Bundesverfassungsgericht:
Beschluss vom 26. Januar 2001
Aktenzeichen: 1 BvQ 8/01
(BVerfG: Beschluss v. 26.01.2001, Az.: 1 BvQ 8/01)
Tenor
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die Verbotsverfügung des Landrats des Märkischen Kreises als Kreispolizeibehörde Lüdenscheid vom 15. Januar 2001 wird für die für den 26. Januar 2001 angemeldete Versammlung mit folgenden Maßgaben wieder hergestellt:
1. Untersagt ist die Benutzung von Trommeln, Fackeln und Fahnen - außer der Bundesflagge und den Fahnen der deutschen Bundesländer - sowie Transparenten strafbaren Inhalts.
2. Untersagt ist die Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen sowie das Tragen von Uniformen, Uniformteilen oder gleichartigen Kleidungsstücken als Ausdruck einer gemeinsamen politischen Gesinnung.
3. Möglichen weiteren von der Versammlungsbehörde für erforderlich gehaltenen Auflagen über die Streckenführung ist Folge zu leisten.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat der Antragstellerin zwei Drittel der notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 8.000 DM (in Worten: achttausend Deutsche Mark) festgesetzt.
Gründe
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung betrifft ein für sofort vollziehbar erklärtes Versammlungsverbot. Die Kammer hat die Begründung ihrer Entscheidung gemäß § 32 Abs. 5 in Verbindung mit § 93 d Abs. 2 BVerfGG nach Bekanntgabe des Beschlusses schriftlich abgefasst.
I.
1. Die Antragstellerin meldete am 21. Dezember 2000 die Durchführung eines Aufzugs durch die Lüdenscheider Innenstadt mit anschließender Schlusskundgebung am Bismarckdenkmal für den 26. Januar 2001 an. Sie bezog sich hinsichtlich des Datums auf den 130. Jahrestag der Reichsgründung des 2. Deutschen Reiches.
2. Die Versammlungsbehörde sprach mit Bescheid vom 15. Januar 2001 ein Verbot dieser Veranstaltung aus. Sie führte zur Begründung im Wesentlichen aus, die Antragstellerin habe sich beharrlich geweigert, die behördliche Anregung aufzugreifen, den Aufzug am Jahrestag der Reichsgründung, dem 18. Januar, oder einem nahe gelegenen Termin durchzuführen. Dadurch habe sie sich völlig unkooperativ gezeigt. Der nunmehr gewählte Termin des 26. Januar stehe in einem direkten Zusammenhang mit dem Datum der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 und den ihr vorausgehenden Geschehnissen. Das Demonstrationsthema "Reichsgründungstag" sei nur vorgeschoben; die Veranstaltung diene vielmehr der Verherrlichung des Nationalsozialismus. Dies zeige sich auch in der Absicht, Kaiserreichsflaggen, Trommeln und Fackeln mitzuführen, da dadurch an die Fackelaufmärsche in der Zeit des Nationalsozialismus erinnert werde.
Die fehlende Glaubwürdigkeit der Antragstellerin zeige sich an ihren Darlegungen, dass für die Versammlung wegen einer im Anschluss geplanten weiteren Veranstaltung eigentlich der 19. Januar 2001 geplant gewesen sei, die als Ort vorgesehene Halle aber nicht hätte angemietet werden können. Nach Aussage des Hallenpächters sei zur Anmietung der Halle am 19. Januar keine Anfrage erfolgt. Außerdem habe dieser mitgeteilt, dass er auch für den 26. Januar 2001 keinen Vertragsabschluss getroffen habe und auch keine Veranstaltung angenommen hätte, da er sich in der Auflösung des Betriebs bis Anfang Februar befinde.
3. Einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des hiergegen eingelegten Widerspruchs vom 22. Januar 2001 lehnte das Verwaltungsgericht Arnsberg mit Beschluss vom 24. Januar 2001, den Antrag auf Zulassung der Beschwerde hiergegen das Oberverwaltungsgericht Münster mit Beschluss vom 25. Januar 2001 ab. Die Gerichte schlossen sich der Sache nach im Wesentlichen den Gründen der Verbotsverfügung an, nahmen dabei allerdings nicht (auch) einen Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit, wohl aber gegen die öffentliche Ordnung an.
4. In ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG rügt die Antragstellerin eine Verletzung von Art. 8 GG und begehrt die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs. Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor, sie wolle mit der angemeldeten Versammlung keineswegs auf die Hitlerära Bezug nehmen und es gebe auch keinerlei Nachweise für diese ihr unterstellte Absicht. Im Übrigen sei die Wahl von Zeit und Ort einer Demonstration von der Versammlungsfreiheit umfasst. Die Antragstellerin sichere ausdrücklich zu, auf die ursprünglich geplante Verwendung von Kaiserreichsflaggen, Trommeln und Fackeln zu verzichten.
II.
Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat im Wesentlichen Erfolg.
1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile dringend geboten ist. Bei - wie hier - offenem Ausgang eines noch möglichen Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 71, 158 <161>; 88, 185 <186>; 91, 252 <257 f.>; stRspr).
2. Vorliegend führt die Abwägung zu einem Überwiegen derjenigen Gründe, die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechen, mit der die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs begrenzt wieder hergestellt wird.
In Verfahren der vorliegenden Art ist es für das Bundesverfassungsgericht regelmäßig ausgeschlossen, in eine eigenständige Ermittlung und Würdigung des dem Eilrechtsschutzbegehren zu Grunde liegenden Sachverhalts einzutreten. Das Bundesverfassungsgericht hat seiner Abwägung in aller Regel die in den angegriffenen Entscheidungen enthaltenen Tatsachenfeststellungen und Tatsachenwürdigungen zu Grunde zu legen (vgl. hierzu etwa BVerfGE 34, 211 <216>; 36, 37 <40>; BVerfG, EuGRZ 1997, S. 522). Anderes gilt nur dann, wenn die getroffenen Tatsachenfeststellungen offensichtlich fehlsam sind oder die angestellte Tatsachenwürdigung unter Berücksichtigung des Schutzgehalts der betroffenen Grundrechtsnorm offensichtlich nicht trägt (vgl. BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, NJW 2000, S. 3053 ff.). So liegt es hier.
a) Ist das Verbot der Versammlung auf eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gestützt (§ 15 VersG), setzt die von der Behörde und den befassten Gerichten angestellte Gefahrenprognose tatsächliche Anhaltspunkte voraus, die bei verständiger Würdigung eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des Gefahreneintritts ergeben. Bloße Verdachtsmomente und Vermutungen reichen für sich allein nicht aus (vgl. BVerfGE 87, 399 <409>). Das Bundesverfassungsgericht prüft im Eilverfahren zwar regelmäßig nicht, ob die vorgebrachten Anhaltspunkte tatsächlich vorliegen, klärt aber im Rahmen der Folgenabwägung, ob die für die Beurteilung der Gefahrenlage herangezogenen Tatsachen unter Berücksichtigung des Schutzgehalts des Art. 8 GG in nachvollziehbarer und insofern jedenfalls vertretbarer Weise auf eine unmittelbare Gefahr hindeuten.
