Bundespatentgericht:
Beschluss vom 10. Mai 2005
Aktenzeichen: 21 W (pat) 316/03

(BPatG: Beschluss v. 10.05.2005, Az.: 21 W (pat) 316/03)

Tenor

Nach Prüfung des Einspruchs wird das Patent aufrechterhalten.

Gründe

I Auf die am 17. Februar 1997 unter Inanspruchnahme der inneren Priorität vom 23. Oktober 1996 (Akz: DE 196 44 114. 5) beim Patentamt eingereichte Patentanmeldung ist das nachgesuchte Patent 197 05 988 mit der Bezeichnung "Retina-Implantat" erteilt worden. Die Veröffentlichung der Patenterteilung ist am 11. April 2002 erfolgt.

Gegen das Patent ist Einspruch erhoben worden. Dem Einspruchsverfahren liegen die erteilten Patentansprüche 1 bis 13 zugrunde.

Der mit Gliederungspunkten versehene, hinsichtlich eines offensichtlich falschen Bezugszeichens berichtigte Patentanspruch 1 lautet:

(A) Retina-Implantat

(B) mit einer an einer Netzhaut (12) anliegenden Oberfläche (28),

(C) wobei die Oberfläche (28) mit Elektroden (35; 55) zum Stimulieren von Zellen (27) der Netzhaut (12) versehen ist

(D) und die Elektroden (35; 55) von auf die Netzhaut (12) fallendem, sichtbarem Licht (21') derart angesteuert werden, dass ein elektrischer Stimulus (41) von der Elektrode (35; 55) auf die Zelle (27) ausgeübt wird, dadurch gekennzeichnet,

(E) dass das Implantat (13; 14 ) mit einer für nichtsichtbares Licht (25') wirksamen, photovoltaischen Schicht (30; 50) versehen ist,

(F) und dass jede Elektrode (35; 55) einen durch sichtbares Licht optisch betätigbaren Schalter umfasst,

(G) der die von der photovoltaischen Schicht (30; 50) erzeugte Spannung in Abhängigkeit von der Intensität des auftreffenden sichtbaren Lichtes auf die Elektrode (35; 55) schaltet.

Hinsichtlich der auf den Patentanspruch 1 rückbezogenen Patentansprüche 2 bis 13 wird auf die Streitpatentschrift verwiesen.

Die Einsprechende hat zum Stand der Technik folgende Druckschriften genannt:

D4: US 5 024 223 D5: US 5 397 350 D6: US 5 556 423 D7: DE 195 29 371 A1 D8: G. R. Elion, H. A. Elion: "Electro-Optics Handbook", Marcel Dekker, Inc., New York 1979, Seite 127 D9: R. E. I. Schropp, M. Zeman: "Amorphous and Microcrystalline Silicon Solar Cells: Modeling, Materials and Device Technology", Norwell 1998, Seite 55 D10: D. H. Auston et al.: "An amorphous silicon photodetector for picosecond pulses", Appl. Phys. Lett. 36, Nr. 1, 1980, Seiten 66 bis 68 und D11: R. B. Hammond, N. M. Johnson: "Impulse photoconductance of thinfilm polycrystalline silicon", J. Appl. Phys. 59, Nr. 9, 1986, Seiten 3155 bis 3159.

Die Einsprechende hat in der mündlichen Verhandlung außerdem die beiden Dokumente D12: J. Hilfiker: "Spectroscopic Ellipsometry in the Vacuum Ultraviolet: 157 nm and Below", 7. Januar 2000, Future Fab Intl. Volume 8, Seite 1 bis 9 sowie D13: University of Rochester, Laboratory for Laser Energetics: "Picosecond Photoresponse in Polycrystalline Silicon", LLE Review, Quarterly Report, Volume 71, April - Juni 1997, Seiten 132 bis 136 überreicht.

Im Patenterteilungsverfahren sind darüber hinaus die Entgegenhaltungen J. Wyatt, J. Rizzo: "Ocular implants for the blind", IEEE Spectrum, 1996, Vol. 33, No. 5, Seiten 47 bis 53 DE 195 29 371 A1 sowie D4': EP 0 460 320 A1 in Betracht gezogen worden. Die Druckschrift D4' und die von der Einsprechenden genannte D4 basieren jeweils auf der amerikanischen Patentanmeldung US 549 094 vom 6. Juli 1990, deren Priorität in beiden Dokumenten in Anspruch genommen worden ist. Die D4' umfasst neben 20 Vorrichtungsansprüchen noch 10 Verfahrensansprüche, die auf ein chirurgisches Verfahren bzw. ein Verfahren zur Erzeugung eine künstlichen Sehvermögens gerichtet sind. Ansonsten sind die beiden Dokumente inhaltsgleich.

