Bundesverfassungsgericht:
Beschluss vom 10. August 1998
Aktenzeichen: 2 BvL 11/97
(BVerfG: Beschluss v. 10.08.1998, Az.: 2 BvL 11/97)
Tenor
Die Vorlage ist unzulässig.
Gründe
Gegenstand des konkreten Normenkontrollverfahrens ist die Frage der Verfassungsmäßigkeit einer Regelung des Einigungsvertrags, die für das Beitrittsgebiet zur Übergangsregelung bei Änderung von Sätzen der Gebührenordnung für Rechtsanwälte auf § 5 der Novelle vom 15. August 1990 zur Rechtsanwaltsgebührenordnung der DDR (Gbl DDR I S. 1294) verweist.
I.
1. a) Im Einigungsvertrag (im folgenden: EV) vom 31. August 1990 (BGBl II S. 889) vereinbarten die Bundesrepublik Deutschland und die damalige Deutsche Demokratische Republik, inwieweit nach Herstellung der deutschen Einheit im Beitrittsgebiet das Recht der Bundesrepublik in Kraft treten sollte. Art. 8 EV lautet:
Mit dem Wirksamwerden des Beitritts tritt in dem in Artikel 3 genannten Gebiet Bundesrecht in Kraft, soweit es nicht in seinem Geltungsbereich auf bestimmte Länder oder Landesteile der Bundesrepublik Deutschland beschränkt ist und soweit durch diesen Vertrag, insbesondere dessen Anlage I, nichts anderes bestimmt wird.
Anlage I, Kapitel III, Sachgebiet A, Abschnitt III, Nr. 26, Maßgabe f) zum Einigungsvertrag (in der Fassung des Art. 4 Nr. 3 Buchstabe b der Vereinbarung vom 18. September 1990, BGBl II S. 1239) lautet wie folgt:
Bundesrecht tritt, soweit sich nicht aus den nachfolgenden Maßgaben ein anderer Geltungsbereich ergibt und vorbehaltlich der Sonderregelung für das Land Berlin in Abschnitt IV, in dem in Artikel 3 des Vertrages genannten Gebiet mit folgenden Maßgaben in Kraft:
1. - 25. ...26. Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 368-1, veröffentlichten bereinigten Fassung, zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 20. August 1990 (BGBl. I S. 1765), mit folgenden Maßgaben:
a) - e) ...
f) § 134 gilt auch für das Inkrafttreten dieses Gesetzes in dem in Artikel 3 des Vertrages genannten Gebiet.
b) § 134 Abs. 1 Satz 1 der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte (im folgenden: BRAGO) lautet:
Die Vergütung ist nach bisherigem Recht zu berechnen, wenn der unbedingte Auftrag zur Erledigung derselben Angelegenheit im Sinne des § 13 vor dem Inkrafttreten einer Gesetzesänderung erteilt oder der Rechtsanwalt vor diesem Zeitpunkt gerichtlich bestellt oder beigeordnet worden ist.
c) In der DDR galt die Anordnung über die Tätigkeit der Rechtsanwälte - Rechtsanwaltsgebührenordnung (RAGO) - vom 1. Februar 1982 (Gbl DDR I S. 183 ff., im folgenden: RAGO). Diese wurde durch die Anordnung zur Änderung und Ergänzung der Anordnung über die Tätigkeit der Rechtsanwälte - Rechtsanwaltsgebührenordnung (RAGO) - vom 15. August 1990 (Gbl DDR I S. 1293 f.; im folgenden: RAGO-Novelle) teilweise, insbesondere hinsichtlich der Höhe der Gebührensätze, geändert. § 5 RAGO-Novelle lautet:
Gebühren und Auslagen werden nach den bisher geltenden Rechtsvorschriften erhoben, wenn sie bereits vor Inkrafttreten dieser Anordnung entstanden und fällig geworden sind.
Die Novelle trat nach ihrem § 6 mit Wirkung vom 15. August 1990 in Kraft.