b) Die Behörde stützt das Verbot auf die Einschätzung, die Antragstellerin werde nicht die angemeldete Versammlung, sondern eine Versammlung anderen Inhalts durchführen, die der Verherrlichung des Nationalsozialismus diene. Da die Antragstellerin dies nachdrücklich bestreitet, ist für die Folgenbeurteilung entscheidend, ob nachvollziehbare Anhaltspunkte für eine Täuschung über den geplanten Inhalt bestehen. Bei der Beurteilung des Inhalts und Gegenstandes einer Versammlung ist zunächst vom Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters über Art und Inhalt der Versammlung auszugehen (vgl. BVerfGE 69, 315 <343>). Die Angaben des Veranstalters scheiden als Grundlage für die von der Behörde vorzunehmende Gefahrenprognose allerdings aus, wenn tatsächliche Anhaltspunkte darauf hindeuten, dass der Veranstalter in Wahrheit eine Versammlung anderen Inhalts plant, die eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bewirkt. Gibt es neben solchen Anhaltspunkten auch Gegenindizien, hat sich die Behörde auch mit diesen in einer den Grundrechtsschutz hinreichend berücksichtigenden Weise auseinander zu setzen (vgl. BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, NJW 2000, S. 3053 ff.).
Die Annahme, es handele sich bei der Anmeldung um die Tarnung einer in Wahrheit geplanten Gedenkveranstaltung zur Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933, ist auf Grund der von der Behörde benannten Tatsachen nicht nachvollziehbar.
aa) Die Behörde stützt sich darauf, die Antragstellerin sei nicht vertrauenswürdig. Dies folgert sie zum einen aus den Angaben der Antragstellerin zu dem von ihr angeblich zunächst vorgesehenen Veranstaltungstermin vom 19. Januar 2001, die sie als unrichtig bewertet. Dass die Antragstellerin den Hallenpächter nicht selbst um eine Anmietung an diesem Tage ersucht hatte, deutet nicht zwingend auf eine unrichtige Angabe hin, wenn die Örtlichkeit - wie hier - tatsächlich an diesem Tage nicht zur Anmietung zur Verfügung stand und es nicht ausgeschlossen ist, dass die Antragstellerin dies anderweitig erfahren hatte. Davon abgesehen ist nicht nachvollziehbar, wieso allein aus einem solchen Umstand eine grundsätzlich fehlende Vertrauenswürdigkeit der Antragstellerin abgeleitet werden kann, die sich auch auf die Angaben über den Inhalt der geplanten Versammlung erstreckt. Angesichts des Grundrechtsschutzes für das Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters der Versammlung hätte die Behörde zusätzliche Anhaltspunkte benennen müssen, etwa Beispiele der Täuschung über den Versammlungsgegenstand aus Anlass früherer Versammlungen.
bb) Soweit die Behörde ergänzend auf die Weigerung der Antragstellerin verweist, einen anderen Tag als den 26. Januar 2001 zu wählen, verkennt sie ebenfalls das Recht eines Veranstalters, den Zeitpunkt der Versammlung selbst zu wählen. Aus dem Selbstbestimmungsrecht folgt, dass der Veranstalter sein Versammlungsanliegen eigenständig konkretisieren darf. Gefährdet die Durchführung der Versammlung andere Rechtsgüter, ist es Aufgabe der Behörde, die wechselseitigen Interessen unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zum Ausgleich zu bringen. Die Bewertung der gegenläufigen Interessen und ihrer Abwägung mit dem Versammlungsinteresse liegt bei der Behörde. Der Veranstalter einer Versammlung kann seine Vorstellungen dazu allerdings im Zuge einer Kooperation mit der Versammlungsbehörde einbringen. Die Kooperation kann dazu führen, dass die Schwelle für behördliches Eingreifen wegen einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung höherrückt (vgl. BVerfGE 69, 315 <355 ff.>). In umgekehrter Richtung wirkt sich die Verweigerung der Kooperation aus. Im vorliegenden Fall diente die Anregung der Versammlungsbehörde, den Versammlungstermin zu verlegen, jedoch nicht der Bewältigung einer solchen Lage der Kollision gegenläufiger Rechtsgüter, so dass die Weigerung der Antragstellerin keine Verweigerung der Kooperation war. Vielmehr zielte die Anregung der Behörde zur Terminverlegung darauf, eine Umwidmung des Versammlungsthemas durch die Antragstellerin zu verhindern. Da diese aber bestritt, Derartiges zu planen und sie sich insofern auch nicht im Widerspruch zu ihrem eigenen Verhalten befand, gab es für sie keinen Kooperationsanlass. Die Nichtbefolgung der Anregung darf daher nicht als unkooperatives Verhalten zu Lasten der Antragstellerin bewertet werden.
