Bundesgerichtshof:
Beschluss vom 22. Oktober 2001
Aktenzeichen: AnwZ (B) 10/99

(BGH: Beschluss v. 22.10.2001, Az.: AnwZ (B) 10/99)

Tenor

Auf die sofortige Beschwerde des Antragstellers werden der Beschluß des Sächsischen Anwaltsgerichtshofs vom 4. September 1998 und der Bescheid des Antragsgegners vom 23. Mai 1995 aufgehoben.

Kosten und Auslagen werden nicht erhoben. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die ihm im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen außergerichtlichen Auslagen zu erstatten.

Der Geschäftswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 90.000 DM festgesetzt.

Gründe

I.

Der im Jahre 1952 geborene Antragsteller schloß sein rechtswissenschaftliches Studium im Jahre 1977 mit dem Grad eines Diplomjuristen ab. Anschließend war er zunächst als Richterassistent und sodann ab Juni 1978 als Richter am Kreisgericht K./Mitte-Nord und von 1981 bis 1984 am Bezirksgericht K. tätig. Danach war er bis Februar 1987 stellvertretender Direktor des Kreisgerichts K./West. Im März 1987 wurde er zum Direktor des Kreisgerichts K./Mitte-Nord ernannt. Im örtlichen Zuständigkeitsbereich dieses Gerichts lagen zwei Haftanstalten des MfS, so daß zahlreiche Strafverfahren mit politischem Inhalt zu erledigen waren. Dem Antragsteller oblag die Geschäftsverteilung dieser Verfahren, von denen er eine beträchtliche Anzahl selbst verhandelt, nach seiner Darstellung jedoch mindestens die Hälfte anderen Kollegen zugewiesen hat. Am 30. Mai 1990 wurde der Antragsteller als Direktor des Kreisgerichts abberufen. Seit dem 1. Juni 1990 ist er als Rechtsanwalt zugelassen.

Mit Bescheid vom 15. Mai 1995 hat der Antragsgegner die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft zurückgenommen, weil der Antragsteller bei seiner Tätigkeit als Strafrichter schuldhaft gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit verstoßen habe, indem er die Tatbestände des politischen Strafrechts exzessiv zum Nachteil der Angeklagten ausgelegt und angewendet habe. Den Antrag auf gerichtliche Entscheidung hat der Anwaltsgerichtshof zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die sofortige Beschwerde des Antragstellers.

II.

Das Rechtsmittel ist zulässig (§ 38 Abs. 1 Nr. 3 RAG, Art. 21 BRAO Neuordnungsgesetz, § 42 Abs. 1 Nr. 3 BRAO). Es hat auch in der Sache Erfolg und führt zur Aufhebung der Entscheidung des Anwaltsgerichtshofs sowie des vom Antragsgegner erlassenen Rücknahmebescheids.

1. Der angefochtene Bescheid beruht auf § 1 Abs. 2 des Gesetzes zur Berufung von Rechtsanwaltszulassungen, Notarbestellungen und Berufungen ehrenamtlicher Richter (RNPG) vom 24. Juli 1997 (BGBl. I S. 1386). Danach können vor dem 15. September 1990 ausgesprochene Zulassungen zur Rechtsanwaltschaft mit Wirkung für die Zukunft zurückgenommen werden, wenn sich der Rechtsanwalt vor seiner Zulassung eines Verhaltens schuldig gemacht hat, das ihn unwürdig erscheinen läßt, den Beruf eines Rechtsanwalts auszuüben, weil er gegen Grundsätze der Menschlichkeit oder der Rechtsstaatlichkeit insbesondere im Zusammenhang mit einer Tätigkeit als hauptamtlicher oder inoffizieller Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes verstoßen hat. Das Gesetz ist jedoch nicht auf diese Personengruppe beschränkt. Es bildet zugleich die Rechtsgrundlage dafür, Juristen, die auf andere Weise in das SED-Unrechtssystem verstrickt, beispielsweise an unberechtigten Freiheitsentziehungen beteiligt waren, aus der Rechtsanwaltschaft zu entfernen (vgl. Regierungsentwurf des Gesetzes, BT-Drucks. 12/2169 S. 6). Wie der Senat mehrfach entschieden hat, kann ein Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und Menschlichkeit auch durch die Mitwirkung als Richter oder Staatsanwalt an Urteilen in politischen Strafsachen begründet sein (Senatsbeschlüsse vom 24. Oktober 1994 -AnwZ (B) 30/94, BRAK-Mitt. 1995, 76; vom 31. Januar 1997 -AnwZ (B) 8/96, BRAK-Mitt. 1997, 204, 205; vom 29. September 1997 -AnwZ (B) 27/97, BRAK-Mitt. 1998, 89, 90; vom 16. Februar 1998 -AnwZ (B) 69/97, BRAK-Mitt. 1999, 92; vom 5. Oktober 1998 -AnwZ (B) 30/98).

