Anwaltsgerichtshof des Landes Nordrhein-Westfalen:
Urteil vom 1. Juli 2005
Aktenzeichen: (2) 6 EVY 7/04
(AGH des Landes Nordrhein-Westfalen: Urteil v. 01.07.2005, Az.: (2) 6 EVY 7/04)
Tenor
Auf die Berufung der Generalstaatsanwaltschaft Köln hin wird das Urteil des Anwaltsgerichts Köln für den Bezirk der Rechtsanwaltskammer Köln vom 13.07.2004 aufgehoben.
Der angeschuldigte Rechtsanwalt K ist einer Verletzung seiner anwaltlichen Berufspflichten schuldig (§§ 43, 49 BRAO). Ihm wird ein Verweis erteilt und eine Geldbuße von 6.000,- € auferlegt.
Der angeschuldigte Rechtsanwalt hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Der angeschuldigte Rechtsanwalt ist vom Vorwurf einer Pflichtverletzung gemäß
§ 49 BRAO durch das angefochtene Urteil freigesprochen worden. Ihm war vorgeworfen worden, dass er die Aussetzung einer Verhandlung dadurch provoziert habe, dass er als Pflichtverteidiger seine Robe abgelegt, seinen Platz neben dem Angeklagten verlassen und erklärt habe: "Ich bin nicht mehr da". Das Anwaltsgericht hat seinen Freispruch (mit widersprüchlicher Begründung) darauf gestützt, es habe kein vorsätzlicher Verstoß gegen § 49 BRAGO vorgelegen. Ein fahrlässiger Verstoß scheide aufgrund eines unvermeidbaren Verbotsirrtums aus. Das Verhalten sei als "ultima ratio" zulässiges Verteidigerverhalten gewesen.
Hiergegen wendet sich die Generalstaatsanwaltschaft Köln mit ihrer zulässigen Berufung. Diese hatte Erfolg.
Der Senat hat aufgrund der Hauptverhandlung folgende Feststellungen treffen können:
Der am 28.05.1960 geborene Rechtsanwalt ist ledig und hat keine Kinder. Seine Praxisanschrift lautet: Q-Str. , ......1 F. Privat wohnt er ebenfalls in F. Er verfügt über ein geregeltes Einkommen. Er und sein Verteidiger I sind Sozien einer Sozietät, in der insgesamt acht Anwälte tätig sind. Sein fachlicher Schwerpunkt liegt zu 80 % im Bereich des Strafrechts. Er ist Fachanwalt für Strafrecht.
Zur Sache hat der Senat folgende Feststellungen treffen können:
Der angeschuldigte Anwalt verteidigte in einem Berufungsverfahren vor dem Landgericht Aachen den damaligen Angeklagten F2 zunächst als Wahl-, später als Pflichtverteidiger. Tatvorwurf war Beleidigung und Bedrohung eines Sozialamtsmitarbeiters. Im ersten Berufungstermin vom 17.06.2002, an dem der Angeschuldigte noch als Wahlverteidiger teilnahm, kam es zu Beginn der Hauptverhandlung zu einem Disput zwischen Vorsitzendem und Angeschuldigten über die Sitzordnung. Der Angeschuldigte versetzte daraufhin den Tisch, an dem er gemeinsam mit dem Angeklagten saß. Der Vorsitzende forderte ihn daraufhin auf, den Tisch wieder in die ursprüngliche Position zurückzusetzen. Dieser Aufforderung kam er nicht nach. Der Vorsitzende stellte daraufhin den Tisch selbst zurück. Dies nahm der Angeschuldigte zum Anlass, den Vorsitzenden wegen Befangenheit abzulehnen. Die Hauptverhandlung wurde daraufhin unterbrochen. Mit Beschluss vom 20.06.2002 wurde durch den Vorsitzenden der Vertretungskammer das Befangenheitsgesuch zurückgewiesen. In der Ausfertigung wurde dieser Beschluss fälschlicherweise auf den
29. Juni 2002 datiert. Der Vorsitzende beraumte daraufhin unter dem 28. Juni 2002 erneut Hauptverhandlung auf den 16. September 2002 an. Mit der Terminsladung wies er auf die falsche Datierung des Beschlusses vom 20.06.2002 in der Ausfertigung hin. Mit Schriftsatz vom 08.07.2002 legte der angeschuldigte Rechtsanwalt gegen den Beschluss vom 20.06.2002 Beschwerde zum Oberlandesgericht Köln ein.