cc) Mangels ergänzender Anhaltspunkte scheidet es auch aus, den Bezug der Versammlung zum Jahrestag der Machtergreifung Hitlers daraus abzuleiten, dass die Antragstellerin mit dem 26. Januar einen Tag gewählt hat, an dem Reichspräsident von Hindenburg dem Reichskanzler von Schleicher die von diesem geforderten Vollmachten verweigerte, wodurch der Grundstein für die Machtübertragung auf Hitler gelegt worden ist. Der 26. Januar und das dadurch nach Meinung der Behörde in Bezug genommene Ereignis der Vollmachtsverweigerung spielen in der öffentlichen Erinnerung an die Machtübernahme Hitlers keine erkennbare Bedeutung, so dass allein die Wahl dieses Tages nicht eine auf die Machtergreifung Hitlers verweisende symbolische Bedeutung hat, die von den Anhängern der Antragstellerin als Signal einer entsprechenden Ausrichtung der Versammlung hätte verstanden werden können oder müssen. Im Übrigen liegt der von der Antragstellerin gewählte Termin nicht so weit von dem Tag der Reichsgründung (18. Januar) entfernt, dass es von vornherein unglaubwürdig ist, wenn die Antragstellerin an diesem Termin der Gründung des Kaiserreiches gedenken will. Umgekehrt ist nicht erkennbar, dass die Verlegung des Termins vom 26. Januar 2001 auf einen näher am 18. Januar liegenden Zeitpunkt geeignet wäre, die von der Versammlungsbehörde befürchtete Umwidmung der Versammlung auszuschließen, wenn die Antragstellerin, wie die Behörde meint, eine solche Umwidmung plant.
dd) Auch die ursprüngliche Absicht der Antragstellerin, Kaiserreichsflaggen, Trommeln und Fackeln nutzen zu wollen, spricht für sich allein nicht gegen die Glaubwürdigkeit ihrer bekundeten Absicht. Ob und wieweit gegen das Mitführen dieser Gegenstände versammlungsrechtliche Bedenken bestehen, ist eine andere Frage. Auch bedarf es, nachdem die Antragstellerin auf diese Begleiterscheinungen verzichtet hat, keiner Abklärung mehr, ob die Absicht der Verherrlichung des Nationalsozialismus aus diesen Begleitumständen deshalb abgeleitet werden kann, weil sie an Fackelaufmärsche in der Zeit des Nationalsozialismus erinnern.
c) Fehlt es schon an nachvollziehbaren Anhaltspunkten für eine Täuschungsabsicht der Antragstellerin, kommt es auf die Klärung, ob für den Fall einer Täuschung die öffentliche Sicherheit oder die öffentliche Ordnung gefährdet wäre, nicht mehr an.
d) Bleiben die von der Versammlungsbehörde benannten Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung in der Folgenabwägung außer Betracht, sind die Nachteile einer Sofortwirkung des Versammlungsverbots schwer und derart gewichtig, dass die einstweilige Anordnung zu ergehen hat.
3. Das Bundesverfassungsgericht verbindet die Herstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs mit den im Tenor aufgeführten inhaltlichen Maßgaben, die auch bei einer rechtsextremen Versammlung im Gedenken an die Gründung des Kaiserreiches angezeigt sind. Bei Verstößen gegen diese Maßgaben kann die Versammlungsbehörde von den rechtlichen Möglichkeiten des § 15 VersG Gebrauch machen.
4. Die Entscheidung über die Erstattung der Auslagen beruht auf § 34 a Abs. 3 BVerfGG, die Festsetzung des Werts des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit auf § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
BVerfG:
Beschluss v. 26.01.2001
Az: 1 BvQ 8/01
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