Die Einsprechende führt zur Begründung ihres Einspruchs aus, dass der Gegenstand des erteilten Patentanspruchs 1 angesichts des aus jeder der Druckschriften D4, D5 und D6 bekannten Standes der Technik nicht mehr neu sei.

Sie macht ferner geltend, die innere Priorität der Voranmeldung DE 196 44 114. 5 vom 23. Oktober 1996 sei vom Streitpatent nicht wirksam in Anspruch genommen worden, da in dessen Patentanspruch 1 im Vergleich zur Voranmeldung ein Merkmal fehle. Als Prioritätstag des Streitpatents käme deshalb nur dessen Anmeldetag, nämlich der 17. Februar 1997 in Frage. Die vorstehend erwähnte, am 13. Februar 1997 veröffentlichte Entgegenhaltung D7 sei somit gegenüber dem angegriffenen Patent als vorveröffentlichter Stand der Technik anzusehen. Durch diese Entgegenhaltung werde in Kombination mit dem allgemeinen Fachwissen, das durch die Druckschriften D4 bis D6 belegt sei, die erfinderische Tätigkeit des Gegenstandes des erteilten Patentanspruchs 1 in Frage gestellt.

Die Einsprechende vertritt darüber hinaus die Auffassung, der Streitpatentgegenstand bediene sich lediglich zweier bekannter physikalischer Phänomene, wie sie in den Druckschriften D8 bis D13 beschrieben sind, nämlich zum einen der Tatsache, dass Halbleitermaterialien wie z.B. Polysilizium im sichtbaren und im infraroten Spektralbereich eine unterschiedliche Transparenz besäßen, und zum anderen, dass sich unter Lichteinwirkung ihre elektrische Leitfähigkeit verändere. Insofern werde durch die Entgegenhaltungen D8 bis D13 der neuheitsschädliche Offenbarungsgehalt der Druckschriften D4 bis D6 untermauert.

Die Einsprechende hat zusätzlich zu den von ihr zitierten Dokumenten für die Richtigkeit ihres Tatsachenvortrags Beweis durch Sachverständigengutachten angeboten.

Die Einsprechende beantragt, das Patent zu widerrufen.

Die Patentinhaberin beantragt, das Patent aufrechtzuerhalten.

Sie vertritt die Auffassung, dass der Gegenstand des erteilten Patentanspruchs 1 durch keine der Entgegenhaltungen D4 bis D6 neuheitsschädlich vorweggenommen werde. Der Streitpatentgegenstand beruhe gegenüber diesem Stand der Technik auch auf einer erfinderischen Tätigkeit.

Die innere Priorität der Voranmeldung DE 196 44 114. 5 sei wirksam in Anspruch genommen worden. Dessen ungeachtet könne auch die D7 weder die Neuheit noch die erfinderische Tätigkeit des Gegenstandes des erteilten Patentanspruchs 1 in Frage stellen.

II Die Zuständigkeit des technischen Beschwerdesenats des Patentgerichts für die Entscheidung über den Einspruch ergibt sich aus § 147 Abs 3 Satz 1 Nr 1 PatG. Danach ist nicht das Patentamt, sondern das Patentgericht zuständig, wenn - wie im vorliegenden Fall - die Einspruchsfrist nach dem 1. Januar 2002 zu laufen begonnen hat und der Einspruch vor dem 1. Januar 2005 eingelegt worden ist.

Der form- und fristgerecht erhobene Einspruch ist zulässig, denn die für die Beurteilung des behaupteten Widerrufsgrundes maßgeblichen tatsächlichen Umstände sind von der Einsprechenden innerhalb der gesetzlichen Frist im einzelnen so dargelegt worden, dass die Patentinhaberin und der Senat daraus abschließende Folgerungen für das Vorliegen bzw. Nichtvorliegen eines Widerrufsgrundes ohne eigene Ermittlungen ziehen können.

