Sozialgericht Aachen:
Urteil vom 12. März 2004
Aktenzeichen: S 8 AL 150/03
(SG Aachen: Urteil v. 12.03.2004, Az.: S 8 AL 150/03)
Tenor
Der Bescheid vom 21.10.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.11.2003 wird abgeändert. Die Beklagte wird verurteilt, weitere 136,88 Euro zu erstatten. Die Beklagte hat die Kosten des Klägers zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Höhe der erstattungsfähigen Rechtsanwaltskosten nach einem erfolgreichen Widerspruchsverfahren.
Der Kläger bezog ab 01.05.2003 Arbeitslosengeld. Mit Bescheid vom 28.08.2003 hob die Beklagte die Bewilligung auf, weil sie auf Grund eines Postrücklaufs meinte, der Kläger sei nicht verfügbar.
Hiergegen legte der Kläger - anwaltlich vertreten - am 03.09.2003 Widerspruch ein. Er führte aus, er wohne nach wie vor unter der angegebenen Adresse und sei dort durchgehend erreichbar. Falls Post nicht zustellbar gewesen sein sollte, könne dies nur auf ein Versehen der Post AG zurückzuführen sein.
Die Beklagte stellte fest, dass sie das Schreiben versehentlich an eine nicht mehr aktuelle Anschrift gesandt hatte. Mit Abhilfebescheid vom 06.10.2003 hob sie den Bescheid vom 28.08.2003 auf und verpflichtete sich, die im Widerspruchsverfahren entstandenen Kosten dem Grunde nach zu erstatten.
Der Bevollmächtigte des Klägers machte daraufhin folgende Kosten geltend:
"Gebühr gem. § 116 I 1, 116 III BRAGO EUR 520,00 Auslagenpauschale gem. § 26 BRAGO EUR 20,00 Zwischensumme EUR 540,00 16% Mwst. gem. § 25 II BRAGO auf EUR 540,00 EUR 86,40 Summe der Honoraraufstellung EUR 626,40"
Mit Bescheid vom 21.10.2003 setzte die Beklagte die Kosten wie folgt fest:
"Gebühr gem. § 116 BRAGO EUR 236,00 Auslagenpauschale gem. § 26 BRAGO EUR 20,00 insgesamt EUR 256,00 zuzüglich 16% Mehrwertsteuer EUR 40,96 Erstattungsbetrag EUR 296,96"
Sie führte aus, im Widerspruchsverfahren seien lediglich 2/3 der in Verfahren vor den Sozialgerichten anfallenden Rahmengebühr erstattungsfähig. Ausgehend hiervon könne der Kläger die Erstattung der Mittelgebühr beanspruchen, denn es handele sich weder um eine schwierige noch um eine umfangreiche Streitsache.
Im Widerspruchsverfahren meinte der Kläger, es sei vom nicht geminderten Gebührenrahmen gem. § 116 Abs. 1 Nr. 1 BRAGO auszugehen.
Mit Bescheid vom 20.11.2003 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Für eine Vertretung in einem Vorverfahren, an das sich ein gerichtliches Verfahren angeschlossen habe (isoliertes Vorverfahren) gelte der Gebührenrahmen des § 116 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BRAGO in einer auf 2/3 ermäßigten Höhe. Insoweit bezog sich die Beklagte auf die Entscheidung des BSG vom 07.12.1983 - 9a RVs 5/82 -.
Die Gebührenerhöhung gem. § 116 Abs. 4 BRAGO sei nicht anzuwenden. Das BSG habe mit Beschluss vom 13.12.1994 - 9 BVs 48/94 - entschieden, dass diese Gebührenerhöhung von dem Bevollmächtigten ein besonderes Bemühen um eine außergerichtliche Erledigung des Rechtsstreits verlange. Ein Bevollmächtigter sei gegenüber seinem Mandanten stets verpflichtet, das Vorverfahren gewissenhaft, sorgfältig und gründlich zu betreiben. Diese Tätigkeit werde durch eine Gebühr innerhalb des auf 2/3 herabgesetzten Rahmens nach § 116 Abs. 1 BRAGO vollständig abgegolten. Eine zusätzliche Erfolgsgebühr im Sinne des § 116 Abs. 4 BRAGO in Verbindung mit § 24 BRAGO sei darüber hinaus nicht gerechtfertigt. Einen Vergleich hätten die Beteiligten nicht geschlossen.
Hiergegen richtet sich die am 02.12.2003 erhobene Klage. Der Kläger akzeptiert die Minderung des Gebührenrahmens auf 2/3 und die Ansetzung der Mittelgebühr. Er begehrt jedoch, den Gebührenrahmen gem. § 116 Abs. 4 BRAGO zu erhöhen. Dadurch, dass er erfolgreich Widerspruch eingelegt habe, habe er an der Erledigung der Streitsache mitgewirkt im Sinne der §§ 116 Abs. 4, 24 BRAGO.