a) Nicht jede Tätigkeit in der politische Strafsachen betreffenden Rechtsprechung der ehemaligen DDR rechtfertigt allerdings den Vorwurf eines Verstoßes gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit. Bei der Beurteilung des in Rede stehenden Verhaltens ist von dem Rechtssystem auszugehen, in das Richter und Staatsanwälte damals eingebunden waren. Sie hatten gerade im Bereich des politischen Strafrechts Vorschriften anzuwenden, die rechtsstaatlichen Anforderungen weder inhaltlich noch formal genügten. Es wäre daher mit dem Inhalt des Grundrechts der Berufsfreiheit nicht vereinbar, jeden Juristen, der aufgrund seines damaligen Amtes mit jenen Normen befaßt war, gleichsam automatisch von der Rechtsanwaltschaft fernzuhalten. Für die Prüfung, ob ein Rechtsanwalt vor seiner Zulassung durch die Tätigkeit in politischen Strafsachen gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit verstoßen hat, ist vielmehr stets auf die konkrete Rechtsanwendung abzustellen (Senatsbeschlüsse vom 31. Januar 1997, 29. September 1997, 16. Februar 1998, 5. Oktober 1998, alle aaO).

b) Ein zulassungsrechtlich erheblicher Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit oder der Menschlichkeit fällt jedoch dem zur Last, der die einschlägigen Vorschriften des Strafgesetzbuches oder der Strafprozeßordnung der DDR damals exzessiv zum Nachteil des Angeklagten ausgelegt und angewendet oder bei der Strafverfolgung Menschenverachtung an den Tag gelegt hat. Dies kann insbesondere dadurch geschehen sein, daß die angeordneten Rechtsfolgen auch auf der Grundlage des damals geltenden DDR-Strafrechts in grobem Mißverhältnis zu der abgeurteilten Tat stehen (Senatsbeschlüsse vom 29. September 1997, aaO; vom 16. Februar 1998, aaO; vom 5. Oktober 1998, aaO). Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Rechtsanwalt sich bei seiner früheren Tätigkeit der Rechtsbeugung schuldig gemacht hat; einen derartig engen Prüfungsmaßstab fordert Art. 12 GG nicht (BVerfG, Beschluß vom 28. Mai 1997 -1 BvR 304/97, BRAK-Mitt. 1997, 211, 212; Senatsbeschluß vom 5. Oktober 1998, aaO). Die Wahrnehmung der Aufgaben eines Rechtsanwalts im wiedervereinigten Deutschland durch einen ehemaligen Richter oder Staatsanwalt der DDR kann sowohl für den Berufsstand als auch für das rechtsuchende Publikum bereits dann eine unerträgliche, nicht hinnehmbare Belastung darstellen, wenn er für eine Rechtsanwendung verantwortlich ist, die für die davon Betroffenen zu unerträglichen, offensichtlich menschenrechtswidrigen Beeinträchtigungen geführt hat (Senatsbeschlüsse vom 29. September 1997, aaO; vom 16. Februar 1998, aaO; vom 5. Oktober 1998, aaO; vgl. auch BGHSt 41, 247, 256). Dabei steht der Annahme eines groben Mißverhältnisses zwischen der angeordneten Rechtsfolge und der ihr zugrundeliegenden Tat nicht entgegen, daß in vergleichbaren anderen Fällen ähnlich hohe unverhältnismäßige Strafen verhängt wurden.

