Bundespatentgericht:
Urteil vom 18. Dezember 2002
Aktenzeichen: 4 Ni 13/02
(BPatG: Urteil v. 18.12.2002, Az.: 4 Ni 13/02)
Tenor
Das europäische Patent 0 416 354 wird mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig erklärt.
Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120% des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des auch mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 0 416 354 (Streitpatent), das am 18. August 1990 unter Inanspruchnahme der Priorität der deutschen Gebrauchsmusteranmeldung 89 100 71 U vom 23. August 1989 angemeldet worden ist. Das in der Verfahrenssprache Deutsch veröffentlichte Streitpatent, das beim Deutschen Patentamt unter der Nummer 590 08 831 geführt wird, betrifft ein Schlitten-Mikrotom. Es umfasst 9 Ansprüche. Patentanspruch 1 hat in der im Einspruchsverfahren vor dem Europäischen Patentamt geänderten Fassung folgenden Wortlaut:
"1. Schlitten-Mikrotom, bei dem ein das Schneidmesser tragender Schlitten entlang präziser Führungselemente gegenüber einem, mit dem Gehäuse des Mikrotoms verbundenen Objektträger bewegbar ist, mit dem Mikrotom-Gehäuse (1) zwei als Profilstäbe mit Führungsnuten ausgebildete erste Führungselemente (14,15) verbunden sind, mindestens einer dieser Profilstäbe (14) senkrecht zu seiner Längsachse einstellbar ist, mit dem Schlitten (6) zwei als Profilstäbe mit Führungsnuten ausgebildete zweite Führungselemente (17,18) fest verbunden sind, wobei sich die Führungsnuten der ersten (14,15) und zweiten (17,18) Führungselemente gegenüberstehen, in die Führungsnuten über etwa die halbe Länge der zweiten Führungselemente (17,18) hochpräzise Rollen (20,21) spielfrei eingesetzt sind, so dass eine spielfreie, eine hohe Stabilität aufweisende Zwangsführung des Schlittens (6) gebildet ist, und bei dem der Schlitten (6) aus Leichtmetall gefertigt ist."
Wegen der unmittelbar und mittelbar auf Patentanspruch 1 zurückbezogenen Patentansprüche 2 bis 9 wird auf die Streitpatentschrift EP 0 416 354 B2 verwiesen.
Mit der Behauptung, die Lehre des Streitpatents beruhe nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit, verfolgt die Klägerin das Ziel, das Streitpatent mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig zu erklären. Zur Begründung beruft sie sich auf folgenden druckschriftlichen Stand der Technik:
a) DE 37 14 389 C1 b) DT 1 925 364 c) Lueger, Lexikon der Technik, "Lexikon der Feinwerktechnik", Deutsche Verlagsanstalt GmbH, Stuttgart, 1968 d) DE 29 11 614 A1 e) EP 0 175 480 A1 f) DE 82 17 319 U1 g) DE 34 33 460 A1 h) Katalog Wälzführungen der Schneeberger GmbH Maschinenfabrik Die Klägerin beantragt, das europäische Patent 0 416 354 mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig zu erklären.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie ist dem Vorbringen der Klägerin entgegengetreten und hält das Streitpatent für bestandsfähig.
Gründe
Die Klage, mit der der in Art II § 6 Absatz 1 Nr 1 IntPatÜG, Art 138 Absatz 1 lit a EPÜ iVm Artikel 54 Abs 1, 2 und Art 56 EPÜ vorgesehene Nichtigkeitsgrund der mangelnden Patentfähigkeit geltend gemacht wird, ist begründet.