In diesem Schreiben bezeichnete er selbst diesen Beschluss zweimal als "Beschluss vom 20.06.2002". Die Beschwerde war, was der Angeschuldigte als Fachanwalt für Strafrecht wusste, unzulässig (§ 28 Abs. 2 S. 2 StPO), da die Entscheidung einen erkennenden Richter betraf.
In der Hauptverhandlung vom 21.10.2002 (der Termin vom 16.09.2002 war wegen Verhinderung von Zeugen aufgehoben worden) stellte der Angeschuldigte - er war zwischenzeitlich zum Pflichtverteidiger bestellt worden - gleich zu Beginn der Verhandlung einen schriftsätzlich vorbereiteten Befangenheitsantrag. Dieser wurde darauf gestützt, dass das Befangenheitsgesuch erst unter dem 29.06.2002 (falsches Datum der Ausfertigung) beschieden worden sei und der Vorsitzende bereits vor dieser Entscheidung am 28.06.2002 - obwohl er zu dem Zeitpunkt noch abgelehnt gewesen sei - durch seine Ladungsverfügung tätig geworden sei. Nachdem der Vorsitzende in seiner dienstlichen Stellungnahme zu diesem Ablehnungsgesuch darauf hingewiesen hatte, dass dem Verteidiger aufgrund der Akteneinsicht bekannt sei, dass der Originalbeschluss vom 20.06.2002 datiere, rechtfertigte der Verteidiger sein Ablehnungsgesuch weiter mit Schriftsatz vom 29.10.2002, in dem er Ausführungen dazu machte, dass in der "Ausfertigung" erst der Originalbeschluss zu sehen sei. Das Befangenheitsgesuch wurde sodann unter dem 21.10.2002 verworfen.
Die Hauptverhandlung vom 09.12.2002 begann damit, dass der damalige Angeklagte, entgegen seinem Verhalten in erster Instanz, keine Angaben zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen machte. Daraufhin ordnete der Vorsitzende an, dass die Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen aus dem Protokoll der amtsgerichtlichen Hauptverhandlung verlesen werden sollten. Dies wurde vom Angeschuldigten beanstandet, weil "das dem Unmittelbarkeitsgrundsatz widerspricht". Diese Beanstandung wurde durch Beschluss der Kammer zurückgewiesen. Daraufhin stellte der Verteidiger einen Beweisantrag des Inhalts, dass der Angeklagte sich in erster Instanz ausführlicher und anders geäußert habe, als es im Protokoll festgehalten sei. Er bezog sich auf Zeugnis des erstinstanzlichen Richters und der Protokollführerin. Dieser Beweisantrag wurde zurückgewiesen. Die in ihm behaupteten Tatsachen zur Berufsausbildung und zum Werdegang wurden als wahr unterstellt.
