oder im schriftlichen Verfahren getroffen wird. Anders als in diesem Fall aus der Rechtsprechung, in dem die mündliche Verhandlung auf Betreiben der Patentinhaberin abgesetzt worden und im schriftlichen Verfahren entscheiden worden ist, hat vorliegend jedoch eine mündliche Verhandlung stattgefunden, welche die Patentinhaberin nicht wahrgenommen hat.
Nach ganz unbestrittener allgemeiner Ansicht aber verzichtet ein Verfahrensbeteiligter, der freiwillig zu einer mündlichen Verhandlung nicht erscheint, auf die Wahrnehmung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör in mündlicher Form. Die Patentinhaberin wurde in der Ladung zur mündlichen Verhandlung gemäß § 89 Abs. 2 PatG auch darauf hingewiesen, dass bei ihrem Ausbleiben auch ohne sie verhandelt und entschieden werden kann. Die nicht erschienene Patentinhaberin musste daher mit einer Änderung der Entscheidungsgrundlage durch Nennung neuer Entgegenhaltungen und einem Widerruf des Streitpatents aus bisher nicht erörterten Gründen rechnen (vgl. Schulte, Patentgesetz, 8. Aufl., Einleitung Rn. 249 f. mit Nachweisen aus der Rechtsprechung; Busse, Patentgesetz, 6. Aufl., § 93 Rn. 9), zumal die neue Entgegenhaltung in dieselbe IPC-Klasse wie der Streitgegenstand fällt und damit einschlägig ist.
Das Patent war somit zu widerrufen.
Lischke Guth Schneider Ganzenmüller Cl
BPatG:
Beschluss v. 16.03.2010
Az: 6 W (pat) 12/09
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