1. Das Streitpatent betrifft ein Schlitten-Mikrotom (Präzisionsgerät zur Herstellung feinster Schnitte für mikroskopische Untersuchungen). Nach der Beschreibung der Streitpatentschrift weisen im Stand der Technik bekannte Vorrichtungen dieser Art, bei denen die Bewegung des Schlittens mit der Hand erfolgt, diverse Nachteile auf. Wenn dabei die Bewegung des Schlittens entlang von Gleitführungen erfolge, sei zur Aufrechterhaltung des Schmierfilmes zwischen den Gleitbahnen des Schlittens und des Gehäuses die Verwendung sehr teurer Schmierstoffe erforderlich. Trotz dieser Maßnahme sei es dabei kaum möglich, Schnittserien mit Schnitten gleichmäßiger Dicke herzustellen, da dies unter anderem von der Geschwindigkeit der Schlittenbewegung abhänge und die Bedienung des Schlittens daher von der Bedienungsperson viel Erfahrung und Geschicklichkeit erfordere. Auch sei die Bewegung des Schlittens auf Grund seines für die nutzbare Schnittkraft erforderlichen hohen Gewichts sehr ermüdend. Schließlich erforderten die bekannten Schlitten-Mikrotome eine häufige Reinigung und Schmierung der Gleitflächen.
Im Stand der Technik (EP 0 175 480 A1) sei weiter die Ausführung einer sogenannten Kreuzrollenführung bekannt, als deren spezielles Anwendungsgebiet die Führung des gegenüber einem Gehäuse beweglichen Objektträgers bei Rotationsmikrotomen mit vertikaler Bewegung sowie bei Mikrotomen mit horizontaler Bewegung genannt sei.
2. Vor diesem Hintergrund formuliert die Streitpatentschrift die Aufgabe, ein Schlitten-Mikrotom so auszubilden, dass die Schlittenführung eine hohe Stabilität bei gleichzeitiger Leichtgängigkeit aufweist und so die Herstellung von hochgenauen Schnitten ermöglicht, deren Qualität nicht von der Geschicklichkeit der Bedienungsperson abhängt. Außerdem solle eine relativ ermüdungsarme Bedienung des Schlitten-Mikrotoms möglich sein.
Patentanspruch 1 beschreibt demgemäss ein Schlittenmikrotom mit folgenden Merkmalen:
a) Das Schlitten-Mikrotomb) umfasst ein Gehäuse, einen Schlitten und einen Objektträger.
c) Der Schlittenca) trägt ein Schneidmesser undcb) ist entlang präziser Führungselemente gegenüber dem mit dem Gehäuse des Mikrotoms verbundenen Objektträger bewegbar.
d) Mit dem Mikrotom-Gehäuse (1) sind zwei als Profilstäbe mit Führungsnuten ausgebildete erste Führungselemente (14,15) verbunden.
e) Mindestens einer der Profilstäbe (14) ist senkrecht zu seiner Längsachse einstellbar.
f) Mit dem Schlitten (6) sind zwei als Profilstäbe mit Führungsnuten ausgebildete zweite Führungselemente (17,18) fest verbunden.
g) Die Führungsnuten der ersten (14,15) und zweiten (17,18) Führungselemente stehen sich gegenüber.
h) In den Führungsnuten sind über etwa die halbe Länge der zweiten Führungselemente (17,18) hochpräzise Rollen (20,21) spielfrei eingesetzt, so dass eine spielfreie, eine hohe Stabilität aufweisende Zwangsführung des Schlittens (6) gebildet ist.
i) Der Schlitten (6) ist aus Leichtmetall gefertigt.
3. Der Patentanspruch 1 ist nicht rechtsbeständig. Ihm steht der von der Klägerin geltendgemachte Widerrufsgrund der mangelnden Patentfähigkeit entgegen. Die Neuheit seines Gegenstands mag zwar gegeben sein; er beruht jedoch nicht auf erfinderischer Tätigkeit, weil er sich für den Fachmann in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergab.
Der hier zu berücksichtigende Fachmann ist ein Maschinenbauingenieur mit Hochschulabschluss, der über mehrjährige Erfahrungen auf dem Gebiet der Entwicklung von Mikrotomen verfügt und dabei auch vertiefte Kenntnisse auf dem Gebiet der Führungen und besonders auch in der Wälzlagertechnik erworben hat.
