Bundespatentgericht:
Beschluss vom 2. Juni 2004
Aktenzeichen: 9 W (pat) 327/02
(BPatG: Beschluss v. 02.06.2004, Az.: 9 W (pat) 327/02)
Tenor
Das Patent wird widerrufen.
Gründe
I.
Gegen das am 26. April 1996, unter Inanspruchnahme der Priorität der japanischen Voranmeldung JP 7-106369 vom 28. April 1995, angemeldete und am 8. Mai 2002 veröffentlichte Patent 196 16 815 ist Einspruch erhoben worden. Zur Begründung weist die Einsprechende insbesondere auf folgende Druckschriften hin:
WO 94/10016 A1, Bosch, Technische Berichte, Band 7 (1980), Heft 2.
Die Einsprechende trägt vor, gegenüber diesem Stand der Technik in Verbindung mit dem Fachwissen eines Durchschnittsfachmannes sei der Streitgegenstand nach Haupt- und Hilfsantrag nicht neu, zumindest beruhe er auf keiner erfinderischen Tätigkeit.
Die Einsprechende beantragt, das Patent zu widerrufen.
Die Patentinhaberin beantragt, das Patent im erteilten Umfang aufrechtzuerhalten, hilfsweise, das Patent mit folgenden Unterlagen beschränkt aufrechtzuerhalten:
Patentansprüche 1 und 2, Beschreibung S 1 und 2, jeweils eingegangen am 18. März 2003, Beschreibung Spalte 1 ab Abs 9 bis Spalte 31, Zeichnungen Figuren 1 bis 17B, jeweils gemäß Patentschrift.
Weiter erklärte die Patentinhaberin die Teilung des Patents.
Die Patentinhaberin widerspricht den Ausführungen der Einsprechenden in sämtlichen Punkten. Nach ihrer Überzeugung ist der mit Haupt- und Hilfsantrag verteidigte Gegenstand der jeweiligen Patentansprüche 1 neu gegenüber dem genannten Stand der Technik und beruht auch auf einer erfinderischen Tätigkeit.
Der Patentanspruch 1 nach Hauptantrag lautet:
Bremskraftregelvorrichtung für ein Kraftfahrzeug, dessen Räder (1FL, 1FR, 1RL, 1RR) jeweils mit einem Radzylinder (2FL, 2FR. 2RL, 2RR) versehen sind, um eine Bremskraft an das entsprechende Rad (1FL, 1FR, 1RL, 1RR) in Reaktion auf einen zugeführten Fluiddruck anzulegen, mitmindestens einem Magnetventil (8; 9), welches zwischen einer geöffneten und einer geschlossenen Position in Reaktion auf ein gepulstes Regelsignal bewegbar ist, um den dem Radzylinder (2FL, 2FR, 2RL, 2RR) zugeführten Fluiddruck zu regeln;
mindestens einer Sensorvorrichtung zur Erfassung von Raddrehzahlen, woraus der Schlupf eines Rades bestimmt werden kann und mit einer Regeleinheit (20) zum Regeln des Magnetventils (8; 9) auf der Grundlage des erfassten Schlupfes, wobei die Regeleinheit (20) eine Vorrichtung zum Einstellen des Tastverhältnisses des gepulsten Regelsignals zur Pulsbreitenmodulation aufweist, dadurch gekennzeichnet, dassbeim Schließen des Magnetventils (8, 9) das Tastverhältnis des Regelsignals in einer ersten Stufe auf einen mittleren Wert eingestellt wird, um den Kolben (D) des Magnetventils in eine Position zu bewegen, die im wesentlichen in der Mitte zwischen der geöffneten und der geschlossenen Position liegt, wonach im Anschluss an die erste Stufe in einer zweiten Stufe beim Schließen des Magnetventils (8, 9) das Tastverhältnis des Regelsignals in vorbestimmten Zeitintervallen eingestellt wird, um den Kolben (D) des Magnetventils in mehreren Schritten auf die geschlossene Position zu bewegen.