Die Zulässigkeit des Einspruchs ist im Übrigen von der Patentinhaberin nicht bestritten worden.

Der Einspruch ist jedoch nicht begründet, denn nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung erweist sich der Gegenstand des erteilten Patentanspruchs 1 als patentfähig.

1.) Der erteilte Patentanspruch ist zulässig, denn er umfasst die Merkmale der ursprünglichen Patentansprüche 1 und 5. Die im Merkmal (G) gemäß vorstehender Merkmalsgliederung verwendete Formulierung, dass der Schalter die von der photovoltaischen Schicht (30; 50) erzeugte Spannung in Abhängigkeit von der Intensität des auftreffenden sichtbaren Lichtes auf die Elektrode (35; 55) schaltet, ist durch die ursprüngliche Beschreibung (S 10, 1. bis 4. Abs) gedeckt.

Die erteilten Unteransprüche 2 bis 13 entsprechen - in dieser Reihenfolge - den ursprünglichen Unteransprüche 2 bis 4 und 6 bis 14. Sie sind somit ebenfalls zulässig.

Die Zulässigkeit der erteilten Patentansprüche ist von der Einsprechenden im Übrigen nicht bestritten worden.

2.) Nach den Angaben in der Streitpatentschrift betrifft das angegriffene Patent ein Retina-Implantat mit einer an einer Netzhaut anliegenden Oberfläche, wobei die Oberfläche mit Elektroden zum Stimulieren von Zellen der Netzhaut versehen ist und die Elektroden von auf die Netzhaut fallendem, sichtbarem Licht derart angesteuert werden, dass ein elektrischer Stimulus von der Elektrode auf die Zelle ausgeübt wird (Absatz [0001]).

Ein derartiges Retina-Implantat ist, wie in der Streitpatentschrift weiter ausgeführt wird, in der eingangs erwähnten Druckschrift D4' (bzw. der D4) offenbart (Abs [0002]). In der Patentschrift wird weiter ausgeführt, dass das bekannte Retina-Implantat ein subretinales Implantat sei, das demzufolge in untere Schichten der Netzhaut implantiert werden soll (Abs [0003]). Es sei so ausgelegt, dass bereits das auftreffende Umgebungslicht ausreichen soll, um die erforderlichen Stimuli für die Zellen der Netzhaut zu erzeugen. Eine externe Energieversorgung sei folglich nicht vorgesehen (Abs [0004]).

Aus dem vorstehend erwähnten IEEE-Artikel "Ocular implants for the blind" ist nach den Angaben in der Streitpatentschrift ein weiteres Retina-Implantat bekannt, das jedoch als epiretinales Implantat eingesetzt werden soll (Abs [0005]). Bei den epiretinalen Implantaten sei es im Gegensatz zu den subretinalen Implantaten jedoch erforderlich, die Stimuli vorab zu codieren, um auf diese Weise die biologischen Veränderungen zu kompensieren, denen die biologischen Signale auf ihrem Weg von den Photorezeptoren zu den Ganglienzellen in den unteren Schichten der Netzhaut ausgesetzt sind. Epiretinale Implantate würden daher von außen angesteuert, und zwar auf der Grundlage eines Bildes, das z.B. mit einer Videokamera oder dgl. erzeugt worden sei, die bspw. als Brille für den Patienten ausgestaltet sein könne (Abs [0006]). Aufgrund der systemimmanenten Unterschiede zwischen subretinalen und epiretinale Implantaten seien letztere bauartbedingt größer, aufwendiger und hätten einen höheren Energieverbrauch (Abs [0007]). Bei den subretinalen Implantaten der eingangs genannten Art bestünde hingegen das Problem, dass das Umgebungslicht mitunter nicht ausreiche, um Stimuli ausreichender Amplitude zu erzeugen, die größer sind als die Reizschwelle der zu stimulierenden Zellen der Netzhaut (Abs [0011]).

Dem Streitpatentgegenstand liegt die Aufgabe zugrunde, ein subretinales Implantat der gattungsgemäßen Art dahingehend weiterzubilden, dass auch bei schwachem Umgebungslicht ausreichend Energie zur Verfügung steht, um Stimuli erforderlicher Amplitude erzeugen zu können. Es sollen ferner diejenigen Nachteile vermieden werden, wie sie im Zusammenhang mit epiretinalen Implantaten angesprochen worden sind (Abs [0012]).

