Hessisches Landesarbeitsgericht:
Urteil vom 2. März 2011
Aktenzeichen: 6 Sa 1233/10
(Hessisches LAG: Urteil v. 02.03.2011, Az.: 6 Sa 1233/10)
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des ArbeitsgerichtesKassel vom 09.06.2010 € 4 Ca 13/10 € wirdkostenpflichtig zurückgewiesen.
Die Revision wird nicht zugelassen
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Rechtswirksamkeit einer außerordentlichen, fristlosen sowie hilfsweise ordentlichen fristgerechten Kündigung des Arbeitsverhältnisses.
Der am 6. Mai 1965 geborene, verheiratete und zwei Kindern zum Unterhalt verpflichtete Kläger war seit 4. Januar 1990 als Arbeiter bei der Beklagten beschäftigt.
Die Beklagte ist ein großer Automobilhersteller. Sie beschäftigt an ihrem Produktionsstandort in A eine große Anzahl von Arbeitnehmern. Es besteht ein Betriebsrat.
Das Betreten des Werkes ist den Arbeitnehmern nur mittels eines Werksausweises möglich. Neben der Funktion des Zugangs zum Werk enthält dieser Werksausweis eine Bezahlfunktion. Diese funktioniert so, dass der Arbeitnehmer beim Kauf an offenen Ausgabestellen (Betriebsrestaurants), wie auch an Warenautomaten den Werksausweis mit Bezahlfunktion vor die Abbuchungsfläche hält. Der Automat bucht dann den Warenpreis von dem Werksausweis ab und gibt die ausgewählte und bezahlte Ware frei. Gleichzeitig kann man an einem Displayfeld den durchgeführten Bezahlvorgang optisch nachverfolgen. Auf dem Display erscheint der ursprüngliche Wert der Bezahlfunktion, darunter der Warenwert und nach entsprechendem Abbuchungsvorgang der neue € geringere € Chipkartenwert. Vor dem ersten Kaufvorgang muss der Werksausweis mit Geld "aufgeladen" werden. Dies erfolgt mit Geldscheinen am Aufladeautomat. Diese eingezahlten Beträge werden auf ein Sammelkonto der Beklagten gebucht und dem Chip auf dem Werksausweis des Arbeitnehmers gutgeschrieben. Der Arbeitnehmer kann nun über das Guthaben auf seinem Werksausweis an Zigarettenautomaten, Getränkeautomaten, im Betriebsrestaurant etc. verfügen. Die so entstandenen Umsätze werden dann von dem Sammelkonto der Beklagten durch die Beklagte bezahlt, entweder an den Zigarettenautomatenauffüller, den Betreiber der Betriebsgastronomie oder an andere Automatenaufsteller. Die pro Buchung anfallenden Datensätze sind über die Kartennummer pseudonymisiert. Die Speicherung erfolgt zu Abrechnungszwecken mit den Automatenaufstellern und Lieferanten.
An zwei Zigarettenautomaten, die von der B GmbH & Co. KG auf dem Betriebsgelände der Beklagten, und zwar im Originalteile-Center 3, sowie in der Halle 2 aufgestellt waren, kam es mindestens seit September 2008 zu Fehlfunktionen in Form von Aufbuchungen. An allen bei der Beklagten aufgestellten Zigarettenautomaten wird dann, wenn ein Schacht für eine bestimmte Zigarettenmarke leer ist, der zuvor vom Werksausweis abgebuchte Kaufpreis € also bei einer Zigarettenpackung 4,00 EUR, später 5,00 EUR € wieder gutgeschrieben. Bei den beiden Zigarettenautomaten mit Fehlfunktionen wurde jedoch bei der Rückbuchung des Kaufpreises der zuvor abgebuchte Kaufpreis in dreifacher Höhe wieder gutgeschrieben und die Karte entsprechend aufgewertet, so dass im Ergebnis nach einem solchen Vorgang die Bezahlfunktion des Werksausweise mit einem Mehrwert von 8,00 EUR bzw. 10,00 EUR versehen wurde.