Nun beantragte der Verteidiger vor Vernehmung des geschädigten Zeugen die Beiziehung der Akten des Sozialamts. Gründe, warum er diese vor Vernehmung des Zeugen S benötigte, gab er nicht an. Der Vorsitzende lehnte daraufhin den Beiziehungsantrag ab. Der Angeschuldigte beanstandete diese Verfügung. Daraufhin verließen der Vorsitzende und die beiden Schöffen den Sitzungssaal zur Beratung. Nach Rückkehr verkündete der Vorsitzende die Entscheidung, dass seine Verfügung bestätigt werde. Daraufhin stellte der Angeschuldigte einen Befangenheitsantrag mit der Begründung, das Gericht habe den Sitzungssaal nur für 12 bis 15 Sekunden verlassen. In dieser Zeit sei keine ordnungsgemäße Beratung möglich gewesen. Dieser Befangenheitsantrag wurde als unzulässig verworfen, da mit ihm offensichtlich das Verfahren nur verschleppt werden solle. Der Angeschuldigte habe bereits in den beiden Vorterminen jeweils unbegründete Befangenheitsanträge gestellt, weshalb die Verschleppungsabsicht offensichtlich sei. Zudem sei es dem Angeschuldigten als langjährigem Strafverteidiger hinlänglich bekannt, dass auch innerhalb einer kurzen Zeit eine Beratung stattfinden könne. Nach Verkündung dieses Beschlusses lehnte der Angeschuldigte erneut die gesamte Kammer wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Das Ablehnungsgesuch stützte er auf die Begründung des zurückweisenden Beschlusses. Auch dieser Antrag wurde gemäß § 26 a Abs. 1 Nr. 3 StPO als unzulässig verworfen. Zur Begründung wurde darauf verwiesen, dass das Ablehnungsgesuch keine neuen Tatsachen enthalte, sondern sich lediglich auf die vorangegangene Sachentscheidung der Kammer beziehe. Die Befangenheitsanträge, die sich auf einen Verwerfungsbeschluss, der mit Verschleppungsabsicht begründet worden sei, bezögen, könnten konsequenterweise auch ihrerseits nur das Ziel der Verschleppung des Verfahrens haben. Dies nahm der Angeschuldigte zum Anlass, einen erneuten Befangenheitsantrag zu stellen, mit dem er erneut im Wesentlichen geltend machte, Verschleppungsabsicht bestehe nicht. Dieser Antrag wurde erneut mit folgender Begründung verworfen:
"Das Befangenheitsgesuch wird aus den entsprechend anwendbaren Gründen der vorangegangenen Verwerfungsbeschlüsse gleichfalls als unzulässig verworfen. Die Kammer weist darauf hin, dass weitere Befangenheitsanträge, die sich auf bereits ergangene Beschlüsse der Kammer beziehen - ohne dass das Verfahren seinen
Fortgang genommen hat -, nicht mehr beschieden werden".
Dies nahm der Angeschuldigte zum Anlass, einen vierten Befangenheitsantrag zu stellen und ihn mit dem Inhalt des Ablehnungsbeschlusses zu begründen. Diesen Antrag nahm der Vorsitzende ins Protokoll auf und wollte - ohne über ihn befunden zu haben - mit der Vernehmung des Zeugen S zur Sache fortfahren.
Daraufhin erklärte der Angeschuldigte: "Wenn Sie meinen Antrag nicht bescheiden, gehe ich. Es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung vor.". Als der Vorsitzende sich weiter anschickte, mit der Vernehmung des Zeugen fortzufahren, erhob sich der Angeschuldigte von seinem Stuhl, zog seine Robe aus und erklärte: "Jedenfalls jetzt muss die Sitzung beendet werden." Weiter erklärte er: "Ich bin nicht mehr da". Auf Antrag des Vertreters der Staatsanwaltschaft wurde daraufhin die Hauptverhandlung ausgesetzt und dem Angeschuldigten die verursachten Kosten gemäß § 145 Abs. 4 StPO auferlegt. Ferner entpflichtete ihn der Vorsitzende und ordnete dem damaligen Angeklagten einen neuen Pflichtverteidiger bei.
Die gegen diese Entscheidungen eingelegte Beschwerde bzw. sofortige Beschwerde wurde vom Oberlandesgericht Köln verworfen. Dies sah sowohl die Voraussetzungen für die Entpflichtung als gegeben an als auch die Auferlegung der Kosten als berechtigt. Der Angeschuldigte habe schuldhaft die Aussetzung der Hauptverhandlung verursacht. Sein Verschulden entfalle nicht deshalb, weil ihm ein anderes Mittel zur wirksamen Verteidigung des Angeklagten nicht zur Verfügung gestanden hätte.