Diese Aufgabe wird bei einem gattungsgemäßen Retina-Implantat dadurch gelöst, dass das Implantat mit einer für nichtsichtbares Licht wirksamen, photovoltaischen Schicht versehen ist [Merkmal (E)], und dass jede Elektrode einen durch sichtbares Licht optisch betätigbaren Schalter umfasst [Merkmal (F)], der die von der photovoltaischen Schicht erzeugte Spannung in Abhängigkeit von der Intensität des auftreffenden sichtbaren Lichtes auf die Elektrode schaltet [Merkmal (G)].

Zwar wird im erteilten Patentanspruch 1 über die Herkunft des nichtsichtbaren Lichtes, durch welches in der photovoltaischen Schicht gemäß den Merkmalen (E) und (G) eine Spannung erzeugt werden soll, nichts ausgesagt. Aus der Gesamtoffenbarung des Streitpatents (vgl hierzu BGH GRUR 1999, 909, Ls 1 u. 2, 911, 3. a) - "Spannschraube") geht für den Fachmann jedoch zweifelsfrei hervor, dass es sich hierbei nicht etwa um einen im Umgebungslicht stets enthaltenen - sozusagen parasitären - Anteil im infraroten oder ultravioletten Spektralbereich handelt, sondern um einen vergleichsweise großen, gesondert durch die Linse des betroffenen Auges einzustrahlenden, vorzugsweise infraroten Energiebetrag, der für das Funktionieren des beanspruchten Retina-Implantats unerlässlich ist. In der Streitpatentschrift ist nämlich ausgeführt, dass es zur Lösung der vorstehend genannten Aufgabe zweckmäßig sei, die für die Stimulation erforderliche Versorgung mit infrarotem Licht vorzunehmen, für das die Optik ebenso wie die Netzhaut des menschlichen Auges durchlässig sei. Dadurch seien auch bei ausreichend hohen Intensitäten keine Schädigungen zu befürchten. Die im Auge zur Verfügung stehende Versorgungsleistung könne zusätzlich dadurch erhöht werden, dass die Infraroteinkopplung global, d.h. über einen möglichst großen Oberflächenbereich der Netzhaut bzw. des Implantats vorgenommen werde, während andererseits die Zellen nur lokal stimuliert würden (Abs [0015]).

Um vom jeweils vorhandenen Umgebungslicht und von der Verträglichkeitsschwelle der Netzhaut für sichtbares Licht unabhängig zu sein, werde nichtsichtbares Licht, vorzugsweise Infrarot-Licht eingesetzt, um die notwendige Energie zur Erzeugung der Stimuli bereitzustellen (Abs [0017]). Die Energieversorgung des erfindungsgemäßen Implantats sei damit unabhängig vom jeweils vorhandenen Umgebungslicht und darüber hinaus auch unabhängig davon, ob das jeweils gesehene Bild einen hohen oder niedrigen Helligkeitsanteil enthalte (Abs [0018]).

Auch der Figur 1 und der zugehörigen Beschreibung (Abs [0039]) entnimmt der fachkundige Leser, dass unter dem Begriff "nichtsichtbares Licht" im erteilten Patentanspruch 1 ausschließlich die von einer separaten Quelle, beispielsweise einer Infrarot-Lichtquelle stammende Strahlung zu verstehen ist.

3.) Der - zweifelsohne gewerblich anwendbare - Gegenstand des Patentanspruchs 1 ist neu, da keine der zum Stand der Technik genannten Druckschriften ein Retina-Implantat mit sämtlichen, in diesem Anspruch aufgeführten Merkmalen offenbart.

a) Die Druckschrift D4 nimmt den Streitpatentgegenstand nicht vorweg. Ausweislich der Figuren 1A, 2A bis 2C, 3A bis 3C und 4 sowie der zugehörigen Beschreibung (Sp 3, Z 27 bis Sp 5, Z 33) offenbart die D4 zwar ein gattungsgemäßes (subretinales) Implantat (device 10) mit einer an einer Netzhaut (retinal pigment epithelium 58) anliegenden Oberfläche (electrical ground 22, 74) [Merkmale (A) und (B)], wobei die Oberfläche (22, 74) mit Elektroden (nodes 28) zum Stimulieren von Zellen der Netzhaut versehen ist [Merkmal (C)] und wobei die Elektroden (28) von auf die Netzhaut (58) fallendem, sichtbarem Licht (average room lighting) derart angesteuert werden, dass ein elektrischer Stimulus von der Elektrode (28) auf die Zellen ausgeübt wird [Merkmal (D)].