Am 14. Januar 2010 meldete der Leiter der Gastronomie dem Ermittlungsdienst der Beklagten, dass es an einem Zigarettenautomaten im Originalteile-Center 3 (abgekürzt OTC 3) zu einem Fehler gekommen sei, der dazu geführt habe, dass der Automat Geld auf den Werksausweis auflädt, wenn ein leerer Schacht angewählt wurde. Am 22. Januar 2010 meldete der Leiter der Gastronomie, dass dieser Defekt an einem weiteren Zigarettenautomaten, nämlich dem Automaten in der Halle 2, Hallengeschoss, Feld D24, aufgetreten sei. Dieser Automat war allerdings am 17. September 2009 aufgrund eines Defekts auf Veranlassung des Teamsprechers Kostenstelle 4266 (Herrn C) von der B ausgetauscht worden, ohne dass die Gastronomie der Beklagten darüber in Kenntnis gesetzt wurde. Die Beklagte ermittelte daraufhin, dass an beiden Automaten insgesamt 342 Karten (Werksausweise und Gastkarten) entsprechende Aufbuchungsvorgänge (d.h. einen Guthabenzuwachs) ausgewiesen haben und es sich insgesamt um einen Betrag von ca. 32.000,00 EUR handelte. Die Werkssicherheit und die Personalabteilung der Beklagten beantragten daraufhin bei der Konzernrevision und der Abteilung Datenschutz der Beklagten eine Aufhebung der Pseudonymität der erhobenen Daten.
Die Saldenverfolgung der Kartennummer 11750818, die der Kläger erhalten hat, ergab im Zeitraum 24. September 2008 bis 16. September 2009 in insgesamt 142 Fällen eine Aufbuchungssumme bzw. einen Guthabenzuwachs von 1.178,00 EUR (vgl. EDV-Liste Anlage 4 zur Klageerwiderung vom 14. April 2010, Bl. 28-59 d.A.). Die Auflistungen mit Zuordnung der Kartennummern erhielt die Personalabteilung (Herr D) am 2. Februar 2010. Daraufhin erfolgte zunächst eine Anhörung der Arbeitnehmer, bei denen es zu Guthabenzuwachs in der Weise gekommen war, dass die Beklagte davon ausging, dass der Guthabenzuwachs von dem betroffenen Arbeitnehmer nicht unbemerkt geblieben sein kann. Die Beklagte geht davon aus, dass bei zweimaligem Aufbuchungsvorgang in unmittelbarer zeitlicher Folge und bei dreimaligem Aufbuchungsvorgang zu unterschiedlichen Zeiten, der Arbeitnehmer die Fehlfunktion bemerkt haben muss. Die Beklagte geht weiter davon aus, dass nur bei manipulativer Verwendung des Werksausweises der fehlerhafte Aufbuchungsvorgang ausgelöst wird. Die Beklagte hat insoweit behauptet, die B habe Versuche durchgeführt und festgestellt, dass eine Aufbuchung nur dann erfolge, wenn der Werksausweis vor dem Leser hin und her bewegt werde (Beweis: Dietmar E, Technischer Leiter der B und Gutachten eines technischen Sachverständigen, der den vorhandenen und sichergestellten Zigarettenautomaten begutachtete).
Die Befragung des Klägers erfolgte am 3. Februar 2010. Dem Kläger wurde unter anderem dabei vorgehalten, dass er durch Fehlbuchungen einen Betrag in Höhe von 1.178,00 EUR zu Unrecht erhalten habe. Der Kläger erwiderte auf den Vorhalt: "Es ist so passiert, habe durch Zufall gemerkt, dass mir etwas gutgeschrieben hat. Ich habe es jedes Mal gemerkt, aber lieber die Klappe gehalten". Wegen des weiteren Inhalts der Befragung des Klägers wird auf das Befragungsprotokoll, vorgelegt als Anlage 3 zur Klageerwiderung der Beklagten vom 14. April 2010, Bl. 26, 27 d.A. verwiesen.
Die Beklagte hörte am 11. Februar 2010 den Personalausschuss des Betriebsrates, der zur selbständigen Erledigung der Mitbestimmungsaufgaben hinsichtlich personeller Einzelmaßnahmen befugt ist, zu ihrer Absicht an, den Kläger wegen Eigentums-/Vermögensdelikten bzw. des Verdachts auf diese Delikte zu Lasten der Beklagten außerordentlich, hilfsweise ordentlich zu kündigen. Der Personalausschuss fasste nach Anhörung des Klägers am 11. Februar 2010 den Beschluss der außerordentlichen, wie der ordentlichen, Kündigung des Klägers zuzustimmen. Gemäß den protokollierten Ausführungen des Klägers anlässlich der Personalausschusssitzung vom 11. Februar 2010 hat der Kläger auf den Vorhalt, dass er seine Karte permanent aufgeladen hat, erklärt: "Wie Sie wissen, hat es sich ja herumgesprochen. Ich konnte der Versuchung nicht standhalten". Wegen der weiteren Einzelheiten der Ausführungen des Klägers in der Personalausschusssitzung wird auf das Kurzprotokoll dieser Sitzung, vorgelegt als Anlage 5 zur Klageerwiderung vom 14. April 2010, Bl. 60-62 d.A., verwiesen.