2. Der Kläger des Ausgangsverfahrens ist Rechtsanwalt mit Kanzleisitz im Beitrittsgebiet. Er nimmt die Beklagte des Ausgangsverfahrens mit einer seit November 1995 bei dem Amtsgericht Dresden rechtshängigen Klage auf Zahlung von Gebühren in Anspruch. Das Mandat, das der Gebührenforderung zugrunde liegt, wurde am 29. März 1990, also vor dem Wirksamwerden des Beitritts, erteilt und ging dahin, für die Beklagte eine Klage bei dem Kreisgericht Dresden zu erheben. Die Beklagte zahlte einen Honorarvorschuß in Höhe von 700,00 DM. Der Kläger reichte die Klage ein und wurde in der Folge mehrfach im Rahmen des Rechtsstreits tätig, letztmalig am 5. Juli 1990. Im Januar 1991 kündigte die Beklagte das Mandat, im Juni 1991 rechnete der Kläger seine Gebühren ab. Er berechnete ausgehend von einem Streitwert von 500.000,00 DM eine Bearbeitungsgebühr und eine Verhandlungsgebühr nach den §§ 6 Abs. 1 und 7 Abs. 1 RAGO in Höhe des nach der Tabelle der RAGO-Novelle ab 15. August 1990 geltenden Gebührenwerts von jeweils 3.417,00 DM. Nach der Tabelle aus dem Jahre 1982 beträgt der jeweilige Gebührensatz nur 2.601,50 DM. Der Kläger rechtfertigt den Ansatz der höheren Gebührensätze mit der Übergangsvorschrift des § 5 RAGO-Novelle.
3. Das vorlegende Gericht geht davon aus, daß die Regelung des Einigungsvertrages in Anlage I, Kapitel III, Sachgebiet A, Abschnitt III, Nr. 26, Maßgabe f) im vorliegenden Fall über § 134 BRAGO zur Anwendung des § 5 RAGO-Novelle führe, weil das Mandat vor dem Inkraftsetzen der BRAGO im Beitrittsgebiet erteilt worden und mithin das zu diesem Zeitpunkt geltende Recht der DDR als das bisherige Recht maßgeblich sei.
a) § 5 RAGO-Novelle sei aber mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) unvereinbar. Anders als bei sämtlichen anderen Übergangsvorschriften des Kostenrechts (§§ 161 KostO, 18 ZSEG, 73 GKG, 134 BRAGO) schließe § 5 RAGO-Novelle nicht schon ab Beginn des Entstehungstatbestandes der ersten Gebühr die Geltung neuer Gebührenregelungen aus, sondern erst ab Fälligkeit der abgerechneten Gebühr. Das erscheine dem Gericht als eine echte Rückwirkung, weil hierdurch in bereits abgeschlossene Sachverhalte in dem Sinne nachträglich regelnd eingegriffen werde, daß an die abgeschlossenen Sachverhalte nachträglich andere Rechtsfolgen geknüpft würden.
Wenn auch gemäß § 16 Abs. 1 Satz 1 RAGO Gebühren und Auslagen des Rechtsanwalts erst nach Beendigung seiner Tätigkeit zur Erfüllung des Auftrags fällig werden, so könne daraus doch nicht gefolgert werden, daß gemäß § 16 Abs. 1 RAGO erst mit der Beendigung des Mandats von einem abgeschlossenen Sachverhalt auszugehen sei. Vielmehr stelle der durch § 16 Abs. 3 RAGO geregelte Kostenvorschuß eine Vorverlagerung der Fälligkeit der Gebühren dar. Der Kläger habe einen Kostenvorschuß auch verlangt und erhalten. Zumindest hinsichtlich dieses Teils der beim Kläger angefallenen Bearbeitungs- und Verhandlungsgebühr habe demnach im Zeitpunkt des Inkrafttretens der RAGO-Novelle bereits Fälligkeit bestanden, was um so mehr für die Abgeschlossenheit des Sachverhalts spreche.
Das Amtsgericht stellt daher - sinngemäß - die Frage zur verfassungsgerichtlichen Überprüfung, ob die Regelung in Kapitel III, Sachgebiet A, Abschnitt III, Nr. 26 Maßgabe f) (vormals Maßgabe e>) der Anlage I zum Einigungsvertrag, die zur Anwendung der Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung im Beitrittsgebiet bestimmt, daß die bei Gesetzesänderungen innerhalb der Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung geltende Vorschrift des § 134 BRAGO maßgeblich sein soll, wegen Verstoßes gegen das in Art. 20 Abs. 3 GG verankerte Rückwirkungsverbot verfassungswidrig und unwirksam ist, soweit damit die Geltung der Übergangsvorschrift des § 5 der Novelle vom 15. August 1990 zur Rechtsanwaltsgebührenordnung der DDR (Gbl DDR I S. 1294) normiert wird.