Jedoch sind die Merkmale (E) bis (G) des Kennzeichens des erteilten Patentanspruchs 1 beim Stand der Technik gemäß Entgegenhaltung D4 nicht erfüllt. Es mag zwar zutreffen, dass die in der D4 beschriebenen Photodioden (photoactive layer 18, intrinsic layer 20, layer 6), wie die Einsprechende in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht hat, auch für das im Umgebungslicht enthaltene nichtsichtbare Licht empfindlich sind und dass dieser Lichtanteil demzufolge zur Energieversorgung des aus der D4 bekannten Retina-Implantats beiträgt. Jedoch ist bei diesem Stand der Technik an eine zusätzliche Energieeinkopplung mittels einer separaten, nichtsichtbares Licht emittierenden Strahlungsquelle - wie dies insoweit der sinnvoll verstandene Patentanspruch 1 des Streitpatents lehrt - nicht gedacht. Vielmehr wird bei dem in der Druckschrift D4 beschriebenen Retina-Implantat das ins Auge fallende Umgebungslicht sowohl zur Spannungserzeugung mittels der Photodioden (18, 20, 6) als auch zum Auslösen der Stimuli über die Elektroden (28) benutzt (Sp 6, Z 20 bis 26), so dass das bekannte Implantat zu Recht als "selbstversorgend" (selfpowered) bezeichnet wird (Sp 4, le Z bis Sp 5, Z 2). Soweit beim Stand der Technik dennoch von einer zusätzlichen Energiequelle in Form einer Batterie die Rede ist (vgl Sp 5, Z 5 bis 9), dient deren Spannung ausschließlich der Ruhestromeinstellung (bias activation current) der Photodioden.

Entgegen der Auffassung der Einsprechenden ist aber auch ein durch sichtbares Licht optisch betätigbarer Schalter - wie dies insoweit im Merkmal (F) des erteilten Patentanspruchs 1 beansprucht ist - beim Stand der Technik gemäß Entgegenhaltung D4 nicht vorgesehen. Zwar können die Elektroden (electrode structure 13a, 13b; conductive layer 22) entsprechend dem in den Figuren 2A und 2B gezeigten Ausführungsbeispiel aus Polysilizium sein. Mitnichten handelt es sich hierbei aber zwingend um ein Material, welches beim Einfall von sichtbarem Licht seine Leitfähigkeit so gravierend ändert, dass ein optisch betätigbarer Schalter im Sinne des Merkmals (F) des Streitpatentgegenstandes gebildet wird.

Polykristallines Silizium kann - je nach Reinheit, Korngröße, Dotierung etc. - die unterschiedlichsten elektrischen und optischen Eigenschaften aufweisen. Insofern sind durchaus Ausführungsformen dieses Halbleitermaterials denkbar, die sich bei Einfall von Licht tatsächlich wie optisch betätigbare Schalter verhalten. An ein solches Material ist beim Stand der Technik gemäß der D4 jedoch nicht gedacht. Denn soweit dort von Polysilizium die Rede ist, soll dieses Material permanent leitfähig sein, also nicht - wie die Einsprechende geltend macht - erst durch Lichteinfall leitfähig werden. So wird im Zusammenhang mit den vorstehend erwähnten Elektroden (13a, 13b; 22) ausdrücklich darauf verwiesen, dass diese auch aus anderen leitfähigen Materialien wie z.B. Aluminium oder Platin gebildet sein können (Sp 4, Z 46 bis 48). Analog wird gemäß dem in Figur 2C gezeigten Ausführungsbeispiel vorgeschlagen, für die dortigen Elektroden (surface 71) anstelle des permanent leitfähigen Polysiliziums Gold zu verwenden.