Der Kläger beantragt, den Bescheid vom 21.10.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.11.2003 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, weitere 136,88 Euro zu erstatten. Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie verweist ergänzend auf das Urteil des BSG vom 09.08.1995 - 9 RVs 7/94 -
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.
Gründe
Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Der Kläger hat Anspruch auf Erstattung von weiteren 136,88 Euro.
Gemäß § 63 Abs. 1 SGB X der Rechtsträger, dessen Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, demjenigen, der Widerspruch erhoben hat, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu erstatten, soweit der Widerspruch erfolgreich ist. Die Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwaltes oder eines sonstigen Bevollmächtigten im Vorverfahren sind gem. § 63 Abs. 2 SGB X erstattungsfähig, wenn die Zuziehung eines Bevollmächtigten notwendig war.
Der Widerspruch ist erfolgreich gewesen, denn die Beklagte hat ihm mit Bescheid vom 06.10.2003 voll abgeholfen. Sie hat anerkannt, dass die Zuziehung eines Bevollmächtigten notwendig war.
Wenn diese notwendig war, sind die gesetzlichen Gebühren und die notwendigen Auslagen eines Rechtsanwalts stets erstattungsfähig (Rechtsgedanke § 193 Abs. 3 SGG).
Bei Rahmengebühren bestimmt der Rechtsanwalt die Gebühr im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der Bedeutung der Angelegenheit, des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit sowie der Vermögens- und Einkommensverhältnisse des Auftraggebers gem. § 12 Abs. 1 Satz 1 BRAGO nach billigem Ermessen. Ist die Gebühr von einem Dritten zu ersetzen, so ist die von dem Rechtsanwalt getroffene Bestimmung gem. § 12 Abs. 1 Satz 2 BRAGO nicht verbindlich, wenn sie unbillig ist. Bei Rahmengebühren für die Tätigkeit eines Rechtsanwalts im Vorverfahren sind 2/3 der für das Verfahren vor den Sozialgerichten anfallenden Rahmengebühr als billig anzusehen (BSG, SozR 1300 § 63 Nr. 2).
Aufgrund des entsprechenden Anerkenntnisses der Beklagten ist von der Mittelgebühr, d.h. hier 236,00 Euro auszugehen.
Im Gegensatz zur Meinung der Beklagten erhöht sich diese Gebühr gem. § 116 Abs. 4 BRAGO, weshalb dem Kläger die Erstattung weiterer 136,88 EUR zusteht. Nach dieser Vorschrift erhält der Rechtsanwalt in den Verfahren des Absatzes 1 keine besonderen Gebühren nach den §§ 23, 24. Die Höchstbeträge des Absatzes 1 erhöhen sich statt dessen um 50 v.H.
Allerdings entspricht es ständiger Rechtsprechung des BSG und der wohl herrschenden Meinung in der Literatur, dass die Gebührenerhöhung nicht verlangt werden kann, wenn sich die Tätigkeit des Rechtsbeistandes darin erschöpft hat, den Widerspruch einzulegen und zu begründen. Einlegung und Begründung des Rechtsbehelfs seien bereits durch die Tätigkeitsgebühr - hier § 116 Abs. 1 BRAGO - abgegolten. Führe schon die Begründung einer Klage nicht zur Erhöhung der Rahmengebühr nach § 116 Abs. 4 BRAGO, weil sie zur ordnungsgemäßen Klageerhebung gehöre (§ 92 SGG), so könne die Begründung eines Widerspruchs diese Wirkung erst recht nicht haben. Eine zusätzliche Erfolgsgebühr, wie in § 24 und den darauf verweisenden § 116 Abs. 4 BRAGO vorgesehen, rechtfertige sich nur dann, wenn über die mit der ordnungsgemäßen Einlegung des Rechtsbehelfs verbundene Tätigkeit hinaus eine anwaltliche Tätigkeit entfaltet werde, die - wie mit ihr beabsichtigt - zur gütlichen Erledigung des Rechtsstreits führe. Dies sei vor allem in den Fällen denkbar, in denen der Kläger zunächst ein weitergehendes Ziel verfolgt hat, das er nach teilweise Abhilfe durch die Verwaltung auf Anraten seines Anwalts fallen lässt. In diesen Fällen komme die Streitbeendigung dem Abschluss eines Vergleichs nahe, der nach § 23 BRAGO eine höhere Gebühr auslöse. § 24 BRAGO wolle nur den Besonderheiten des Verwaltungsverfahrens in den Fällen Rechnung tragen, in denen eine Streitbeilegung nur der Form nach, nicht aber auch nach ihrem Inhalt, in anderer Weise als durch Vergleich erfolge. Das besonders vergütete Bemühen des Anwalts müsse dem eines Vergleichsabschlusses entsprechen (BSG, Beschluss vom 13.12.1994 - 9 BVs 48/94; in diesem Sinne auch BSG, Beschluss vom 22.02.1993 - 14 B/4 REg 12/91). Der Erfolg, den das Gesetz honorieren wolle, könne - wie bei der Vergleichsgebühr - nicht das Obsiegen einer Partei sondern nur die gütliche Beilegung des Streits sein. An die letztgenannte Zielrichtung der anwaltlichen Tätigkeit dürften aber nicht zu hohe Anforderungen gestellt werden, wenn der Gesetzeszweck erreicht werden solle (Gerold/Schmidt/ - von Eicken - BRAGO, 15.Auflage 2002 § 24 Rdnr. 7 mit zahlreichen Nachweisen auf die herrschende Meinung in Rechtsprechung und Literatur).