Für den Fall der Nichtigkeit des § 5 RAGO-Novelle möchte das Gericht die damit entstandene Gesetzeslücke durch Anwendung des § 134 BRAGO ausfüllen.
b) Die vorgelegte Frage ist nach Auffassung des vorlegenden Gerichts entscheidungserheblich. Die geltend gemachte Gebührenforderung sei nicht verjährt und der zugrunde gelegte Streitwert nicht mehr änderbar. Bei Geltung der Novelle zur Rechtsanwaltsgebührenordnung der DDR könne der Kläger daher 7.090,76 DM beanspruchen, während er nach den Gebührensätzen aus dem Jahre 1982 nur 5.231,42 DM verlangen könne.
II.
Die Vorlage ist unzulässig. Die Voraussetzungen für ein Verfahren der konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG liegen nicht vor. Das Amtsgericht kann selbst entscheiden, inwieweit § 5 RAGO-Novelle verfassungswidrig und damit nicht anwendbar ist.
1. Hält ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig, so hat es nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG das Verfahren auszusetzen und, wenn es sich um die Verletzung des Grundgesetzes handelt, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen. Das gilt indessen nur für Gesetze, bei deren Erlaß der Gesetzgeber die Vorschriften des Grundgesetzes zu beachten hatte, nicht dagegen für solche, die nicht unter der Herrschaft des Grundgesetzes ergangen sind. Diese einschränkende Auslegung folgt aus Sinn und Zweck des Art. 100 Abs. 1 GG. Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb in ständiger Rechtsprechung die Auffassung vertreten, daß Art. 100 Abs. 1 GG nur für Gesetze gilt, die nach Inkrafttreten des Grundgesetzes verkündet worden sind (vgl. dazu etwa BVerfGE 2, 124 <128 ff.>; 70, 126 <129 f.>). Vorkonstitutionelle Gesetze stehen nachkonstitutionellen nur dann gleich, wenn der Gesetzgeber sie nach Inkrafttreten des Grundgesetzes in seinen Willen aufgenommen hat (vgl. BVerfGE 66, 248 <254 f.>; 70, 126 <129 f.>). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist von diesen Grundsätzen auch für Gesetze der DDR auszugehen, die nach dem Einigungsvertrag fortgelten sollen. Sinn und Zweck des Art. 100 Abs. 1 GG sprechen auch bei solchen Gesetzen gegen die Zulässigkeit einer konkreten Normenkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht (vgl. Beschluß des Zweiten Senats vom 21. Dezember 1997 - 2 BvL 6/95 -, NJW 1998, S. 1699 f. zur Veröffentlichung vorgesehen in BVerfGE 97, 117 ff.; vgl. auch Beschluß der 2. Kammer des Ersten Senats vom 30. Oktober 1993 - 1 BvL 42/92 -, DtZ 1994, S. 148 f.).
2. Danach ist die Vorlage nicht zulässig.
a) Das vorlegende Gericht formuliert die Vorlagefrage dahin, ob eine Regelung des Einigungsvertrages verfassungswidrig sei. Diese Regelung soll gegen das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) verstoßen, weil und soweit sie die Geltung des § 5 RAGO-Novelle dadurch normiere, daß sie § 134 BRAGO für anwendbar erkläre, wenn einem Rechtsanwalt der Auftrag vor dem Inkrafttreten des Einigungsvertrages erteilt wurde. Mit diesen Erwägungen ist die Vorlagefrage nicht in zulässiger Weise gestellt.
Infolge des Zustimmungsgesetzes zum Einigungsvertrag stellen seine Regelungen zwar ebenso wie das nach Art. 8 EV in Verbindung mit Anlage I modifiziert übergeleitete Bundesrecht nachkonstitutionelles Recht im Sinne des Art. 100 Abs. 1 GG dar und können deshalb Gegenstand einer Richtervorlage sein. Das vorlegende Gericht sieht den Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip jedoch - zutreffend - nicht in der hier in Rede stehenden Regelung des Einigungsvertrages und auch nicht in dem Inhalt des § 134 BRAGO, den diese Vorschrift durch Anlage I des Einigungsvertrages erhalten hat. Nach der maßgeblichen Regelung des Einigungsvertrages tritt die Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung im Beitrittsgebiet mit der Maßgabe in Kraft, daß für Mandatsverhältnisse, die während des Bestehens der DDR zustande gekommen sind, nicht die Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte gilt, sondern die bis dahin ohnehin geltende Rechtsanwaltsgebührenordnung der DDR anwendbar bleibt. Eine Rückwirkung liegt in dieser Regelung, die es bei dem bestehenden Rechtszustand beläßt, nicht.
b) Dem vorlegenden Gericht geht es damit nicht um einen Verstoß der genannten Regelung des Einigungsvertrages gegen Art. 20 Abs. 3 GG. Es will vielmehr klären lassen, ob § 5 RAGO-Novelle gegen das Rückwirkungsverbot verstößt. Eine solche Klärung ist im Verfahren der konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG nicht möglich.