Aber selbst wenn man - entgegen der Gesamtoffenbarung der D4 - einmal unterstellt, dass die besagten Elektroden (13a, 13b; 22) aus hochreinem und somit nichtleitendem Polysilizium bestehen, so wäre das Merkmal (F) des erteilten Patentanspruchs 1 beim Stand der Technik gleichwohl nicht erfüllt. Denn der Bandabstand dieses Materials liegt - wie die Patentinhaberin in der mündlichen Verhandlung unter Hinweis auf die Entgegenhaltung D9 (vgl die Tabelle 3.2.) dargelegt hat - zwischen 1.0 und 1.1 eV. Demzufolge würde bereits die Einkopplung von der im Umgebungslicht enthaltenen Infrarotstrahlung eine beträchtliche Erhöhung der Leitfähigkeit der Elektroden (13a, 13b; 22) zur Folge haben, wodurch eine durch sichtbares Licht ausgelöste Schaltfunktion, wie dies gemäß dem erteilten Patentanspruch 1 beansprucht wird, verhindert würde.

b) Auch die beiden Druckschriften D5 und D6 stehen dem Streitpatentgegenstand nicht neuheitsschädlich entgegen. Denn beide Dokumente (vgl jeweils den Anspruch 1 und die Fig 1) lehren lediglich, das in der D4 offenbarte, einstückige Retina-Implantat in eine Vielzahl mikroskopisch kleiner Implantate (microscopic photoelectric devices) zu zerlegen. Diese Partikel werden sodann in den subretinalen Raum des Auges injiziert.

c) Die Druckschrift D7 (vgl den Anspruch 1 sowie die Fig 1a bis 2b und die Beschreibung Sp 3, Z 56 bis Sp 5, Z 23) offenbart kein Retina-Implantat, sondern eine Mikroelektroden-Anordnung zum ortsaufgelösten Ableiten elektrischer Zellpotentiale oder zur elektrischen Stimulation von Netzwerken biologischer Zellen mittels einer externen Spannungsquelle. Insofern vermag auch die D7 die Neuheit des Streitpatentgegenstandes nicht in Frage zu stellen. Dies wurde von der Einsprechenden im übrigen auch nicht geltend gemacht.

d) Die Druckschriften D8 bis D13 befassen sich mit den optischen und elektronischen Eigenschaften von Silizium. Ein Retina-Implantat wird nicht offenbart. Deshalb ist der Streitpatentgegenstand gegenüber diesem Stand der Technik neu.

4.) Der Gegenstand des erteilten Patentanspruchs 1 beruht auch auf einer erfinderischen Tätigkeit des zuständigen Durchschnittsfachmanns, welcher hier zu definieren ist als ein mit der Entwicklung von Retina-Implantaten befasster, berufserfahrener Diplom-Physiker oder Diplom-Ingenieur der Fachrichtung Elektrotechnik, der bei seiner Arbeit in ständigem Kontakt zu einem auf dem Gebiet der Augenheilkunde tätigen Chirurgen steht.

a) Die Entgegenhaltung D4, aus der, wie dargelegt, lediglich die Merkmale des Oberbegriffs des erteilten Patentanspruchs 1 bekannt sind, vermag - für sich genommen - den Fachmann nicht dazu anzuregen, die patentgemäße Lehre zu verwirklichen. Der D4 lassen sich nämlich keinerlei Hinweise dahingehend entnehmen, die Energieversorgung des dort beschriebenen Retina-Implantats mittels einer photovoltaischen Schicht zu bewerkstelligen, die für nichtsichtbares, einer separaten Strahlungsquelle entstammendes Licht wirksam ist, sowie durch sichtbares Licht optisch betätigbare Schalter vorzusehen, durch welche die von der photovoltaischen Schicht erzeugte Spannung auf die Stimulationselektroden geschaltet wird, wie dies insoweit vom sinnvoll verstandenen Patentanspruch 1 des Streitpatents beansprucht wird.

b) Aber auch durch die Einbeziehung des übrigen, im Verfahren befindlichen Standes der Technik gelangt der Fachmann, ausgehend von der D4, nicht zur patentgemäßen Lehre.

aa) Die Druckschriften D5 und D6 gehen, wie vorstehend erörtert wurde, über den hier relevanten Offenbarungsgehalt der D4 nicht hinaus. Eine Anregung, das aus der D4 bekannte, gattungsgemäße Retina-Implantat entsprechend den Merkmalen des Kennzeichens des erteilten Patentanspruchs 1 weiterzubilden, vermögen diese beiden Schriften dem Fachmann insofern nicht zu geben.

bb) Es kann dahinstehen, ob die Entgegenhaltung D7 aufgrund der von der Einsprechenden behaupteten nichtwirksamen Inanspruchnahme der inneren Priorität der Voranmeldung DE 196 44 114. 5 als vorveröffentlichter Stand der Technik zu gelten hat oder nicht. Denn diese Druckschrift vermag auch die erfinderische Tätigkeit das Streitpatentgegenstandes nicht in Frage zu stellen.

