Bundesgerichtshof:
Beschluss vom 22. März 2010
Aktenzeichen: NotZ 20/09
(BGH: Beschluss v. 22.03.2010, Az.: NotZ 20/09)
Tenor
Die sofortige Beschwerde der weiteren Beteiligten gegen den Beschluss des Senats für Notarsachen des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig vom 29. September 2009 - Not 18/08 - wird zurückgewiesen.
Die weitere Beteiligte hat die Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen sowie die der Antragstellerin und der Antragsgegnerin im Beschwerdeverfahren entstandenen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Der Geschäftswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 50.000 €
festgesetzt.
Gründe
I.
Im Jahr 2007 schrieb die Antragsgegnerin für den Amtsgerichtsbezirk Niebüll vier Notarstellen für Rechtsanwälte aus. Bewerbungsschluss war der 31. Juli 2007. Das Auswahlverfahren führte die Antragsgegnerin gemäß § 6 der Allgemeinen Verfügung über die Angelegenheiten der Notarinnen und der Notare für Schleswig-Holstein (im Folgenden: AVNot) in der Fassung vom 21. August 2006 (SchlHA S. 307) durch. Drei der ausgeschriebenen Stellen sind zwischenzeitlich besetzt, um die Vierte konkurrieren die weitere Beteiligte und die Antragstellerin.
Mit Bescheid vom 10. April 2008 teilte die Antragsgegnerin der weiteren Beteiligten zunächst mit, sie belege aufgrund einer errechneten Punktzahl von 77,15 gegenüber für die Antragstellerin errechneten 72,30 Punkten die 4. Rangstelle, weshalb ihre Bestellung zur Notarin in Aussicht genommen sei. Dagegen wandte die Antragstellerin ein, der weiteren Beteiligten seien für den Zeitraum von August 1994 bis Dezember 1998 zu Unrecht 13,25 Punkte (53 x 0,25) für anwaltliche Tätigkeit zuerkannt worden. Tatsächlich sei die weitere Beteiligte während dieser Zeit hauptberuflich bei dem Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen in Greifswald tätig gewesen.
Mit modifiziertem Bescheid vom 18. August 2008 kündigte die Antragsgegnerin erneut an, die Bestellung der weiteren Beteiligten zur Notarin zu beabsichtigen. Dieser seien zwar für ihre hauptberufliche "Syndikustätigkeit" beim Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen in Greifswald von August 1994 bis Dezember 1998 keine Punkte für hauptberufliche Anwaltstätigkeit zuzuerkennen, wohl aber gemäß § 6 Abs. 2 Nr. 5 f. AVNot 5,3 Sonderpunkte (53 Monate x 0,1) wegen notarnaher Tätigkeit. Damit ergebe sich ein abschließender Punktestand von 72,30 Punkten für die Antragstellerin und 69,20 Punkten für die weitere Beteiligte. Ungeachtet eines damit bestehenden Vorsprungs von 3,1 Punkten für die Antragstellerin sei jedoch die weitere Beteiligte persönlich besser für das Amt der Notarin geeignet, § 7 Abs. 1 AVNot. Diese habe nämlich mit Beginn ihrer hauptberuflichen Rechtsanwaltstätigkeit aufgrund von Beraterverträgen mit dem Landesamt für offene Vermögensfragen sowie dem Land Brandenburg und aufgrund von Werkverträgen mit dem Freistaat Sachsen sowie der Treuhandliegenschaftsgesellschaft mbH im Zeitraum Januar 1999 bis März 2004 besondere Kenntnisse auf notarspezifischem Gebiet erworben. Zudem verfüge die weitere Beteiligte über etwas umfangreichere theoretische Kenntnisse aufgrund von berufsspezifischen Fortbildungskursen (11,7 gegenüber 6,0 Punkten), weshalb im Rahmen der zu treffenden individuellen Prognose von der rechnerisch ermittelten Rangfolge abzuweichen sei.
Dem Antrag der Antragstellerin auf gerichtliche Entscheidung mit dem Inhalt, den Bescheid der Antragsgegnerin vom 18. August 2009 aufzuheben und diese zu verpflichten, die ausgeschriebene Notarstelle mit der Antragstellerin zu besetzen, hat das Oberlandesgericht entsprochen. Hiergegen wendet sich die weitere Beteiligte mit ihrer sofortigen Beschwerde.