Mit Schreiben vom 11. Februar 2010 kündigte die Beklagte das mit dem Kläger bestehende Arbeitsverhältnis außerordentlich, hilfsweise ordentlich zum 30. April 2010. Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner am 12. Februar 2010 eingegangenen und der Beklagten am 19. Februar 2010 zugestellten, Kündigungsschutzklage.
Der Kläger hat behauptet, er habe seinen Werksausweis nicht unsachgemäß verwendet, sondern nur ganz normal an das Gerät gehalten, um Zigaretten zu ziehen. Er habe weder den Werksausweis bewegt, um Aufbuchungen zu erreichen, noch habe er bei den Aufbuchungen jemals einen Signalton gehört. Der Kläger hat weiter gemeint, der Beklagten müsste die Fehlfunktion des Automaten in der Halle 2 bereits länger bekannt gewesen sein, da dieser Automat im Oktober/November 2009 stillgelegt worden sei. Der Kläger hat vorgetragen, die Fehlfunktion an verschiedenen Automaten sei einer Vielzahl von Mitarbeitern seit Jahren bekannt gewesen. Sie hätte zu einer Aufwertung in zweifacher € nicht in dreifacher € Höhe geführt, wobei die Gutbuchung keinerlei besondere Handgriffe und auch kein mehrfaches Vorbeiführen des Ausweises an dem Automaten erforderlich gemacht hätte. Der Kläger selbst habe die Fehlfunktion zu einem heute aus seiner Erinnerung nicht mehr bestimmbaren Zeitpunkt im Jahre 2008 gemerkt. Er sei jedoch davon ausgegangen, dass die Fehlfunktion der Automaten sich zu Lasten der B auswirken würde. Der Kläger hat weiter vorgetragen, er könne die Saldenliste wegen der vergangenen Zeit und der Vielzahl der Zahlungseingänge nicht aus eigener Erinnerung bestätigen. Er räume allerdings ein, dass er von der Fehlfunktion der Automaten Kenntnis hatte und von dieser auch profitiert hat. Unsicherheit bestehe lediglich hinsichtlich der genauen Schadenshöhe. Der Kläger hat gemeint, die ihm gegenüber ausgesprochene Kündigung sei schon deshalb unwirksam, weil der behauptete Kündigungsgrund auch gegenüber allen weiteren Fällen in gleicher Weise bestehe. Es handele sich trotz der jeweils differierenden Schadenshöhen um gleichartige Pflichtverletzungen. Bezüglich des Vertrauensverhältnisses zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer könne es nicht darauf ankommen, ob sich ein Fehlverhalten in 30 Fällen in Höhe von 150,00 EUR oder in 300 Fällen in Höhe von 1.500,00 EUR wiederholt habe, denn der Unrechtsgehalt des Arbeitnehmerverhaltens werde durch die Zahl der Verstöße nicht differenziert zu bewerten sein. Der Kläger hat gemeint, im Rahmen der Interessenabwägung sei zu berücksichtigen, dass die Beklagte bei gleichartigen Pflichtverletzungen nicht allen betroffenen Arbeitnehmern gekündigt habe, so dass es für die Beklagte zumutbar sei, das Arbeitsverhältnis auch mit dem Kläger fortzusetzen. Der Kläger hat schließlich auch gemeint, die Kündigung sei als Sanktion erfolgt. Als Staplerfahrer sei er für die Beklagte unschwer zu ersetzen und zähle damit zu dem Kreis der Arbeitnehmer, von denen sich die Beklagte gerne trennen würde. Die gesamte Belegschaft der Abteilung Warenumformung sei demgegenüber nach einer kurzfristigen Freistellung von 103 Personen anlässlich der streitgegenständlichen Manipulationen komplett nach Ablauf von zwei Tagen weiterbeschäftigt worden, weil die Beklagte die jeweiligen Arbeitnehmer ungeachtet der streitgegenständlichen Verstöße als wichtig für den Produktionsprozess ansah. Eine Einzelfallprüfung sei wohl nicht vorgenommen worden. Auch die Zukunftsprognose falle zugunsten des Klägers aus. Zu der Verfehlung sei es nur gekommen, weil einzelne Zigarettenautomaten eines Automatenaufstellers über Jahre hinweg fehlerhaft funktioniert haben und damit die missbräuchliche Bedienung gestattet haben. Dieser € sicherlich einmalige € Tatbestand sei seit September 2009 behoben. In den 20 Jahren seiner Betriebszugehörigkeit habe sich der Kläger stets korrekt verhalten. Zudem habe der Kläger sein Fehlverhalten bereits bei seiner ersten Befragung ohne jeden Vorbehalt eingeräumt und damit gezeigt, dass er einsichtig ist und eine Wiederholung nicht zu befürchten ist.