Diese Feststellungen beruhen auf der Einlassung des Angeschuldigten und der weiteren Beweisaufnahme, wie sie sich aus dem Hauptverhandlungsprotokoll vom 01.07.2005 ergibt.
Der Angeschuldigte hat den äußeren Geschehensablauf so eingeräumt, wie ihn der Senat festgestellt hat. Er hat weiter dazu ausgeführt, sein Verhalten sei gerechtfertigt gewesen. Er habe den damaligen Angeklagten "vor diesem Richter" schützen müssen. Zudem habe er noch im Verhandlungssaal erklärt, er sei bereit, das Mandat
fortzuführen, "falls das Gericht sich so verhalten würde, wie ich wollte". Dies sei allerdings nicht mehr ins Protokoll aufgenommen worden.
Nach den getroffenen Feststellungen hat sich der Angeschuldigte einer Standesverfehlung gemäß §§ 49, 43 BRAO schuldig gemacht. Er hat gegen die Verpflichtung verstoßen, ein Pflichtverteidigermandat ordnungsgemäß durchzuführen. Es ist anerkannt, dass es in der Regel standeswidrig ist, wenn ein zum Pflichtverteidiger bestellter Rechtsanwalt in einem Falle notwendiger Verteidigung eigenmächtig die Hauptverhandlung verlässt, um durch seine Abwesenheit (vgl. § 338 Nr. 5 StPO) deren Unterbrechung zu erzwingen (vgl. BGH StV 1981, 133, 135 m.w.N.). Dies ergibt sich auch aus der Regelung des § 145 Abs. 4 StPO, wonach dem Verteidiger im Falle einer notwendigen Verteidigung Kosten aufzuerlegen sind, wenn er durch seine Schuld, d.h. insbesondere durch Ausbleiben in der Hauptverhandlung, unzeitiges Sich-Entfernen oder Weigerung, die Verteidigung zu führen (§ 145 Abs. 1 StPO), eine Aussetzung des Verfahrens erforderlich macht.
Aus dieser Regelung ergibt sich auch, dass dem Pflichtverteidiger in diesem Zusammenhang keine besonderen Verpflichtungen auferlegt werden, die einen Wahlverteidiger nicht treffen würden. Auch ein Wahlverteidiger würde sich - dann allerdings nur gemäß § 43 BRAO - standeswidrig verhalten, wenn er sein Mandat niederlegt und die Verteidigung einstellt, um so die Unterbrechung einer Hauptverhandlung zu erreichen. Der Angeschuldigte hat auch, wie das Oberlandesgericht Köln zutreffend festgestellt hat, gegen diese Norm verstoßen, auch wenn er den Sitzungssaal nicht verlassen hat. Er hat jedenfalls, was sich aus seinen Erklärungen: "Jedenfalls jetzt muss die Sitzung beendet werden." und "Ich bin nicht mehr da." eindeutig ergibt, sich geweigert, die Verteidigung weiterzuführen mit dem Ziel, die Aussetzung des Verfahrens zu provozieren.
Dies geschah auch vorsätzlich. Denn der Angeschuldigte kannte alle objektiven Umstände, welche zur Verwirklichung des Tatbestandes führten. Ziel seines Verhaltens war es auch gerade, durch die Beendigung der Verteidigung die Aussetzung des Verfahrens zu erreichen.