II.
Die sofortige Beschwerde ist gemäß § 111 Abs. 4 BNotO i.V.m. § 42 Abs. 4 BRAO zulässig, in der Sache jedoch unbegründet. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts erweist sich im Ergebnis als richtig.
Die von der Antragsgegnerin getroffene und vom Oberlandesgericht beanstandete Auswahlentscheidung ist auch unter Berücksichtigung ihrer eingeschränkten Nachprüfbarkeit durch die Gerichte (vgl. z.B. Senatsbeschlüsse BGHZ 124, 327, 330 f.; vom 14. März 2005 - NotZ 27/04 - NJW-RR 2006, 55, 56 und vom 14. April 2008 - NotZ 100/07 - juris Rn. 13) rechtswidrig und verletzt die Antragstellerin in ihren Rechten.
1. Zunächst bestehen nach der mittlerweile gefestigten Rechtsprechung des Senats unter Berücksichtigung der Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 20. April 2004 (BVerfGE 110, 304) und 8. Oktober 2004 (NJW 2005, 50) keine Bedenken dagegen, dass die Antragsgegnerin ihre Auswahlentscheidung auf der Grundlage eines Punktesystems getroffen hat, wie es in § 6 AVNot näher geregelt ist (vgl. nur Senat, Beschlüsse vom 20. November 2006 - NotZ 4/06 - ZNotP 2007, 109, 110 ff.; vom 26. März 2007 - NotZ 38/06 - NJW-RR 2007, 1130, 1131 und - NotZ 39/06 - ZNotP 2007, 234, 235 f. sowie vom 20. April 2009 - NotZ 20/08 - NJW-RR 2009, 1217 jeweils Rn. 9 ff.). Dagegen werden auch im vorliegenden Fall keine Einwendungen erhoben.
2. Ebenso zutreffend ist die Antragsgegnerin davon ausgegangen, dass die weitere Beteiligte von August 1994 bis zum Dezember 1998 - trotz formaler Zulassung - nicht hauptberuflich als Rechtsanwältin tätig war, ihr aber für diesen Zeitraum Sonderpunkte zustehen wegen Tätigkeiten, die in besonderer Weise für das Notaramt qualifizieren. Die Wahrnehmung von Aufgaben nach dem Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen ist keine hauptberufliche Tätigkeit als Rechtsanwalt im Sinne von § 6 Abs. 2 Nr. 2 AVNot (Senatsbeschlüsse vom 14. Juli 2003 - NotZ 2/03 - NJW 2003, 2752, 2753 und vom 14. April 2008 - NotZ 100/07 - juris Rn. 29). Nach der Ausgestaltung der Honorar- bzw. Beraterverträge mit dem Land Mecklenburg-Vorpommern in den Jahren 1994 bis 1997 war die weitere Beteiligte vertraglich verpflichtet, für das Landesamt in Greifswald praktisch in Vollzeit zu einem leistungsgerechten Honorar zu arbeiten, was gleichzeitig ausschließt, dass sie nebenbei hauptberuflich als freie Rechtsanwältin tätig war. Von Juni 1997 bis Dezember 1998 ruhte sogar ihre Zulassung zur Rechtsanwaltschaft, weil sie aufgrund eines Arbeitsvertrages als Angestellte im öffentlichen Dienst tätig war. Die Vergabe von 0,1 Sonderpunkten pro Monat für diese hauptberufliche Tätigkeit nach dem Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen für das Land Mecklenburg-Vorpommern hält sich im Rahmen des der Antragsgegnerin zustehenden Beurteilungsspielraums und ist damit nicht zu beanstanden (vgl. Senatsbeschlüsse vom 14. Juli 2003 - NotZ 2/03 - NJW 2003, 2752, 2753 und vom 14. April 2008 - NotZ 100/07 - juris Rn. 16).
3. Zu Recht rügt die Antragstellerin jedoch, dass die Antragsgegnerin aufgrund einer wertenden Gesamtschau beabsichtigt, der um 3,1 Punkte gegenüber der Antragstellerin schlechter bewerteten weiteren Beteiligten die ausgeschriebene Notarstelle zuzuweisen.