Der Kläger hat beantragt,
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die Kündigung vom 11. Februar 2010 nicht aufgelöst wurde.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, die ausgesprochene außerordentliche Kündigung sei wirksam. Sie hat behauptet, die fehlerhaften Aufbuchungen hätten nur durch unsachgemäße Verwendung des Werksausweises in Verbindung mit der Anwahl eines leeren Zigarettenschachtes erfolgen können. Im Übrigen habe der Kläger jedoch in seiner Anhörung die bewusste Aufbuchung auf seinen Werksausweis eingeräumt. Zudem belege das wiederholte Aufbuchen an den bestimmten Tagen, wo der Kläger die Fehlfunktion des Automaten entdeckt hatte, seinen Vorsatz, sich zu Lasten des Automatenaufstellers bzw. der dahinterstehenden wirtschaftlichen Eigentümer zu bereichern.
Die Beklagte hat weiter vorgetragen, sie habe angesichts der großen Anzahl von Manipulationsfällen den Entschluss gefasst, diesen Missbrauch durch arbeitsrechtliche Sanktionen in ihrer gesamten Breite zu verfolgen. Maßgeblich für die arbeitsrechtlichen Maßnahmen seien die konkreten Umstände im Einzelfall gewesen, wie zum Beispiel Häufigkeit der Aufbuchungen, Aufbuchungen im Minutentakt hintereinander, erkennbarer Vorsatz, Höhe des Schadens etc. Dabei habe sie bei dem Großteil der Manipulationsfälle nach Abwägung aller vorliegenden Indizien im jeweiligen Einzelfall Sanktionsmaßnahmen nach der Arbeitsordnung ergriffen, lediglich in zwölf Einzelfällen habe man sich zur Kündigung entschlossen. Diese Interessenabwägung sei im Einzelfall des Klägers zu dessen Lasten ausgefallen, da aufgrund der Häufigkeit und der zeitlichen Abfolge der Aufbuchungen, sowie der Schadenshöhe die Grenzen des Zumutbaren im Vergleich zum Großteil der Manipulationsfälle bei weitem überschritten worden seien und der Kläger die Beklagte über einen doch erheblichen Zeitraum geschädigt habe.
Das Arbeitsgericht hat mit Urteil vom 9. Juni 2010 die Klage abgewiesen. Es hat angenommen, dass die außerordentliche Kündigung aufgrund Vorliegens eines wichtigen Grundes iSv § 626 Abs. 1 BGB gerechtfertigt ist. Der bewusste, wiederholte und unsachgemäße Einsatz eines vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Werksausweises mit Bezahlfunktion an Warenautomaten im Betrieb des Arbeitgebers unter Ausnutzung eines erkennbaren bzw. bekannten Defekts des Automaten mit der Folge der Erlangung eines unberechtigten Vermögensvorteils, der dann bewusst zur Inanspruchnahme weiterer Leistungen des Arbeitgebers verwendet wird, für die ansonsten eigenes Geld in der Form des "Auffüllens" des Werksausweises hätte aufgebracht werden müssen, stelle eine Störung des Vertrauensverhältnisses zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer dar, die es dem Arbeitgeber unzumutbar mache, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen. Der Kläger habe der Beklagten einen Vermögensschaden zugefügt. Das in Ausnutzung der Fehlfunktion des Zigarettenautomaten entstandene Wertguthaben habe der Kläger auch an anderen Warenausgabe- bzw. Verkaufsstellen im Betrieb eingesetzt. Der Inanspruchnahme dieser Leistungen (Betriebsgastronomie, Warenautomaten) habe keine Gegenleistung des Klägers (Auffüllen der Bargeldfunktion des Werksausweises) gegenüber gestanden. Der Beklagten seien dadurch entsprechende Einnahmen entgangen. Da der Kaufpreis für den Wareneinkauf von der Beklagten zu entrichten war, sei dieser ein entsprechender Schaden entstanden. Das Arbeitsgericht hat weiter angenommen, dass der Kläger bewusst und zielgerichtet zur Erlangung von unberechtigtem Wertguthaben die Fehlfunktion des Zigarettenautomaten ausgenutzt habe. Dabei sei ihm auch bewusst gewesen oder hätte ihm zumindest bewusst sein müssen, dass er durch die Verwendung der aufgebuchten Beträge für Leistungen der Betriebsgastronomie der Beklagten der Beklagten im Ergebnis einen Schaden zufügt. Durch dieses Verhalten habe der Kläger gezeigt, dass er Leistungen seines Arbeitgebers und Dritter ohne entsprechende Berechtigung in Anspruch nehme und damit das für das Arbeitsverhältnis erforderliche Vertrauen in