Sein Verhalten war auch nicht gerechtfertigt. Zwar wird in Literatur und Rechtsprechung angenommen, dass ein Verhalten der hier erörterten
Art in Ausnahmefällen dann nicht standeswidrig sei, wenn der Verteidiger quasi als "ultima ratio" zum Schutze des Angeklagten die weitere Mitwirkung am Verfahren aus triftigem Grund ablehne (vgl. BGH a.a.O., OLG Hamm JMBl. NRW 1967, 105; Dahs, Das Handbuch des Strafverteidigers, 6. Aufl., RN 764). Eine solche Rechtfertigung ist jedoch nur dann gegeben, wenn durch das Verhalten des Vorsitzenden bzw. des Gerichts in die Rechte des Angeklagten oder des Verteidigers rechtswidrig in massiver Weise eingegriffen wird. Ein solcher Sachverhalt war hier erkennbar nicht gegeben. Dies hat das Oberlandesgericht Köln bereits zutreffend festgestellt. So war die Verwerfung der ersten drei Befangenheitsanträge als unzulässig wegen Verschleppungsabsicht nicht offensichtlich rechtswidrig. Hierbei hat die Kammer zu Recht auch das Vorverhalten des Verteidigers in den vorangegangenen Terminen herangezogen. Schon die unzulässige Beschwerde gegen die Verwerfung des ersten Befangenheitsantrags konnte nur der Verfahrensverschleppung dienen. Dem Angeschuldigten als Fachanwalt für Strafrecht war dies auch bewusst. Gleiches gilt für den auf einen - für ihn erkennbaren und erkannten - falschen Sachverhalt gestützten zweiten Befangenheitsantrag. Dass ihm bewusst war, dass der Beschluss, mit dem über die Befangenheit des abgelehnten Richters entschieden worden war, vor der erneuten Terminierung ergangen war, ergibt sich bereits aus dem oben wiedergegebenen Inhalt seiner Beschwerde. Dass seine Rechtsausführungen im Schriftsatz vom 29.10.2002 zur Frage, wann der streitige Beschluss ergangen sei, ersichtlich rechtsfehlerhaft sind, war auch dem Angeschuldigten bewusst. Er kann keinesfalls ernsthaft vertreten wollen, dass der Beschluss, welcher ihm gleichzeitig mit der Ladungsverfügung vom 28.08.2002 zugesandt worden war, erst nach der Ladungsverfügung "ergangen" sei. Hier wollte er sich einen erkennbaren und von ihm erkannten Schreibfehler der Kanzlei für verfahrensfremde Ziele zunutze machen. Die Befangenheitsanträge, die ersichtlich ohne sachlichen Grund in der Hauptverhandlung vom 09.12.2002 gestellt wurden, waren daher zu Recht als unzulässig verworfen worden. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass dies nichts mit der vom Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 27.02.2004 (BGH 2 StR 496/03) gerügten Vorgehensweise zu tun hat. Der Bundesgerichtshof hat in der auch vom Anwaltsgericht herangezogenen Entscheidung die Zurückweisung "offensichtlich unbegründeter" Ablehnungsanträge als "unzulässig" gerügt. So liegt der Fall hier nicht. Die Anträge sind nicht etwa als "offensichtlich unbegründet", son-
dern als in Verschleppungsabsicht gestellt als unzulässig zurückgewiesen worden. Dies ist im Gesetz so vorgesehen (§ 26 a Abs. 1 Nr. 3 StPO). Dass der Angeschuldigte letztlich dieses Ziel (der Verschleppung) tatsächlich auch verfolgte, ergibt sich aus weiteren Äußerungen im Rahmen der Verhandlung vor dem Senat. Ziel der Verhandlungsführung war es offensichtlich, dem als unbequem empfundenen Vorsitzenden zu entgehen. Wie der Angeschuldigte selbst erklärte, war ihm damals schon bekannt, dass dieser im folgenden Jahr (die Hauptverhandlung fand im Dezember statt) eine große Strafkammer übernehmen sollte.
Auch die Erklärung des Vorsitzenden, weitere Befangenheitsanträge, die sich auf bereits ergangene Beschlüsse der Kammer beziehen - ohne dass das Verfahren seinen Fortgang genommen hat - nicht mehr zu bescheiden und die Fortsetzung der Hauptverhandlung, ohne den daraufhin gestellten vierten Befangenheitsantrag beschieden zu haben, stellt kein solches rechtswidriges Verhalten dar, dass der Angeschuldigte die Aussetzung der Hauptverhandlung erzwingen durfte. Wie bereits das Oberlandesgericht Köln zu Recht ausgeführt hat, fand die Vorgehensweise ihre prozessuale Stütze in § 29 Abs. 2 StPO. Das Gericht durfte die Hauptverhandlung zunächst fortsetzen, ohne über die Befangenheitsanträge zu befinden. Dies war auch
in jedem Falle sachgerecht. Zu bedenken ist, dass die Zeugen zwischenzeitlich bereits zum dritten Male zu einer Hauptverhandlung geladen worden waren. Auch im Interesse dieser Zeugen war ihre sofortige Vernehmung zwingend geboten.