(1) Die vor Wirksamwerden des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland erlassenen Vorschriften der Novelle zur Rechtsanwaltsgebührenordnung der DDR gehören nicht zu den Gesetzen, die unter der Herrschaft des Grundgesetzes ergangen sind. Das Bundesverfassungsgericht hat auch bereits entschieden, daß den Vorschriften des Rechts der DDR der Rang nachkonstitutionellen Rechts der Bundesrepublik selbst dann nicht zukommt, wenn sie aufgrund der ausdrücklichen Regelung des Art. 9 Abs. 2 EV in Verbindung mit der Anlage II zum Einigungsvertrag in Kraft bleiben (Beschluß vom 21. Dezember 1997, a.a.O.). Nichts anderes kann gelten, wenn eine Regelung des Rechts der DDR aufgrund des Art. 8 EV in Verbindung mit den Maßgaben der Anlage I zum Einigungsvertrag anwendbar bleibt. Auch solchen Vorschriften des Rechts der DDR ist durch den Einigungsvertrag nicht der Rang nachkonstitutionellen Rechts der Bundesrepublik Deutschland verliehen worden.
(2) Das Bundesverfassungsgericht hat auch bereits entschieden, daß Vorschriften des Rechts der DDR allein durch ihre Aufnahme in die Anlage II zum Einigungsvertrag vom Gesetzgeber der Bundesrepublik Deutschland nicht derart in seinen Willen aufgenommen worden sind, daß sie nachkonstitutionellem Recht der Bundesrepublik Deutschland gleichstünden (Beschluß vom 21. Dezember 1997, a.a.O.). Erst recht kann nicht angenommen werden, der Gesetzgeber habe durch seine Zustimmung zum Einigungsvertrag solche Vorschriften des Rechts der DDR generell in seinen Willen aufnehmen wollen, deren Anwendbarkeit sich deshalb ergibt, weil das Bundesrecht durch Art. 8 EV mit den aus Anlage I zum Einigungsvertrag ersichtlichen Maßgaben übergeleitet worden ist. Die durch die Maßgaben bewirkte Anwendbarkeit zahlreicher Vorschriften des Rechts der DDR beruht auf der Erwägung, daß Sachverhalte, die ihre Grundlage vor dem 3. Oktober 1990 haben, nach dem bisherigen Recht abgewickelt werden sollen.
Dies gilt auch für die Regelungen des Rechtsanwaltsgebührenrechts der DDR. In den Erläuterungen zu den Anlagen zum Einigungsvertrag ist ausgeführt (BTDrucks 11/7817, S. 29), daß die Überleitung des Kostenrechts die abweichenden Lebensverhältnisse, insbesondere die Vermögens- und Einkommensverhältnisse in der früheren DDR berücksichtige. Soweit möglich fänden die allgemeinen Übergangsbestimmungen der Kostengesetze auch auf deren Inkrafttreten in der früheren DDR Anwendung. Instanzen, die bereits anhängig waren, bzw. Kosten, die bereits fällig waren, würden danach grundsätzlich nach bisherigem Recht abgewickelt. Diesen Erwägungen ist zu entnehmen, daß die weitere Anwendbarkeit des Rechtsanwaltsgebührenrechts der DDR Übergangscharakter hat. Der Bundesgesetzgeber hat die bestehenden Regelungen hingenommen, weil dies für die Abwicklung der bestehenden Mandatsverhältnisse zweckmäßig erschien. Dafür, daß er sie auch inhaltlich bestätigen wollte, ist nichts ersichtlich.
3. Da Art. 100 Abs. 1 GG demnach nicht anwendbar ist, kann das Amtsgericht selbst darüber entscheiden, ob § 5 RAGO-Novelle verfassungsgemäß ist.
BVerfG:
Beschluss v. 10.08.1998
Az: 2 BvL 11/97
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