Rückbezogene Patentansprüche 2 bis 4 sind dem Patentanspruch 1 nachgeordnet.
Der einteilige Patentanspruch 1 nach dem Hilfsantrag lautet:
Bremskraftregelvorrichtung für ein Kraftfahrzeug, dessen Räder (1FL, 1FR, 1RL, 1RR) jeweils mit einem Radzylinder (2FL, 2FR, 2RL, 2RR) versehen sind, um eine Bremskraft an das entsprechende Rad (1FL, 1FR, 1RL, 1RR) in Reaktion auf einen zugeführten Fluiddruck anzulegen, mit - mindestens einem Magnetventil (8; 9), welches zwischen einer geöffneten und einer geschlossenen Position in Reaktion auf ein gepulstes Regelsignal bewegbar ist, um den dem Radzylinder (2FL, 2FR, 2RL, 2RR) zugeführten Fluiddruck zu regeln;
- mindestens einer Sensorvorrichtung zur Erfassung von Raddrehzahlen, woraus der Schlupf eines Rades bestimmt werden kann und - einer Regeleinheit (20) zum Regeln des Magnetventils (8; 9) auf der Grundlage des erfassten Schlupfes, wobei die Regeleinheit (20) eine Vorrichtung zum Einstellen des Tastverhältnisses des gepulsten Regelsignals zur Pulsbreitenmodulation aufweist,
- wobei die Regeleinheit (20) eine Änderung des Tastverhältnisses des Regelsignals in vorbestimmten Zeitintervallen vornimmt, um den Kolben des Magnetventils (8; 9) in mehreren Schritten in Richtung auf die geöffnete Position zu bewegen,
- wobei die Regeleinheit (20) beim Schließen des Magnetventils (8; 9) das Tastverhältnis des Regelsignals in einer ersten Stufe auf einen mittleren Wert einstellt, um den Kolben (D) des Magnetventils (8; 9) in eine Position zu bewegen, die im wesentlichen in der Mitte zwischen der geöffneten und der geschlossenen Position liegt,
- wobei die Regeleinheit (20) im Anschluss an die erste Stufe in einer zweiten Stufe beim Schließen des Magnetventils (8; 9) das Tastverhältnis des Regelsignals auf vorbestimmte Zeitintervalle einstellt, um den Kolben (D) des Magnetventils (8; 9) in mehreren Schritten auf die geschlossene Position zu bewegen, und - wobei von der Regeleinheit (20) eine erste Rate, mit welcher sich das Tastverhältnis des Regelsignals zum Bewegen des Kolbens (D) des Magnetventils (8; 9) auf die geschlossene Position ändert, auf einen kleineren Wert eingestellt wird, als eine zweite Rate, mit welcher sich das Tastverhältnis des Regelsignals zum Bewegen des Kolbens (D) des Magnetventils (8; 9) auf die geöffnete Position ändert.
Diesem Patentanspruch 1 ist ein Patentanspruch nachgeordnet.
II.
Die Zuständigkeit des Bundespatentgerichts ist durch PatG § 147 Abs 3 Satz 1 begründet. Der Einspruch ist zulässig. Er hat auch in der Sache Erfolg.
Das Patentbegehren nach Hauptantrag ist der Patentschrift zu entnehmen. Der Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag enthält außer sämtlichen Merkmalen des erteilten Patentanspruchs 1 zwei weitere Merkmale, die aus den erteilten Patentansprüchen 3 und 4 hervorgehen. Die Ursprungsoffenbarung ist unbestritten.
