Verwaltungsgericht Hamburg:
Beschluss vom 7. Januar 2010
Aktenzeichen: 11 E 3588/09
(VG Hamburg: Beschluss v. 07.01.2010, Az.: 11 E 3588/09)
Tenor
1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragstellerin mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, welche dieser selbst zu tragen hat.
3. Der Streitwert wird auf 3.750,00 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragstellerin begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Anfechtungsklage vom 9. Oktober 2009 gegen die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Errichtung und Nutzung eines Gebäudes mit Orangerie.
Die Antragstellerin ist Eigentümerin des Grundstücks ... Südlich an dieses Grundstück grenzt das im Eigentum des Beigeladenen stehende Grundstück ... Die Antragsgegnerin erteilte dem Beigeladenen eine Baugenehmigung, unter anderem zur Errichtung eines 9 m langen und 3 m hohen Gebäudes direkt an der Grundstücksgrenze zur Antragstellerin. Es ist geplant, dieses Gebäude, das in der Baugenehmigung mit Gartenhaus/€Orangerie€/Abstellraum bezeichnet ist, unmittelbar entlang einer 2 m hohen Grenzmauer aus Naturstein zu errichten. Es soll dreiseitig geschlossen und zum Garten hin offen sein, woran sich eine Terrasse anschließt. In Richtung der ... soll eine weitere 2 m hohe Mauer das Gebäude begrenzen. Ein Drittel der Fläche ist als Abstellraum vorgesehen, die restlichen zwei Drittel werden als Orangerie bezeichnet. In der Bauvorlage sind an dieser Stelle ein Tisch und Stühle eingezeichnet. Die drei Wände der Orangerie sind als leichte Holzwände geplant, die auf einer Höhe von ca. 2 m enden und eine ca. 1 m große Lücke zum Dach lassen. Der Bauherr beabsichtigt, dass die Orangerie von der Terrasse aus und über den Abstellraum betreten werden kann. Das Gebäude soll ca. 16 m vom Wohnhaus des Beigeladenen errichtet werden.
II.
Der gemäß §§ 80a Abs. 3, 80 Abs. 5 VwGO zulässige Antrag ist unbegründet. Denn die vorzunehmende Interessenabwägung ergibt, dass das Interesse des Beigeladenen, ohne Verzögerung von der ihm erteilten Baugenehmigung, Gebrauch zu machen, dem der Gesetzgeber in § 212a Abs. 1 BauGB von vornherein größere Bedeutung beimisst, gewichtiger ist als das Interesse der Antragstellerin, den Beginn der Arbeiten zu verhindern.
Die Klage wird nämlich wahrscheinlich erfolglos bleiben, weil eine Verletzung subjektiver Rechte der Antragstellerin nicht ersichtlich ist. Das Vorhaben verletzt voraussichtlich keine die Antragstellerin schützenden Vorschriften, die im Verfahren nach § 80a Abs. 3 VwGO allein zu prüfen sind. Nachbarschützende bauordnungsrechtliche Vorschriften dürften nicht verletzt sein (1.). Die Verletzung die Antragstellerin schützender bauplanungsrechtlicher Normen ist nicht ersichtlich (2.).
1. Nachbarschützende Vorschriften des Bauordnungsrechts werden voraussichtlich nicht verletzt.
Nachbarschützende Normen des Bauordnungsrechts enthält die hamburgische Bauordnung lediglich in § 71 Abs. 2 HBauO, der die Einhaltung bestimmter vorgeschriebener Abstandsflächen betrifft. Die dort vorgesehene Mindesttiefe von 2,50 m dürfte vorliegend jedoch nicht einzuhalten sein, da es sich bei dem Gebäude mit Orangerie um ein ohne eigene Abstandsflächen zulässiges Vorhaben handeln wird.
Gemäß § 6 Abs. 1, S. 2, Abs. 7 S. 1 Nr. 1 HBauO sind eingeschossige Gebäude ohne Aufenthaltsräume mit einer mittleren Wandhöhe bis zu 3,0 m und einer Gesamtlänge je Grundstücksgrenze von bis zu 9,0 m ohne eigene Abstandsflächen zulässig. Diese Voraussetzungen werden voraussichtlich durch das Gebäude mit Orangerie erfüllt, insbesondere sollte es sich bei der Orangerie nicht um einen Aufenthaltsraum handeln.