besonders schwerwiegender Weise beeinträchtigt bzw. zerstört, so dass grundsätzlich von einem, eine außerordentliche Kündigung rechtfertigenden wichtigen Grund iSv § 626 BGB auszugehen sei. Das Arbeitsgericht hat weiter angenommen, dass auch unter Berücksichtigung aller Einzelheiten des vorliegenden Sachverhaltes und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen der Arbeitsvertragsparteien die ausgesprochene außerordentliche Kündigung gerechtfertigt sei. Insoweit sei zwar zugunsten des Klägers dessen langjährige Dauer der Betriebszugehörigkeit, seine persönliche Lebenssituation sowie der Umstand zu werten, dass das Arbeitsverhältnis in Ermangelung von Abmahnungen in der Vergangenheit offensichtlich bis zum fraglichen Vorfall völlig unbeanstandet war. Zu Ungunsten des Klägers falle aber ins Gewicht, dass eine rechts- bzw. vertragswidrige Zueignung von Werten durch die vorsätzliche Erlangung von Wertguthaben in Ausnutzung einer technischen Fehlfunktion einen erheblichen Verstoß gegen die im Arbeitsverhältnis bestehende Treue- und Loyalitätspflicht darstelle bei der für den Arbeitnehmer die Rechtswidrigkeit seines Tuns auch ohne weiteres erkennbar war, das heißt ihm dabei auch deutlich hätte sein müssen, dass der Arbeitgeber einen solchen Verstoß nicht hinnehmen kann. Wenn ein Arbeitnehmer € wie hier € in erheblichem Umfang sich geldwerte Vorteile durch bewusste und wiederholte Ausnutzung eines erkennbaren bzw. bekannten Automatendefekts verschaffe und dadurch weitere Leistungen des Arbeitgebers in Anspruch nehme, wie die, dass durch die unberechtigte Verwendung der Bargeldfunktion des Werksausweises eigene Geldmittel erspart werden, stelle dies eine derart erhebliche Störung der Vertrauensgrundlage im Arbeitsverhältnis dar, dass deren Wiederherstellung nicht zu erwarten sei. Das Arbeitsgericht hat schließlich auch gemeint, die Kündigung sei nicht als sog. "herausgreifende Kündigung" zu werten. Auch wenn mehrere Kündigungen wegen eines gleichartigen Kündigungsgrundes ausgesprochen werden, hänge es von den bei jeder Kündigung zu berücksichtigenden Besonderheiten, zum Beispiel der jeweiligen Betriebszugehörigkeit, ab, ob die Kündigung aller Arbeitnehmer berechtigt ist oder nicht. Allerdings dürfe der Arbeitgeber nicht ohne sachliche Differenzierungskriterien bei einem von mehreren Arbeitnehmern begangenen Vorfall mit gleichem Wert etwa nur einen Arbeitnehmer herausgreifen und es bei den anderen, ebenso belasteten Arbeitnehmern bei einer Verwarnung belassen. Wenn jedoch der Arbeitgeber wegen desselben Vorfalls nicht allen beteiligten Arbeitnehmern kündigt, sei nicht ohne weitere Anhaltspunkte anzunehmen, dass nicht das beanstandete Verhalten, sondern ein anderer Grund für die Kündigung ausschlaggebend gewesen sei. Insoweit spiele es durchaus eine Rolle, ob sich Arbeitnehmer € wie hier der Kläger € bei einer Vielzahl von Abbuchungsvorgängen unter systematischem Einsatz der Bargeldfunktion des Werksausweises und Ausnutzung der Automatenfehlfunktion Vermögensvorteile in nicht unbeträchtlichem Umfang verschafft haben. Gerade in Fällen, in denen lediglich vereinzelt Aufbuchungsvorfälle bei Arbeitnehmern zu verzeichnen gewesen seien, dürfte die Kenntnis der Fehlfunktion des Automaten und dessen bewusste Ausnutzung nicht ohne weiteres bejaht werden können, insoweit bestünden durchaus Unterschiede zum Fall des Klägers. Im Übrigen lasse sich der Einwand der Beklagten nicht entkräften, diese habe in jedem Einzelfall eine umfassende Interessenabwägung vorgenommen. Jedenfalls im Falle des Klägers, der sich Vermögensvorteile in einem Wert von mehr als 1.000,00 EUR verschafft habe, sei diese Interessenabwägung nicht zu beanstanden. Wegen der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlichen Vorbringens der Parteien und der Erwägungen des Arbeitsgerichtes wird auf die angegriffene Entscheidung Bezug genommen.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger innerhalb der zur Sitzungsniederschrift der Berufungsverhandlung vom 2. März 2011 festgestellten und dort ersichtlichen Fristen Berufung eingelegt.