Durchschnittsfachmann ist ein Maschinenbauingenieur der Fahrzeugtechnik, der bei einem Kfz-Hersteller oder -Zulieferer mit der Entwicklung von Antiblockiervorrichtungen befasst ist und am Prioritätstag des Streitpatents über eine mehrjährige Berufserfahrung verfügte. Zu seinem einschlägigen Fachwissen zählen die grundlegenden Kenntnisse betreffend Antiblockiersysteme für Personenkraftwagen wie sie in Bosch, Technische Berichte, Band 7 (1980), Heft 2, S 65 bis 94, offenbart sind.
Eine gattungsgemäße Bremskraftregelvorrichtung für ein Kraftfahrzeug, aus der unstreitig alle im Oberbegriff des Patentanspruchs 1 enthaltenen Merkmale vorbekannt sind, ist in der WO 94/10016 A1 beschrieben. Die Kraftfahrzeugräder sind dort jeweils mit einem Radzylinder versehen, um eine Bremskraft an das entsprechende Rad in Reaktion auf einen zugeführten Fluiddruck anzulegen, vgl insb Fig 1. Außerdem sind Magnetventile vorhanden, welche zwischen einer geöffneten und einer geschlossenen Position in Reaktion auf ein gepulstes Regelsignal bewegbar sind, um den dem Radzylinder 1 zugeführten Fluiddruck zu regeln, vgl insb Anspruch 1 iVm Fig 1. Aus dieser Offenbarungsstelle ergibt sich auch, dass in der bei Antiblockiervorrichtungen üblichen Weise mindestens eine Sensorvorrichtung zur Erfassung von Raddrehzahlen vorhanden ist, woraus der Schlupf eines Rades bestimmt wird. Gleiches gilt für eine elektronische Schaltung (Regeleinheit) zum Regeln der Magnetventile auf der Grundlage des erfassten Schlupfes, wobei die Regeleinheit eine Vorrichtung zum Einstellen des Tastverhältnisses des gepulsten Regelsignals zur Pulsbreitenmodulation aufweist.
Bei den Magnetventilen handelt es sich um das Einlassventil 5 und das Auslassventil 6. Beide werden auf prinzipiell gleiche Weise, nämlich durch ein digitales, pulsbreitenvariiertes Steuersignal, angesteuert, vgl insb Anspruch 1 sowie S 8 Abs 2. Damit ist es möglich, die Ventile 5 und 6 wie Proportionalventile zu betreiben, vgl insb S 8 Abs 1. Bei dem Einlassventil 5 wird diese Art der Ansteuerung ausdrücklich dazu verwendet, es während der Druckaufbauphase auf einer Mittelstellung zu halten, vgl insb S 3 letzter Abs bis S 4 Abs 1. Der Kolben des Magnetventils 5 wird hierzu in eine Position bewegt, die im wesentlichen in der Mitte zwischen der geöffneten und der geschlossenen Position liegt. Da die Ventilansteuerung pulsbreitenmoduliert erfolgt, muss die elektronische Schaltung (Regeleinheit) folglich das Tastverhältnis des Ventil-Regelsignals in dieser ersten Stufe auf einen mittleren Wert einstellen. Dies entspricht dem ersten Merkmal des kennzeichnenden Teils des Patentanspruchs 1 des Streitpatents.
Dagegen wendet die Patentinhaberin ein, nach dem Wortlaut des streitpatentgemäßen Patentanspruchs 1, erstes Kennzeichenmerkmal, sei diese erste Stufe auf eine Phase "beim Schließen des Magnetventils" beschränkt, wie in den Figuren 17 A und 17 B der Streitpatentschrift dargestellt. Derartiges gehe aus der WO 94/10016 A1 nicht hervor.