Aufenthaltsräume sind nach § 2 Abs. 2 HBauO Räume, die zum nicht nur vorübergehenden Aufenthalt von Menschen bestimmt oder geeignet sind. Dies wird voraussichtlich bei der Orangerie nicht der Fall sein.
a) Vieles spricht bereits dafür, dass es sich bei der €Orangerie€ nicht um einen Aufenthaltsraum handelt, da diese zu einer Seite offen geplant ist.
Dabei kann dahinstehen, ob nicht schon der Begriff des Raumes in § 2 Abs. 2 HBauO dahin gehend auslegt, dass es sich € wie nach dem allgemeinen Sprachgebrauch (Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Bd. 5: O-So, 1980, Stichwort Raum) € um einen in allen drei Dimensionen durch Bauteile wie Wände, Böden und Decken abgegrenzten Bereich handelt (so auch Alexejew/Haase/Großmann, Hamburgisches Bauordnungsrecht, Ergänzungslieferung November 2008, § 2 Rn. 96).
Selbst wenn als Raum ein sich in alle drei Dimensionen erstreckendes, nicht notwendig durch Bauteile umschlossenes Gebilde ausreichen würde, dürfte jedenfalls § 44 HBauO und den dort aufgestellten Anforderungen an Aufenthaltsräume hingegen zu entnehmen sein, dass der hamburgische Gesetzgeber unter einem Aufenthaltsraum nur einen umschlossenen Raum fassen will. Anderenfalls wären die dort grundsätzlich aufgestellten Bestimmungen über die Raumhöhe (§ 44 Abs. 1 S. 1) und Belichtung und Belüftung durch notwendige Fenster (§ 44 Abs. 2 S. 1) zum Schutze der Gesundheit und des Wohlbefinden der Bewohner nicht einsichtig (vgl. Bürgerschaftsdrucksache VI/1258, S. 59 f. zur HBauO 1969; Alexejew/Haase/Großmann, Hamburgisches Bauordnungsrecht, Ergänzungslieferung November 2008, § 44 Rn. 3). Sind nämlich Fenster zur Belichtung und Belüftung bei Aufenthaltsräumen regelmäßig notwendig, so müssen diese in allen drei Dimensionen durch Bauteile begrenzt sein.
Dem widersprechen auch nicht die in Abs. 3 aufgenommenen Ausnahmen vom Erfordernis von Fenstern für Aufenthaltsräume, die nicht dem Wohnen dienen. Denn bei dieser Ausnahmeregel hatte der hamburgische Gesetzgeber Räume vor Augen, die umschlossen sind und auf Grund ausreichender technischer Maßnahmen keiner Belichtung und Belüftung bedürfen (vgl. Bürgerschaftsdrucksache VI/1258, S. 60 zur HBauO 1969: Kinoräume, Dunkelkammer, Kellergaststätten, Warenhäuser; Alexejew/Haase/Großmann, Hamburgisches Bauordnungsrecht, Ergänzungslieferung November 2008, § 44 Rn. 32a: künstliche Beleuchtung und mechanische Lüftung als fensterausgleichende Maßnahmen).
b) Selbst wenn aber ein zu einer Seite offenes Gebäude einen Aufenthaltsraum darstellen könnte, dürfte die genehmigte Orangerie nicht darunter fallen. Denn es dürften insoweit die weiteren Anforderungen, nämlich die Eignung oder Bestimmung zum nicht nur vorübergehenden Aufenthalt von Menschen, fehlen.
aa) Die Orangerie dürfte für den nicht nur vorübergehenden Aufenthalt von Menschen nicht geeignet sein.