Die tatsächlichen Voraussetzungen für eine Rechtfertigung lagen somit nicht vor. Da dem Angeschuldigten diese Tatsachen auch allesamt bewusst waren, handelte er auch nicht in einem Erlaubnistatbestandsirrtum. Sein Verhalten war daher unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt gerechtfertigt.
Er handelte auch schuldhaft. Ein etwaiger Verbotsirrtum, § 17 StGB, war vermeidbar. Der Angeschuldigte ist Fachanwalt für Strafrecht. Er kennt die Regelungen der StPO. Bei einiger Überlegung hätte ihm bewusst sein müssen, dass hier keine Situation vorlag, die sein Vorgehen rechtfertigen könnte. Schwere Verfahrensverstöße des
Gerichts lagen ersichtlich nicht vor. Jedenfalls waren keine zu erkennen, die es nicht zumutbar erscheinen ließen, diese erst mit der Revision geltend zu machen.
Auch der Umstand, dass die drei Richter des Anwaltsgerichts den Verbotsirrtum des Angeklagten für unvermeidbar hielten (bzw. sein Verhalten als unvorsätzlich oder gerechtfertigt), kann nicht als Argument für die Unvermeidbarkeit des Verbotsirrtums herangezogen werden. Denn diese Wertung beruhte offensichtlich auf einer fehlenden Ausschöpfung des Sachverhaltes und auf einer unzutreffenden Gesamtwürdigung. Eine solche war jedoch für den Angeschuldigten als Fachanwalt für Strafrecht zu erwarten.
Der Senat hat als anwaltsgerichtliche Maßnahme auf einen Verweis und eine Geldbuße erkannt. Hierbei hat er zugunsten des Angeschuldigten berücksichtigt, dass er bislang standesrechtlich noch nicht in Erscheinung getreten ist. Andererseits handelte es sich jedoch um eine erhebliche Pflichtverletzung. Der Angeschuldigte hat sich vorsätzlich in der Absicht, verfahrensfremde Ziele zu erreichen (Verzögerung des Verfahrens bis zum Wechsel des vorsitzenden Richters der Kammer), über Regeln der Strafprozessordnung hinweggesetzt. Ein solches Verhalten in öffentlicher Hauptverhandlung ist geeignet, das Ansehen der Anwaltschaft in besonderem Maße zu schädigen. Die Verhängung der nach begrenztem Vertretungsverbot und Ausschließung drittschwersten Maßnahme war daher zwingend erforderlich. Bei der Bemessung der Höhe der Geldbuße ist der Senat davon ausgegangen, dass der Angeschuldigte nach seinen Angaben in geordneten Einkommens- und Vermögensverhältnissen lebt. Er ist einer von zwei Sozien einer acht Anwälte umfassenden Anwaltskanzlei.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 116 BRAO, § 456 StPO.
Die Revision war nicht zuzulassen. Der Anwaltsgerichtshof hat nicht über Rechtsfragen oder Fragen der anwaltlichen Berufspflichten entschieden, die von grundsätzlicher Bedeutung sind, § 145 Abs. 2 BRAO. Die Frage, wann die Nichtfortführung der Verteidigung in laufender Verhandlung zulässiges Verteidigungsmittel ist, ist oberge-
richtlich geklärt. Ob diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall vorlagen, ist Tatfrage.
AGH des Landes Nordrhein-Westfalen:
Urteil v. 01.07.2005
Az: (2) 6 EVY 7/04
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