Der Kläger hält an seiner Rechtsmeinung fest, dass die Kündigung von (nur) zwölf Arbeitnehmern aus einer Gruppe von insgesamt 342 Personen rechtsunwirksam sei. Es erschließe sich in keiner Weise, dass bei einer Fülle von Missbrauchsfällen, die in kompletten Abteilungen offenbar über Jahre hinweg an der Tagesordnung waren, gerade gegenüber dem Kläger das Vertrauensverhältnis für eine weitere Aufrechterhaltung der Beschäftigung entfallen sein soll. In Wahrheit habe die Beklagte immer in den Fällen von Kündigungen abgesehen oder Wiedereinstellungen zugelassen, wo ein Arbeitsverhältnis von seiner Funktion im Produktionsprozess als erhaltenswert angesehen wurde. Der Kläger zähle als Staplerfahrer nicht zu diesem Personenkreis. Der Kläger meint weiter, der Beklagten sei die Fehlfunktion des Zigarettenautomaten in der Halle 2, Hallengeschoß, Feld D24 nicht erst am 22. Januar 2010 bekannt gewesen. Es erscheine unglaubwürdig, dass die Beklagte im Zeitraum bis zur Anhörung des Klägers am 3. Februar 2010 alle auffälligen Aufbuchungen überprüft haben könne. Alleine bei dem Kläger umfasse die Saldenverfolgung 32 Seiten. Der Kläger hält auch an seiner Ansicht fest, dass er zu Lasten der Beklagten keinen Vermögensschaden verursacht habe. Der Kläger meint schließlich auch, dem Betriebsrat seien nicht alle Umstände, die zur Kündigung des Klägers geführt haben, mitgeteilt worden. Der Personalausschuss des Betriebsrates sei am 11. Februar 2010 nicht über die Anzahl der insgesamt betroffenen Mitarbeiter und deren differenzierte Sanktionierung nach der jeweiligen Schadenshöhe informiert worden.
Der Kläger beantragt,
unter Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichtes Kassel vom 9. Juni 2010 € 4 Ca 13/10 € festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die Kündigung vom 11. Februar 2010 nicht aufgelöst wurde.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte verteidigt das angegriffene Urteil. Zur erstinstanzlich nicht bestrittenen Betriebsratsanhörung trägt die Beklagte auf den Seiten 12 und 13 ihres Berufungserwiderungsschriftsatzes (Bl. 180, 181 d.A.) ergänzend vor, dass am 9. Februar 2010 den Betriebsratsmitgliedern, die Mitglieder im Personalausschuss sind, die Unterlagen des Klägers überreicht wurden, und zwar ein Blatt mit der organisatorischen Zuordnung und der summarischen Nennung des Sachverhaltes, sowie ein Blatt mit den ergänzenden Personaldaten des Klägers. Darüber hinaus sei den Personalausschussmitgliedern die Werksschutzmeldung des Ermittlungsdienstes vom 26. Januar 2010 übergeben worden und eine Auflistung aller Aufbuchungsvorgänge des Klägers nebst Eintragungen, wie sie auch Gegenstand der Gerichtsakte sind. Der Personalausschuss habe am 11. Februar 2010 getagt. Der Kläger sei bei der Personalausschusssitzung zugegen gewesen. Die Mitglieder des Ausschusses Personal des Betriebsrates haben im Anschluss an die Personalausschusssitzung in geheimer Beratung getagt, d.h. ohne den Kläger oder Vertreter des Personalwesens. Im Anschluss an die alleinige Tagung habe der Personalausschuss der Arbeitgeberin mitgeteilt, dass man der Kündigung zustimme. Die Zustimmung zur Kündigung sei anschließend dokumentiert worden auf dem im Vorfeld übergebenen SAP-Ausdruck mit der "organisatorischen Zuordnung", auf welchem die Betriebsratsmitglieder ihre Zustimmung mit Original-Unterschrift und dem Datum vom 11. Februar 2010 bestätigen und den Mitarbeitern des Personalwesens der Beklagten übergaben.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Berufungsvorbringens der Parteien wird auf den vorgetragenen Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und den übrigen Akteninhalt Bezug genommen.