Zwar lehrt die D7 (vgl den Anspruch 1 sowie die Fig 1a bis 2b und die Beschreibung Sp 3, Z 56 bis Sp 6, Z 53), in einem Elektrolyten (E) befindliche biologische Zellen (Ze) durch Mikroelektroden (M1 ... Mn) zu kontaktieren, welche über lichtempfindliche, beispielsweise aus amorphem Silizium bestehende Elemente (P1 ... Pn) mit Anschlusselektroden (A1 ... An) verbunden sind, so dass bei diesem Stand der Technik für sich genommen das Merkmal (F) des erteilten Patentanspruchs 1, welches den durch sichtbares Licht optisch betätigbaren Schalter betrifft, verwirklicht ist. Jedoch erfolgt die Stimulation der Zellen (Ze) gemäß der D7 durch eine elektrische Spannungsquelle (U), welche mit einer im Elektrolyten (E) angeordneten Referenzelektrode (Re) und den Anschlusselektroden (A1 ... An) verbunden ist.

Insofern könnte die D7 den Fachmann möglicherweise dazu veranlassen, auch das aus der D4 bekannte Retina-Implantat mit einem durch sichtbares Licht optisch betätigbaren Schalter zu versehen. Eine Anregung, gleichzeitig die elektrische Spannungsquelle (U) durch eine photovoltaische Schicht zu ersetzen, welche für nichtsichtbares, einer gesonderten Strahlungsquelle entstammendes Licht wirksam ist, wie dies vom Streitpatent weiter gelehrt wird, erhält der Fachmann durch die D7 jedoch nicht.

cc) Die Publikationen D8 bis D13 repräsentieren lediglich den allgemeinen Kenntnisstand des Fachmanns hinsichtlich der optischen und elektronischen Eigenschaften von Silizium in verschiedenen Ausführungsformen. Wie die Einsprechende in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht hat, geht beispielsweise aus der D9 (vgl die Tabelle 3.2. auf S 55) hervor, dass Polysilizium im Dunkeln sehr schlecht leitet, dass sich seine Leitfähigkeit bei Lichteinfall aber um mehr als zwei Größenordnungen erhöht. Die Druckschrift D12 (vgl S 3, le Abs) und die Druckschrift D13 (vgl die Fig 1.31 auf S 133) lehren nach Auffassung der Einsprechenden übereinstimmend, dass Polysilizium im nahen Infrarotbereich transparent ist, kürzere Wellenlängen hingegen absorbiert.

Auch dieses dem Fachmann unbestritten zuzurechnende Wissen wird ihn nicht veranlassen, bei dem in der D4 beschriebenen Retina-Implantat die patentgemäße Lehre zu verwirklichen. Denn soweit bei diesem Stand der Technik von Elektroden aus Polysilizium die Rede ist, sind diese - wie vorstehend begründet wurde - permanent leitfähig. Eine Anregung, hiervon abzurücken und statt dessen Elektroden vorzusehen, welche erst durch sichtbares Licht leitfähig werden, vermögen die genannten Schriften dem Fachmann nicht zu liefern.

dd) Die verbleibenden, eingangs genannten Druckschriften liegen vom Streitpatentgegenstand ebenfalls weit ab. Sie haben in der mündlichen Verhandlung im Übrigen keine Rolle gespielt.

5.) Die auf den Patentanspruch 1 rückbezogenen Patentansprüche 2 bis 13 betreffen vorteilhafte und nicht selbstverständliche Ausgestaltungen des Retina-Implantats nach Patentanspruch 1. Sie haben deshalb zusammen mit diesem Bestand.

Dr. Winterfeldt Engels Dr. Maksymiw Dr. Häußler Be






BPatG:
Beschluss v. 10.05.2005
Az: 21 W (pat) 316/03


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