Ein Aufenthalt ist nicht nur von vorübergehender Dauer, wenn der einmalige Aufenthalt nach seiner Zweckbestimmung bereits so lange dauert oder sich ein kürzerer Aufenthalt so regelmäßig wiederholt, dass es zum Schutz der sich dort aufhaltenden Personen gerechtfertigt ist, höhere Anforderungen zu stellen (Alexejew/Haase/Großmann, Hamburgisches Bauordnungsrecht, Ergänzungslieferung November 2008, § 2 Rn. 97; Reichel/Schulte, Handbuch Bauordnungsrecht, 2004, 9. Kapitel Rn. 3). Dabei ist es nicht erforderlich, dass der Aufenthalt ganzjährig stattfindet. Es genügt auch eine regelmäßige Nutzung während bestimmter Jahreszeiten, die nicht untergeordnet ist (Alexejew/Haase/Großmann, Hamburgisches Bauordnungsrecht, Ergänzungslieferung November 2008, § 2 Rn. 97).
Ob ein Gebäude für den so zu verstehenden nicht nur vorübergehenden Aufenthalt von Menschen geeignet ist, richtet sich nach objektiven Kriterien, wie die lichte Höhe, die Größe, die Lage und die Beschaffenheit des Objekts (vgl. Alexejew/Haase/Großmann, Hamburgisches Bauordnungsrecht, Ergänzungslieferung November 2008, § 2 Rn. 99). Diese Kriterien sprechen hier gegen einen entsprechende Eignung des angefochtenen Gebäudes. Zwar bietet die Orangerie mit einer geplanten lichten Höhe von 3 m und einer Größe von ca. 22 m erheblichen Raum für einen Aufenthalt. Allerdings ist sie 16 m vom Wohnhaus entfernt vorgesehen, so dass kein unmittelbarer, geschützter Zugang vom beabsichtigten Wohnhaus bestehen und ein Aufenthalt durch den bloßen Wechsel innerhalb der entsprechenden Wohnräume nicht in Betracht kommen wird. Zudem wird das mehrgeschossige Wohnhaus mit einer Vielzahl von Räumen bereits eine erhebliche Zahl an möglichen Aufenthaltsräumen bieten, so dass ein (permanentes) Ausweichen von Personen auf die Orangerie aller Voraussicht wenig wahrscheinlich ist.
Vor allem dürfte jedoch die offen gestaltete Planung der Orangerie gegen eine objektive Eignung als Aufenthaltsraum sprechen. Denn das Bauwerk wird nach seiner planmäßigen Fertigstellung Wind und Wetter in erheblichem Maße ausgesetzt sein. Nach den Bauzeichnungen ist die Orangerie in Richtung Norden vollständig offen gestaltet. Die seitlichen Begrenzungen verdecken nach den Vorlagen gerade einmal 2/3 (ca. 2 m) der Höhe. Ein besonders großer Witterungsschutz geht mit dieser Gestaltung nicht einher. (Regen-)Böen könnten problemlos von Norden oder über die Lücken in den Seitenwänden in die Orangerie eindringen. Eine Beheizung oder ein anderer Witterungsschutz ist nicht vorgesehen.
bb) Darüber hinaus dürfte es auch an der subjektiven Bestimmung zum nicht nur vorübergehenden Aufenthalt fehlen. Die Bestimmung erfolgt grundsätzlich durch die Bauvorlagen (vgl. §§ 3 Abs. 1 Nr. 2, 11 Abs. 2 Nr. 1 HmbBauVorlVO), welche keine Anhaltspunkte für einen nicht nur vorübergehenden Aufenthalt bieten dürfte.
Im Bauplan ist zwar für die Orangerie ein Tisch mit mehreren Stühlen eingezeichnet. Allerdings ist aus der bloßen Anwesenheit eines Tisches nicht zu folgern, dass längere oder regelmäßige Aufenthalte geplant. Gerade im Gartenbereich finden sich nämlich häufig Möbel, die nur selten im Gebrauch sind.