Zwar hat die Justizverwaltung zur Ausschöpfung ihres Beurteilungsspielraums vor der endgültigen Auswahl zusätzlich zu prüfen, ob für die jeweiligen Bewerber Umstände ersichtlich sind, die in dem Punktebewertungssystem keinen Eingang gefunden haben, die aber unerlässlich zu berücksichtigen sind, um die Kenntnisse und Fähigkeiten der Bewerber zutreffend und vollständig zu erfassen. Sie darf jedoch, wenn sie sich grundsätzlich eines Punktesystems bedient, nicht ohne besonderen Grund von der rechnerisch ermittelten Rangfolge durch einen darüber hinaus gehenden Individualvergleich der Bewerber abweichen; denn für eine derartige anlasslose Prüfung fehlt es mangels brauchbarer Beurteilungskriterien an einer tragfähigen Grundlage. Sie könnte daher im Ergebnis nur zu einer willkürlichen Abweichung von der ermittelten Rangfolge führen (Senatsbeschlüsse vom 23. Juli 2007 - NotZ 8/07 - ZNotP 2007, 475, 477 Rn. 14 und vom 14. April 2008 - NotZ 100/07 - juris Rn. 25).
An einem solchen besonderen Grund für eine Änderung der Rangfolge fehlte es hier:
a) Wie vom Oberlandesgericht zutreffend ausgeführt, ergibt sich aus der unterschiedlichen Punktzahl für Fortbildungskurse kein Grund für eine Abweichung von der rechnerisch ermittelten Rangfolge. Die geringfügig umfangreichere Fortbildung der weiteren Beteiligten wird vollständig von dem differenzierten, auch die Aktualität der Fortbildung berücksichtigenden Punktesystem nach § 6 Abs. 2 Nr. 3 AVNot erfasst und darf deshalb nicht erneut in die Gesamtschau einfließen, um so einen Eignungsunterschied zu begründen (vgl. Senatsbeschluss vom 14. April 2008 - NotZ 100/07 - juris Rn. 31).
b) Ebenso rechtsfehlerhaft war es, nachdem die Antragsgegnerin der weiteren Beteiligten für ihre hauptberufliche notarnahe Tätigkeit für das Landesamt für offene Vermögensfragen bis Dezember 1998 gemäß § 6 Abs. 2 Nr. 5 f. AVNot Sonderpunkte zuerkannt hatte, die nebenberufliche Fortsetzung dieser Tätigkeit nach dem 1. Januar 1999 in die Gesamtschau einfließen zu lassen, um so einen Eignungsvorsprung zu begründen.
aa) Zwar könnten die notarspezifischen Bezüge der anwaltlichen Nebentätigkeit in dem Zeitraum Januar 1999 bis Dezember 2003 - anders als das Oberlandesgericht meint - grundsätzlich, weil gemäß § 6b Abs. 4 BNotO ordnungsgemäß in das Bewerbungsverfahren eingeführt, im Rahmen der Auswahlentscheidung berücksichtigt werden. So hat die weitere Beteiligte in ihrem Bewerbungsschreiben vom 19. Juni 2007 ausdrücklich und ausführlich auf ihre verschiedenen nebenberuflichen Tätigkeiten und die damit verbundenen notarspezifischen Bezüge im Zeitraum von Januar 1999 bis Dezember 2003 hingewiesen und um Berücksichtigung bei der Punktevergabe nach § 6 Abs. 2 Nr. 5 f. AVNot gebeten. Das könnte genügen, um dem Erfordernis einer vollständigen Bewerbung zum Stichtag gerecht zu werden (vgl. Senatsbeschlüsse vom 14. Juli 2003 - NotZ 2/03 - und vom 22. November 2004 - NotZ 16/04 - DNotZ 2005, 393, 396), kann aber letztlich offen bleiben. Die Berücksichtigung der von der weiteren Beteiligten angeführten Umstände würde den Eignungsvorsprung der Antragstellerin nicht in Frage stellen.