Dies ist indes nicht der Fall. Die Figuren 17 A und 17 B der Streitpatentschrift zeigen eindeutig das Ansteuerungssignal des Einlassventils 8 in einer Druckaufbauphase, Fig 17 A, und den entsprechenden Druckaufbau im Radzylinder, Fig 17 B. Dies ergibt sich aus der Figurenbeschreibung und hat die Patentinhaberin auf ausdrückliche Nachfrage des Senats in der mündlichen Verhandlung bestätigt. In diesen Figuren 17 ist exakt die Druckaufbauphase dargestellt, die auf S 4 Abs 1 der WO 94/10016 A1 wörtlich genannt ist. Entsprechend der vorbekannten Lehre soll das Einlassventil in dieser Druckaufbauphase zunächst eine Mittelstellung einnehmen, wie vorstehend dargetan. Der WO 94/10016 A1 ist bezüglich einer der Mittelstellung nachfolgenden zweiten Stufe keine nähere Angabe zu entnehmen. Deshalb versteht der eingangs definierte Durchschnittsfachmann in nächstliegender Weise, dass ein der Mittelstellung funktionsnotwendig folgendes Öffnen oder Schließen des Magnetventils in der bei Antiblockiervorrichtungen üblichen Weise erfolgt, nämlich indem das Tastverhältnis des Regelsignals in vorbestimmten Zeitintervallen eingestellt wird, um den Kolben des Magnetventils in mehreren Schritten auf die geöffnete oder geschlossene Position zu bewegen, vgl insb Bosch, Technische Berichte, Band 7 (1980), Heft 2, S 79 Abs 7.3 iVm S 80/81 Bilder 20 bis 22. Somit unterscheidet sich die streitpatentgemäße Detailausgestaltung auch unter Berücksichtigung der Figuren 17 A und 17 B nicht von der Bremsanlage nach der WO 94/10016 A1.
Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 nach Hauptantrag ist demnach nicht patentfähig.
Die rückbezogenen Patentansprüche 2 bis 4 teilen dieses Schicksal und haben ebenfalls keinen Bestand.
Soweit die Merkmale der beanspruchten Bremskraftregelvorrichtung nach Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag mit denjenigen des Hauptantrages übereinstimmen, gelten die vorstehenden Ausführungen auch hier. Die beschränkenden zusätzlichen Merkmale betreffen ein schrittweises Öffnen sowie unterschiedliche Öffnungs- und Schließgeschwindigkeiten der Magnetventile. Derartiges entnimmt der um ein sachgerechtes Verständnis des Standes der Technik bemühte Durchschnittsfachmann bereits der WO 94/10016 A1. Denn durch die darin offenbarte Ventilansteuerung lässt sich die Geschwindigkeit des Druckanstieges bzw. der Gradient des Druckaufbaus in der Radbremse 1 regeln, vgl insb S 7 Abs 2. Dies gilt nach dem Anspruch 1 der Druckschrift gleichermaßen für das Einlass- wie für das Auslassventil. Die Ventilansteuerung erfolgt dort digital, worauf die Pulsbreitenmodulation hinweist. Demzufolge öffnen die Magnetventile schrittweise ("quasikontinuierlich", vgl a.a.O.), wie es die Taktung der elektronischen Steuerung vorgibt. Mithin bedurfte es am Prioritätstag des Streitpatents in Kenntnis der in der WO 94/10016 A1 offenbarten technischen Voraussetzungen nur noch deren sachgerechter Anwendung, um das beanspruchte Ventilverhalten durch ein geeignetes Programm in die elektronische Schaltung (Regeleinheit) zu implementieren. Falls es zur Ermittlung eines bevorzugten Ventilverhaltens einfacher Versuche bedurfte, fallen diese nach Auffassung des Senats allenfalls in den üblichen Tätigkeitsbereich des vorgenannten Durchschnittsfachmannes. Eine erfinderische Tätigkeit ist damit jedenfalls nicht verbunden.
Insoweit ist der Gegenstand des Patentanspruchs 1 nach Hilfsantrag ebenfalls nicht patentfähig.
Gleiches gilt für das Ventilverhalten nach dem rückbezogenen Patentanspruch 2.
Petzold Dr. Fuchs-Wissemann Küstner Bork Bb
BPatG:
Beschluss v. 02.06.2004
Az: 9 W (pat) 327/02
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