Aus Druckschrift g) (S 4 Abs 2 - S 5 Abs 1) ist ein Schlittenmikrotom bekannt, das über eine spielfrei einstellbare Führungseinrichtung in Form einer Kreuzrollenführung verfügt. Dabei ist angegeben, dass sich die Objektspanneinrichtung in horizontaler Richtung hin- und herbewegt. Weitere das Schlittenmikrotom betreffende Merkmale sind in Druckschrift g) zwar nicht ausdrücklich beschrieben, der Fachmann weiß jedoch genau, welche Merkmale im einzelnen ein Schlittenmikrotom immer umfasst. Hierzu gehören ein Gehäuse, ein Schlitten, ein Objektträger und ein Schneidmesser. Um den Schneidevorgang zu ermöglichen, gibt es grundsätzlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder ist das Objekt auf dem Schlitten befestigt und damit gegenüber dem mit dem Gehäuse fest verbundenen Schneidmesser beweglich, wie es aus Druckschrift g) entnehmbar ist. Oder der Schlitten trägt das Schneidmesser und der Objektträger ist mit dem Gehäuse des Mikrotoms verbunden. In diesem Fall ist das Schneidmesser gegenüber dem Objektträger bewegbar. Auch diese zweite Möglichkeit gehört zum Fachwissen des Fachmanns, wie es beispielsweise durch Druckschrift a) belegt ist. Dort wird nämlich ein Schlittenmikrotom beschrieben, das ein Gehäuse 12, einen Schlitten 16 und einen Objektträger 22 aufweist, wobei der Schlitten 16 ein Schneidmesser 20 trägt und entlang präziser Führungselemente 14 gegenüber dem mit dem Gehäuse 12 des Mikrotoms verbundenen Objektträger 22 bewegbar ist.
Die genaue Ausgestaltung der Kreuzrollenführung des Schlittenmikrotoms ist in Druckschrift g) nicht beschrieben. In den Figuren 1 bis 3 der Druckschrift g) ist zwar eine Kreuzrollenführung dargestellt, diese ist jedoch Teil eines Rotationsmikrotoms und daher in konstruktiver Hinsicht auf die besonderen Bedingungen in einem Rotationsmikrotom zugeschnitten. Dort ist die Kreuzrollenführung nämlich vertikal eingebaut und erlaubt nur relativ kleine Hubbewegungen, was nicht den Einsatzbedingungen in einem Schlittenmikrotom entspricht, in dem eine horizontale Bewegung des Schlittens und ein relativ großer Hubbereich notwendig sind. Der Einsatz der in den Figuren 1 bis 3 gezeigten Kreuzrollenführung bei einem Schlittenmikrotom ist daher nicht ohne weiteres möglich.
Der Fachmann ist jedoch in der Lage, für die jeweiligen Einsatzbedingungen eine geeignet ausgestaltete Rollenführung auszuwählen. Er kennt die verschiedenen Ausführungsformen von Wälzführungen, wie sie zum Beispiel in dem Katalog h) der Schneeberger GmbH Maschinenfabrik angeboten werden. Es ist zwischen den Parteien unstreitig, dass dieser Katalog vor dem Anmeldetag des Patents der Öffentlichkeit zugänglich war. Aus dem Katalog h) sind Rollenführungen entnehmbar, bei denen zwei als Profilstäbe mit Führungsnuten ausgebildete erste Führungselemente vorgesehen sind, die zur Verbindung der Profilstäbe mit einem feststehenden Teil Befestigungslöcher aufweisen (S 46). Zweite Führungselemente, die ebenfalls als Profilstäbe mit Führungsnuten ausgebildet sind, sind mit einem Schlitten (im Katalog h) als Tisch bezeichnet) verbunden, wobei sich die Führungsnuten der ersten Führungselemente und der zweiten Führungselemente gegenüberliegen (siehe die Figuren auf den S 49, 87, 90). Mindestens einer der Profilstäbe ist senkrecht zu seiner Längsachse einstellbar (S 90). Hierzu sind Stellschrauben vorgesehen, die eine spielfreie Einstellung und eine Vorspannung der Wälzführung erlauben.