2. Die vom Antragsteller bearbeiteten Verfahren betrafen hauptsächlich Verstöße gegen § 213 StGB/DDR (ungesetzlicher Grenzübertritt) und gegen § 214 StGB/DDR (Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit). Auf die zutreffenden Feststellungen des Anwaltsgerichtshofs unter I 2 und 3 (S. 4-43 der angefochtenen Entscheidung), die der Senat übernimmt und die von der Beschwerde auch nicht angegriffen worden sind, wird verwiesen.

a) Strafverfahren mit Schwerpunkt auf § 213 StGB/DDR aa) Sind Vorbereitungs- und Versuchshandlungen nach § 213 Abs. 4 StGB/DDR mit Freiheitsstrafen von mehr als einem Jahr geahndet worden, obwohl die nicht vorbestraften Täter schon weit vor der Grenze aufgegriffen worden waren und keine qualifizierten Begehungsformen (§ 213 Abs. 3 StGB/DDR) verwirklicht hatten, stellte die Verhängung einer solchen Sanktion in der Regel eine schwere Menschenrechtsverletzung dar (Senatsbeschlüsse vom 29. September 1997, aaO; 16. Februar 1998, aaO; 5. Oktober 1998, aaO). Lediglich das im Beschluß des Anwaltsgerichtshofs zu I 2.7 referierte Urteil vom 16. Juni 1988, das gegen den Angeklagten Ulrich H. eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verhängte, betrifft einen in diesem Bereich liegenden Sachverhalt. Der Angeklagte war mit dem Zug von seinem Wohnort nach Leipzig gefahren, von dort aus nach Budapest geflogen und hatte den Zug in der Absicht bestiegen, im Gebiet von Szombathely die Grenze zur Republik Österreich zu überschreiten. Er war bei einer Kontrolle auf dem Bahnhof Szombathely festgenommen worden.

bb) Der Senat hat auch dann eine schwere Menschenrechtsverletzung zum Nachteil von nicht vorbestraften Betroffenen bejaht, wenn deren Verhalten die Merkmale einer der in § 213 Abs. 3 Nr. 1-6 StGB/DDR als schwerer Fall bezeichneten Alternativen erfüllt, über den Versuch, das Land zu verlassen, hinausgehende Belange der DDR jedoch nicht beeinträchtigt hatte und gleichwohl Freiheitsstrafen von deutlich mehr als zwei Jahren verhängt worden waren (Senatsbeschlüsse vom 29. September 1997, aaO; vom 5. Oktober 1998, aaO; vgl. auch BGHSt 41, 247, 265). Die Angeklagten, die der Antragsteller mit Freiheitsstrafen von mehr als zwei Jahren belegt hat (vgl. AGH I 2.3., 2.4, 2.17 und 2.18), hatten jedoch ausnahmslos gegen weitere Strafvorschriften verstoßen und/oder besonders intensive und weitgehende Maßnahmen getroffen. Die mit rechtsstaatlichen Maßstäben unvereinbaren Urteile rechtfertigen unter Berücksichtigung der Staatsform und des Strafrechtssystems der DDR, in die der Antragsteller eingebunden war, noch keinen schwerwiegenden Schuldvorwurf, der ihn unwürdig erscheinen läßt, den Beruf des Rechtsanwalts auszuüben (vgl. auch BVerfG, Beschluß vom 21. September 2000 -1 BvR 514/97, BRAK-Mitt. 2000, 301, 304 f).