Gründe
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Arbeitsgericht hatdie Klage zu Recht abgewiesen. Das Berufungsgericht folgt denzutreffenden Entscheidungsgründen des Arbeitsgerichtes. DasArbeitsgericht hat den Tatsachenvortrag der Parteien umfassendgewürdigt und ist auf sämtliche ernsthaft in Betracht kommendenrechtlichen Gesichtspunkte eingegangen. Der Einwand der Berufung,dass die Beklagte "nur" zwölf Kündigungen ausgesprochenhabe, obwohl es bei mehr als 300 Arbeitnehmern zu unrechtmäßigenAufbuchungen gekommen sei, lässt entgegen der Ansicht des Klägersnicht erkennen, dass die Beklagte damit dokumentiert hat, dassdieses Verhalten nicht per se ihr Vertrauen in die Redlichkeit desKlägers so nachhaltig zerstört habe, dass ihr die Fortsetzung desArbeitsverhältnisses nicht unzumutbar ist. Bei den 342 Vorgängenhandelt es sich um Arbeitnehmer der Beklagten, Mitarbeiter vonFremdfirmen und Gastkarten. Betroffen waren rund 120 Arbeitnehmerder Beklagten selbst. Im Gegensatz zu der vom Kläger angeführtenEntscheidung des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 10. September2008 € 6 Sa 384/08 € hat die Beklagte vorliegendvorgetragen, dass sie jeden Einzelfall geprüft habe. Aus Sicht derBeklagten habe der Verdacht bestanden, dass Mitarbeiter ab zweiAufbuchungsvorgängen in unmittelbarer Folge oder ab dreiAufbuchungsvorgängen zu unterschiedlichen Zeiten genau gemerkthaben, dass unrechtmäßige Aufbuchungen zu ihren Gunsten erfolgtsind. Diese Wertung der Beklagten ist nicht zu beanstanden. Esbleibt auch nach dem Berufungsvorbringen des Klägers bei derzutreffenden Einschätzung des Arbeitsgerichts, dass die Beklagtehier keine sog. "herausgreifende Kündigung" ausgesprochenhat. Es ist schon kein außerhalb des vorgetragenenKündigungssachverhaltes liegender Grund für eine Kündigung desKlägers ersichtlich. Die Beklagte hat auch nicht bei einemgleichartigen Kündigungsgrund, ohne jegliche Differenzierungenvorzunehmen, willkürlich einzelne, zu kündigende Arbeitnehmerherausgegriffen. Vielmehr hat die Beklagte hier eine Regeldargelegt, nach welcher sie zwischen den unterschiedlichenarbeitsrechtlichen Reaktionsmöglichkeiten auf ein Fehlverhalten desArbeitnehmers sprich Verwarnung, Abmahnung, Kündigung differenzierthat. Diese Differenzierung ist auch nicht willkürlich, sondern hateinen nachvollziehbaren sachlichen Grund.
Die Beklagte musste mit dem Einwand rechnen, dass Arbeitnehmerdie ungerechtfertigten Aufbuchungen auf ihrem Werksausweis infolgeder Anwahl eines Leerschachtes des Zigarettenautomaten, bedingtdurch die Fehlfunktion dieses Automaten nicht bemerken. Dies istdurchaus nicht lebensfremd. Abhängig von der Anzahl und derHäufigkeit solcher Vorgänge, insbesondere der Wiederholung derAufbuchungen in unmittelbarer zeitlicher Folge, wird aber einsolcher Einwand des Arbeitnehmers mehr und mehr als unglaubwürdigzu bewerten sein. Hiervon hat sich die Beklagte leiten lassen. DerKläger hat auch nicht substantiiert dargelegt, dass die Beklagtevon dieser selbst gewählten Regel ohne Grund abgewichen ist. DerEinwand, ein vom Kläger namentlich benannter Arbeitnehmer derBeklagten habe auch diverse Mehrfach-Zubuchungen verursacht, istnicht hinreichend substantiiert. Außerdem hat die Beklagte aufdiese Einlassung des Klägers erwidert, dass die Aufbuchungsvorgängebezüglich dieses Mitarbeiters nach Anzahl und Umfang die Kündigungdieses Arbeitnehmers nicht gerechtfertigt haben. Ebenso ist dieBeklagte dem Einwand bezüglich eines anderen Arbeitnehmersbegegnet, indem sie vorträgt, dass dieser Arbeitnehmer überhauptkeine Aufbuchungen gehabt habe. Letztlich ist die Beklagte auch demEinwand bezüglich einer Arbeitnehmerin gefolgt und hat dieAbmahnung, die dieser Arbeitnehmerin erteilt wurde, vorgelegt, ausder ersichtlich ist, dass es am 7. Mai 2008, 2. April 2009 und 2.September 2009 zu Aufbuchungen bei dieser Arbeitnehmerin in Höhevon insgesamt 34,00 EUR gekommen ist. Diese Summe entsteht, wenn esam 2. September 2009 zu einem Aufbuchungsvorgang in Höhe von 10,00EUR gekommen ist und an den beiden anderen Tagen zu insgesamt dreiAufbuchungen in Höhe von jeweils 8,00 EUR. Es ist nichtersichtlich, dass die Beklagte im Streitfall aufgrund unsachlicher,außerhalb des Kündigungssachverhaltes liegender Gründe gekündigthat bzw. durch ihr eigenes Verhalten zu erkennen gegeben hat, dasssie die vorliegende Pflichtverletzung per se nicht als eineErschütterung des für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisseserforderlichen Vertrauensverhältnisses ansieht.