Ferner sollte auch die Bezeichnung des Raumes als Orangerie keine subjektive Bestimmung zum Aufenthaltsraum enthalten. Der Begriff bezeichnete zwar ursprünglich winterfeste Gewächshäuser für Orangenbäume oder exotische Pflanzen, die den Anforderungen an einen Aufenthaltsraum i.S.d. § 2 Abs. 5 HBauO genügt haben dürften (Brockhaus, 16. Bd.: NORE-PERT, 20. Aufl., 1998; Brockhaus Wahrig, Deutsches Wörterbuch, 4. Bd.: K-Oz, 1982; Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Bd. 5: O-So, 1980). Im Laufe des 17. Jahrhunderts wurden Orangerien sogar zunehmend ortsfest errichtet und mit beheizbaren Salons und Badestuben ausgestattet, so dass sie wintergartenähnlich und vornehmlich in den Parks barocker Schlösser zu finden waren (Brockhaus, 16. Bd.: NORE-PERT, 20. Aufl., 1998; Brockhaus Wahrig, Deutsches Wörterbuch, 4. Bd.: K-Oz, 1982; BPatG, Beschl. v. 14.1.2003 € 24 W (pat) 50/02). Ab dem 19. Jahrhundert wurden sie mehr und mehr durch Gewächshäuser aus Eisen und Glas abgelöst (Brockhaus, 16. Bd.: NORE-PERT, 20. Aufl., 1998), so dass Orangerien heute eher als eine Art herrschaftlicher Gartenhäuser zu verstehen sein dürften.
Diese Beschreibungen werden jedoch voraussichtlich für das Vorhaben des Beigeladenen nicht zutreffen. Weder findet sich im Plan eine Beheizung noch ist das Objekt winterfest noch sollen Pflanzen dort überwintern oder wachsen. Mit dem Begriff der Orangerie dürfte hier lediglich eine andere, vornehmere Bezeichnung für eine Art von Gartenpavillon gewählt worden sein, die keine Rückschlüsse auf eine Bestimmung zum nicht nur vorübergehenden Aufenthalt enthält.
2. Das Vorhaben dürfte auch keine nachbarschützenden Vorschriften verletzen, wobei hier allein ein Verstoß gegen das nachbarschützende Rücksichtnahmegebot in Betracht kommt. Das Vorhaben verletzt jedoch das Gebot der Rücksichtnahme nicht.
Das nachbarschützende subjektive Rücksichtnahmegebot, das hier § 15 Abs. 1 S. 2 BauNVO zu entnehmen ist, wird nur dann verletzt, wenn von dem Vorhaben nachteilige Auswirkungen ausgehen, die die Wohnnutzung auf dem Grundstück des Rechtsschutzsuchenden unzumutbar beeinträchtigen. Das Gebot der Rücksichtnahme begründet nämlich subjektiv-rechtliche Abwehrrechte nur, soweit in qualifizierter und zugleich individualisierbarer Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar eingegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist. Eine derartige unzumutbare Beeinträchtigung des Grundstücks der Antragstellerin ist hier aber nicht gegeben.
Für eine unzumutbare Beschattung oder Lärmbelästigung des Grundstücks der Antragstellerin ist nichts ersichtlich. Die bloße unsubstantiierte Behauptung, eine hinreichende Besonnung werde genommen und eine nicht hinnehmbare Lärmbelästigung werde auftreten, genügt jedenfalls nicht. Denn der hamburgische Gesetzgeber hat in § 6 Abs. 7 S. 1 Nr. 1 HBauO bestimmte (niedrige) Gebäude in Bezug auf die Abstandsflächen privilegiert, da bei diesen im Regelfall Beeinträchtigungen der nachbarlichen Interessen im Hinblick auf Lärm, Belichtung und Belüftung nicht vorliegen (vgl. Alexejew/Haase/Großmann, Hamburgisches Bauordnungsrecht, Ergänzungslieferung November 2008, § 6 Rn. 136, 131 sowie OVG Hamburg, Beschl. v. 26.9.2007 € 2 Bs 188/07, NordÖR 2008, 73 ff. zur Einhaltung der von der HBauO vorgesehenen Abstandsflächen). Hier bestehen keine besonderen Umstände, die dieser Regelhaftigkeit entgegenstehen.
III.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO, die Entscheidung über den Streitwert folgt aus §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.
VG Hamburg:
Beschluss v. 07.01.2010
Az: 11 E 3588/09
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