b) Strafverfahren mit Schwerpunkt auf § 214 StGB/DDR aa) Der Senat hat es in ständiger Rechtsprechung als eine schwere Menschenrechtsverletzung angesehen, wenn nicht vorbestrafte Personen, die sich lediglich an Zusammenkünften von Ausreisewilligen vor den örtlichen Rathäusern beteiligt hatten, ohne darüber hinausgehende Aktivitäten zu entfalten, wegen Verstoßes gegen § 214 Abs. 1 StGB/DDR mit Freiheitsstrafen von einem Jahr und mehr belegt wurden. Es ist schon kaum nachvollziehbar, daß das beschriebene Verhalten diesen Straftatbestand verwirklichte. Die damals bejahte Alternative einer Mißachtung der Gesetze in einer die öffentliche Ordnung gefährdenden Weise war nach den "Gemeinsamen Standpunkten" des Obersten Gerichts der DDR und des Generalstaatsanwalts der DDR vom 17. Oktober 1980 (Informationen des Obersten Gerichts Sonderdruck/1980 S. 17, zitiert nach BGHSt 41, 247, 266) dann erfüllt, wenn der Täter in der Öffentlichkeit oder gegenüber staatlichen Organen und deren Vertretern in demonstrativer Weise, kategorisch und provokatorisch die Gesamtheit der einzelnen Gesetze der DDR herabwürdigte und z.B. ankündigte, sie als ungültig oder nicht verbindlich zu betrachten. Eine entsprechende Erklärung konnte auch in demonstrativen Handlungen zum Ausdruck kommen (Kommentar zum Strafgesetzbuch der DDR, 5. Aufl., § 214 Anm. 4). Tatsachen, die geeignet sein könnten, das Verhalten der Angeklagten in dieser Weise zu würdigen, sind nicht ersichtlich. Selbst wenn man jedoch annähme, bei einem an die äußerste Grenze der Auslegung gehenden Verständnis der Norm sei es möglich, in den beschriebenen Zusammenkünften einen Verstoß gegen das in § 214 StGB/DDR enthaltene Verbot zu sehen, handelte es sich jedenfalls um Bagatelldelikte. Deren Ahndung mit Freiheitsstrafen von mindestens einem Jahr grenzte an Willkürakte, zumal die Vorschrift weniger einschneidende Sanktionen, insbesondere öffentlichen Tadel, Geldstrafe sowie eine zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe, vorsah (Senatsbeschluß vom 16. Februar 1998, aaO; vom 5. Oktober 1998, aaO; vgl. auch BGHSt 41, 247, 266).

In den im Beschluß des Anwaltsgerichtshofs I 3.12, 3.17, 3.18, 3,19, 3.20, 3.21, 3.22 und 3.25 beschriebenen Urteilen aus dem Jahre 1988 hat der Antragsteller gegen insgesamt elf bis dahin nicht vorbestrafte Personen Freiheitsstrafen zwischen einem Jahr und einem Jahr und acht Monaten verhängt. Den Betroffenen war nicht mehr als die wiederholte Teilnahme an sogenannten stillen Zusammenkünften vorgeworfen worden. Gegen einen Mann, der als Organisator solcher Zusammenkünfte hervorgetreten war, hat der Antragsteller durch Urteil vom 4. November 1988 (AGH I 3.27) sogar eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verhängt.

bb) Der Senat hat es ebenfalls grundsätzlich als schwere Menschenrechtsverletzung gewertet, wenn Freiheitsstrafen von einem Jahr und mehr gegen nicht vorbestrafte Personen ausgesprochen wurden, die lediglich an den DDR-Grenzkontrollstellen unter Vorlage ihres Personalausweises die Ausreise nach West-Berlin gefordert hatten, ohne daß andere Personen als Grenzbeamte das Ausreiseverlangen wahrgenommen hatten (BGHSt 41, 247, 273 ff; BGH, Urteil vom 15. September 1995 -5 StR 168/95; vom 19. Februar 1998 -5 StR 711/97, BGHR StGB § 336 DDR-Recht 29, Verfassungsbeschwerde nicht angenommen durch BVerfG, Beschluß vom 28. Juli 1998 -2 BvR 332/98; Beschluß vom 31. Januar 1997 -AnwZ (B) 8/96, BRAK-Mitt. 1997, 204, 205). Entsprechende Urteile hat der Antragsteller jedoch nicht erlassen.

3.

Die im angefochtenen Beschluß darüber hinaus beschriebenen Urteile in Strafverfahren mit Schwerpunkten auf § 212 Abs. 1 StGB/DDR (Widerstand gegen staatliche Maßnahmen, vgl. AGH I 1), § 217 StGB/DDR (Zusammenrottung, vgl. AGH I 4) und § 220 StGB/DDR (Öffentliche Herabwürdigung, vgl. AGH I 5.1 bis 5.15) beziehen sich überwiegend auf Handlungen, die auch nach rechtsstaatlichen Maßstäben jedenfalls im Ansatz strafwürdig oder ordnungswidrig erscheinen. Mögen die verhängten Strafen objektiv betrachtet unangemessen hart erscheinen, kann darin in Anbetracht der Struktur des damals in der DDR geltenden Strafrechts keine wesentliche Menschenrechtsverletzung gesehen werden.

4.

Die vom Antragsteller wegen Verstoßes gegen § 214 StGB/DDR verhängten, oben zu 2 b aa im einzelnen benannten Urteile stellten jedenfalls objektiv schwere Menschenrechtsverletzungen dar. Wie der Senat in den Beschlüssen vom 29. September 1997 (aaO), 16. Februar 1998 (aaO) und 5.