bb) Die notarnahe Tätigkeit im Zeitraum 1999 bis 2003 wäre im Punktebewertungssystem durch die Vergabe von Sonderpunkten gemäß § 6 Abs. 2 Nr. 5 f. AVNot zu berücksichtigen gewesen, nicht jedoch im Rahmen einer Gesamtschau. Denn es handelte sich dabei gerade um "sonstige Erfahrungen aus Tätigkeiten, die in besonderer Weise für das Notaramt qualifizieren". Dabei wäre allerdings - auch insoweit folgt der Senat dem Oberlandesgericht - die Vergabe von mehr als 0,05 Punkten pro Monat für die bloß nebenberufliche Tätigkeit in sich unstimmig und damit beurteilungsfehlerhaft, nachdem die Antragsgegnerin für die vorangegangene hauptberufliche Tätigkeit im Rahmen des ihr zustehenden Ermessens die Vergabe von 0,1 Punkten für angemessen erachtet hat. Auch bei der fiktiven Vergabe von maximal 0,05 Punkten pro Monat, insgesamt also für die Jahre 1999 bis 2003 - wie von der weiteren Beteiligten am 15. Juni 2007 beantragt - 3 Punkte, verbliebe der Antragstellerin aber ein, wenn auch geringer, Punktevorsprung von 0,1 Punkten gegenüber der weiteren Beteiligten.
cc) Soweit die weitere Beteiligte mit ihrer Beschwerdeschrift vom 6. Oktober 2009 nunmehr geltend macht, sie habe auch in den Jahren 1999 bis 2003 den gleichen zeitlichen Aufwand für ihre "Nebentätigkeiten" aufgewandt wie während der Jahre 1994 bis 1998 anlässlich ihrer hauptberuflichen Tätigkeit für das Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen, könnte dies jedoch in der Tat eine andere Punktevergabe bedingen. Bei unverändertem Tätigkeitsaufwand wäre dann zwar eine Vergabe von 0,1 Sonderpunkten für notarnahe Tätigkeit auch für die Jahre 1999 bis 2003 veranlasst. Gleichzeitig wäre aber - ebenso wie für den Zeitraum August 1994 bis Dezember 1998 - die Vergabe von 0,25 Punkten pro Monat für ausgeübte Rechtsanwaltstätigkeit ausgeschlossen. Es könnte dann nämlich nicht mehr davon ausgegangen werden, dass die weitere Beteiligte in einem solchen Umfang als frei praktizierende Rechtsanwältin tätig gewesen wäre, dass insoweit auch nur annähernd von einer "hauptberuflichen" Rechtsanwaltstätigkeit gesprochen werden könnte.
4. Schließlich teilt der Senat auch nicht den Einwand der weiteren Beteiligten, es müsse bei der Bewertung der hauptberuflichen Tätigkeit als Rechtsanwältin für die Antragstellerin nachteilig berücksichtigt werden, dass diese 1996 und 1999 zwei Kinder geboren habe und deshalb nur eingeschränkt ihrer beruflichen Tätigkeit nachgegangen sei, während sie selbst nur ein - im Jahre 2003 geborenes - Kind habe versorgen müssen. Die Antragstellerin ist - wie sich aus vorgelegten Bescheinigungen der Rechtsanwälte S. und S. ergibt - nach der Geburt ihrer Tochter 1996 vorübergehend mit reduzierter Stundenzahl und nach der Geburt ihres Sohnes im Jahr 1999 ohne jede Einschränkung als Anwältin tätig gewesen. Eine vorübergehende Reduzierung der Stundenzahl wegen Geburt eines Kindes steht der Annahme einer hauptberuflichen Tätigkeit nicht entgegen und führt nicht zu einer Aberkennung von gemäß § 6 Abs. 2 Nr. 2 AVNot zuerkannten Punkten.
5. Die Sache ist zugunsten der Antragstellerin zur Endentscheidung reif. Neue entscheidungserhebliche Tatsachen sind nicht mehr zu erwarten. Auch ist nichts dafür ersichtlich, dass die Antragsgegnerin im Rahmen eines erneuten Individualvergleichs noch zulässige Erwägungen wird anstellen können, die im Ergebnis ein Abweichen von der punktemäßig ermittelten Eignungsbeurteilung beider Kandidatinnen rechtfertigen könnte.
Galke Appl Herrmann Bauer Brose-Preuß
Vorinstanz:
OLG Schleswig, Entscheidung vom 29.09.2009 - Not 18/08 -
BGH:
Beschluss v. 22.03.2010
Az: NotZ 20/09
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