Aus dem Katalog h) sind weiter aus Leichtmetall gefertigte Schlitten (Tischkörper) zu entnehmen (S 41, 56: Typ NV RD). Bei der Konstruktion eines Schlittenmikrotoms, bei dem es sich um ein tragbares Gerät handelt, strebt der Fachmann immer ein möglichst niedriges Gewicht an. Auch führt ein niedriges Gewicht des Schlittens ersichtlich zu vergleichsweise leichtgängigen und schwingungsfreien Bewegungen des Schlittens. Die leichtere Bewegbarkeit des Schlittens stellt einen weiteren ergonomischen Vorteil dar. Um diese für ihn voraussehbaren Vorteile zu erreichen, entscheidet sich der Fachmann für die bereits bekannte Fertigung des Schlittens aus Leichtmetall.
Wie bei Rollenführungen üblich, sind auch bei den aus dem Katalog h) bekannten Rollenführungen hochpräzise Rollen in den Führungsnuten eingesetzt. Der Fachmann weiß, dass er auf Grund des bei Schlittenmikrotomen notwendigen großen Hubs die Rollen nicht über die ganze Länge der Profilstäbe einsetzen darf, wie es möglicherweise bei dem aus Druckschrift g) bekannten Rotationsmikrotom zweckmäßig war. Im Katalog h) (S 87) wird empfohlen, dass für den Fall eines Schlittenhubs (Tischhub H) von mehr als 400 mm das Verhältnis von Tischhub H zur Länge der Längsführung kleiner gleich 1 sein soll:
Für die Käfiglänge K, die der Länge entspricht, über die Rollen eingesetzt sind, gilt folgende Beziehung:
Setzt man die erste Beziehung in die zweite Beziehung ein, so erhält man für die Käfiglänge K:
Damit ist dem Katalog h) die Empfehlung zu entnehmen, die Rollen nur über die halbe Länge der Längsführung einzusetzen. Der Fachmann greift diese Empfehlung auf, weil sie nicht nur eine Material- und Gewichtsersparnis bringt, sondern weil damit auch erreicht wird, dass die Rollen nicht aus den Führungen herauslaufen. Denn das Auslaufen und Einlaufen der Rollen führt zu Stößen und Schwingungen, die die Schnittqualität beeinträchtigen.
Durch die genannten Merkmale wird erreicht, dass eine spielfreie, eine hohe Stabilität aufweisende Zwangsführung des Schlittens gebildet ist. Damit gelangt der Fachmann ausgehend von dem Schlittenmikrotom nach Druckschrift g) unter Berücksichtigung seines Fachkönnens und Fachwissens, wie es durch Druckschrift a) und den Katalog h) belegt ist, in naheliegender Weise zum Gegenstand des Patentanspruches 1.
Die Aufnahme des Merkmals aus der Beschreibung (Abs 0008), dass sich eine gewisse Vorspannung der Linearführung einstellen und damit Spielfreiheit erreichen lässt, in den Patentanspruch 1 hätte zu keiner anderen Beurteilung führen können. Ebensowenig die Aufnahme des Merkmals, dass die Rollen in Rollenkäfigen gefasst sind. Beide Merkmale gehören zum Fachwissen des Fachmanns, wie es auch aus dem Katalog h) entnehmbar ist. Dort ist nämlich auf Seite 90 angegeben, dass durch Vorspannung Spielfreiheit erreicht wird. Rollenkäfige werden beispielsweise auf Seite 46 erwähnt. Den entsprechenden Angeboten der Beklagten ist der Senat deshalb nicht weiter nachgegangen.
4. Die Patentansprüche 2 bis 9 sind ebenfalls nicht rechtsbeständig. Die Klägerin hat diese echten Unteransprüche substantiiert angegriffen, die Beklagte hat jedoch nicht im Einzelnen dargelegt, dass in ihnen Merkmale enthalten sind, die eine erfinderische Tätigkeit begründen könnten. Auch der Senat vermag Derartiges nicht zu erkennen.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs 2 PatG iVm § 91 Abs 1 Satz 1 ZPO, der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf § 99 Abs 1 PatG iVm § 709 ZPO.
Dr. Schwendy Kalkoff Müllner Dr. Hartung Dr. Zehendner Be
BPatG:
Urteil v. 18.12.2002
Az: 4 Ni 13/02
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