Die Ausführungen des Klägers zum fehlenden Schaden sindunbegründet.
Die außerordentliche Kündigung ist auch nicht wegenNichteinhaltung der 2-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGBrechtsunwirksam. Der Einwand des Klägers, dass es ihm nichtvorstellbar erscheint, dass die Beklagte in der Zeit zwischen dem22. Januar bis zum 3. Februar 2010 die Buchungsvorgänge überprüfenkann, berücksichtigt nicht die personellen Ressourcen derBeklagten. Zudem ist festzustellen, dass die Aufbuchungsvorgängeeinfach festzustellen sind. Es ist nur zu überprüfen, ob eineBelastung in Höhe von 4,00 bzw. 5,00 EUR mit unmittelbaranschließender Gutschrift von 12,00 bzw. 15,00 EUR auf dem Kontogegeben hat. Dies kann auch bei 32 Seiten Salden innerhalb von 15Minuten geschehen.
Die Kündigung ist schließlich auch nicht wegen fehlerhafterAnhörung des Betriebsrates nach § 102 Abs. 1 S. 3 BetrVG unwirksam.Die Beklagte hat den Personalausschuss umfassend über denKündigungssachverhalt informiert. Wie aus der dem Personalausschussüberreichten Werksschutzmitteilung vom 26. Januar 2010 ersichtlich,wurde dem Personalausschuss mitgeteilt, dass zunächst nur bezüglichder Arbeitnehmer eine Zuordnung der Saldenverfolgung erfolgte, beidenen man davon ausging, dass die Überzahlung von der betroffenenPerson nicht unbemerkt geblieben sein kann, d.h. ein Tatverdachtbesteht. Weiter wurde dem Personalausschuss mitgeteilt, dass ineinigen Fällen darüber hinaus ein dringender Tatverdacht besteht,dass die überzahlten Beträge absichtlich herbeigeführt bzw.absichtlich nicht gemeldet wurden. Aufgrund der demPersonalausschuss ebenfalls überlassenen Aufstellungen über dieFehlbuchungen des Klägers (vgl. Anlage 2 zur Klageerwiderung vom14. April 2010, Bl. 23-25 d.A.) war dem Personalausschuss auchbekannt, aufgrund welcher Anzahl und Häufigkeit der Fehlbuchungendie Beklagte hier von einem dringenden Tatverdacht ausging.
Der Kläger hat die Kenntnis von der Fehlfunktion desZigarettenautomaten und dessen bewusste Ausnutzung uneingeschränkteingeräumt. Auch wenn er die genaue Schadenshöhe (1.178,00 EUR)nicht bestätigt hat € erstinstanzlich hat der Klägernachvollziehbar erklärt, er könne aus der Erinnerung nicht jedenVorgang gemäß der Saldenverfolgung bestätigen und die vorgelegteListe könne auch Fehler enthalten -, so hat er jedoch die weitüberdurchschnittliche Ausnutzung der Fehlfunktion dem Grunde nachebenfalls eingeräumt. Auf ein mögliches Beweisverwertungsverbot,herzuleiten aus § 32 Abs. 1 S. 2 BDSG bzw. aus § 87 Abs. 1 Ziff. 6BetrVG, kommt es danach nicht mehr an.
Der Kläger hat die Kosten der Berufung zu tragen, da sieerfolglos blieb.
Für die Zulassung der Revision besteht kein Grund.
Hessisches LAG:
Urteil v. 02.03.2011
Az: 6 Sa 1233/10
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