Oktober 1998 (aaO) im einzelnen ausgeführt hat, standen die verhängten Strafen selbst zum Inhalt der veröffentlichten Richtlinien des Obersten Gerichts der DDR in Widerspruch. Die einschlägigen Urteile lassen zudem ausnahmslos den Versuch vermissen, das ausgeurteilte Strafmaß nachvollziehbar zu begründen, und enthalten nicht einmal ansatzweise eine individuelle schuld- und tatbezogene Bewertung des den Angeklagten zur Last gelegten Verhaltens. Insbesondere geht aus den Urteilen nicht hervor, warum in Fällen mit Bagatellcharakter, die nur bei weitester Auslegung den Tatbestand der Norm erfüllen konnten, trotz der Vorschrift des § 61 Abs. 2 StGB/DDR Freiheitsstrafe als schärfste Sanktion verhängt wurde (vgl. auch BGHSt 41, 247, 265 ff). Dies läßt sich nur damit erklären, daß die Urteile ausschließlich der Abschreckung der Bevölkerung und der Machterhaltung des Systems dienen sollten. Sie sind daher als systembezogene Verfolgungshandlungen zu qualifizieren, die fundamentale Rechte des Menschen sowie zum Kernbestand eines rechtsförmig handelnden Staates gehörende Grundsätze verletzten, wobei für den Antragsteller diese Folgen seines Handelns aufgrund seiner Ausbildung und seiner in der Praxis gewonnenen Erfahrung auch absehbar waren (vgl. dazu BVerfGE 93, 213, 243 f).

5. Ob dem Antragsteller gleichwohl kein schweres persönliches Fehlverhalten zugerechnet werden kann, weil er durch die Wiederwahlanforderungen, die ständige Kontrolle und die jederzeitige Absetzbarkeit in hohem Maße vom Wohlwollen der Parteiführung abhängig war und der ständigen Kontrolle durch Weisungen und Überprüfungen seitens des Obersten Gerichts ausgesetzt war (dazu BVerfG, Beschluß vom 21. September 2000 -1 BvR 514/97, aaO), braucht der Senat nicht zu entscheiden. Selbst wenn den Antragsteller wegen der beschriebenen Urteile ein erheblicher persönlicher Schuldvorwurf trifft, rechtfertigt das jedenfalls heute nicht mehr, ihn als unwürdig anzusehen, den Beruf des Rechtsanwalts auszuüben.

Die besonders zu beanstandenden Urteile liegen inzwischen mehr als 12 Jahre zurück. Sie dienten der Stützung eines Staates, der vor über elf Jahren untergegangen ist. Der gegen die richterliche Tätigkeit des Antragstellers zunächst erhobene Vorwurf der Rechtsbeugung hat sich als nicht begründet erwiesen. Aus der Art und Weise, wie der Antragsteller seine Berufsausübung in einem totalitären Staat erläutert hat, kann nicht hergeleitet werden, daß er zu seiner damaligen Tätigkeit noch nicht die nötige innere Distanz gewonnen hat oder kein menschliches Verständnis für die Opfer der Repressionsmaßnahmen des ehemaligen DDR-Staatsapparates aufzubringen vermag. Da der Antragsteller seit der Wende als Rechtsanwalt beanstandungsfrei gearbeitet hat, rechtfertigt der gegen ihn begründete Vorwurf, in den oben zu 2 b beschriebenen Fällen exzessive Strafen verhängt zu haben, es heute nicht mehr, ihm die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft zu entziehen. Erweist sich somit der angegriffene Bescheid im Zeitpunkt der Entscheidung über die Beschwerde als nicht mehr begründet, unterliegt er der Aufhebung (vgl. BGH, Beschluß vom 14. Februar 2000 -AnwZ (B) 12/99). Die ungewöhnlich lange Dauer des gerichtlichen Verfahrens beruht nicht auf vom Antragsteller zu verantwortenden Umständen und darf sich daher im Ergebnis nicht zu seinem Nachteil auswirken.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 201 Abs. 2 2. Halbs., 40 Abs. 4 BRAO in Verbindung mit § 13 a Abs. 1 Satz 1 FGG.

Hirsch Fischer Ganter Otten Schott Wüllrich Frey






BGH:
Beschluss v. 22.10.2001
Az: AnwZ (B) 10/99


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