Das Gericht folgt dieser Auffassung nicht. Sie ist bereits mit dem Wortlaut von § 24 BRAGO nicht vereinbar. Diese Vorschrift spricht dem Rechtsanwalt die Gebühr zu, wenn sich eine Rechtssache ganz oder teilweise nach Zurücknahme oder Änderung des mit einem Rechtsbehelf angefochtenen Verwaltungsaktes erledigt. Im Gegensatz zu den Ausführungen im Beschluss des BSG vom 13.12.1994 (a.a.O.) ist der Vorschrift nicht zu entnehmen, dass nur den Besonderheiten des Verwaltungsverfahren in den Fällen Rechnung getragen werden soll, in denen eine Streitbeilegung nur der Form nach, nicht aber nach ihrem Inhalt, in anderer Weise als durch Vergleich erfolgt. Vielmehr fällt die Erledigungsgebühr auch dann an, wenn sich die Rechtssache ganz nach Zurücknahme des Verwaltungsakts erledigt (in diesem Sinne auch Mutschler, Kostenrecht in öffentlich rechtlichen Streitigkeiten, § 3 Rdn. 284; so auch noch Gerold/Schmidt, BRAGO, 7. Auflage 1981, Rdnr. 7 zu § 24 m.w.N.).
Die Rechtsauffassung des BSG und die herrschende Meinung führt dazu, dass im Falle der vollständigen Zurücknahme eines angefochtenen Verwaltungsaktes eine Gebührenerhöhung nach §§ 116 Abs. 4, 24 BRAGO praktisch nicht mehr anfällt. Ein Bevollmächtigter, dessen Mandant voll obsiegt hat, kann keine über die Begründung des Widerspruchs bzw. der Klage hinausgehende Tätigkeit mehr entfalten, die ein besonderes Bemühen im Hinblick auf eine gütliche Erledigung des Rechtsstreits darstellt. Er braucht dem Mandanten nur mitzuteilen, dass er gewonnen hat und nicht mehr beschwert ist. Dies ist aber bislang nicht als besonderes Bemühen anerkannt (Gerold/Schmidt/ - von Eicken - a.a.O. 15. Auflage 2002, Rdnr. 7 zu § 24).
Darüber hinaus führt die Rechtsauffassung des BSG und der herrschenden Meinung - gerichtsbekannt - auch zu dem Ergebnis, dass Prozessbevollmächtigte, die bewusst einen überhöhten Klageantrag stellen, bevorzugt werden, weil diese sich bei einem Abweichen von dem künstlich erhöhten Klageantrag immer darauf berufen können, dass ein Vergleich geschlossen worden sei und nicht lediglich ein angenommenes Anerkenntnis vorliege. Da nach den Streitwert zu berechnende Gerichtsgebühren im sozialgerichtlichen Verfahren der vorliegenden Art nicht anfallen (§ 183 SGG) ist ein derartiges Vorgehen risikolos und würde im Ergebnis Prozessbevollmächtigte dazu bringen, grundsätzlich aus gebührenrechtlichen Gründen überhöhte Klageanträge zu stellen. Der Bevollmächtigte, der sich bei der Antragstellung sorgfältig auf den erfolgsversprechend anfechtbaren Teil des Verwaltungsaktes beschränkt, ist bestraft, der Bevollmächtigte, der sorglos überhöhte Klageanträge stellt, kann sich - wenn er beispielsweise nach einem gerichtlichen Hinweis ein Teilanerkenntnis annimmt oder einen Vergleich schließt - über die Gebührenerhöhung freuen. Diese in der Praxis auftretende unbillige Konsequenz der Rechtsprechung des BSG vermeidet die Meinung, die - wie hier - die Gebührenerhöhung bereits dann bejaht, wenn der Bevollmächtigte einen Verwaltungsakt erfolgreich angefochten hat und sich eine gerichtliche Entscheidung (bzw. der Erlass eines Widerspruchsbescheides) erübrigt.
Die Berufung wird zugelassen, denn die Rechtssache hat gem. § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG grundsätzliche Bedeutung. Der Ausspruch dieser Entscheidung im Tenor ist lediglich versehentlich unterblieben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
SG Aachen:
Urteil v. 12.03.2004
Az: S 8 AL 150/03
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