Verwaltungsgericht Minden:
Urteil vom 29. Juni 2009
Aktenzeichen: 11 K 3588/08
(VG Minden: Urteil v. 29.06.2009, Az.: 11 K 3588/08)
Tenor
Der Bescheid des Beklagten vom 24.11.2008 wird aufgehoben.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
Der am 7.11.1986 geborene Kläger wurde von Beamten des Beklagten am 1.11.2008 gegen 2.30 Uhr angetroffen, als er mit einer Sprühdose ein Graffito an die geflieste Wand des früheren Scalakinos an der I. Straße in C. sprühte. Der Kläger führte sechs Lacksprühdosen mit. Zudem wurden 0,95 g Marihuana gefunden. Ein vor Ort durchgeführter Alco-Test ergab eine Atemalkoholkonzentration von 0,92 mg/l (entspricht 1,84 BAK). Das gegen den Kläger geführte Ermittlungsverfahren wegen Sachbeschädigung wurde gemäß § 153 a StPO gegen eine Geldbuße von 300 EUR eingestellt (StA C. , 43 Js 2446/08). Das Verfahren wegen des Besitzes von Marihuana wurde gemäß § 31 a BTMG eingestellt.
Mit Bescheid vom 24.11.2008 ordnete der Beklagte die erkennungsdienstliche Behandlung des Klägers an und führte zur Begründung aus: Der Kläger sei auf frischer Tat bei einer Sachbeschädigung durch Graffiti angetroffen worden. Er stehe im Verdacht zwei weitere entsprechende Taten begangen zu haben.
Am 22.12.2008 hat der Kläger Klage erhoben. Er trägt vor: Es existiere nur ein weiteres Verfahren aus dem Jahr 2005 wegen eines fahrlässig verschuldeten Verkehrsunfalls. Damals sei er zur Erbringung von Arbeitsleistungen verurteilt worden; es sei eine Sperre für die Fahrerlaubnis bis zum 13.7.2006 verhängt worden. Er habe auf die sichergestellten Lacksprühdosen verzichtet. Die Dosen habe er aufgrund seiner Berufstätigkeit als Abbruchhelfer in Besitz gehabt. Die Fläche sei ohnehin in erheblichem Maße beschmiert, mit Graffiti versehen und entstellt gewesen. Er habe das Graffito auf seine Kosten für 345,10 EUR entfernen lassen. Es treffe nicht zu, dass er in Verdacht stehe zwei weitere Taten begangen zu haben. Beide Verfahren seien mangels Ermittlung eines Täters eingestellt worden. Eine Wiederholungsgefahr bestehe nicht. Professionelle Täter verwendeten Handschuhe; der Kläger habe dies gerade nicht gemacht. Die Maßnahme sei unverhältnismäßig. Der Eigentümer der Immobilie habe einen Strafantrag wegen Sachbeschädigung nicht gestellt.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 24.11.2008 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er verteidigt den angefochtenen Bescheid und tritt den Auffassungen des Klägers in der Klagebegründung entgegen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten (1 Hefter) Bezug genommen.
Gründe
Die Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Rechtsgrundlage der angefochtenen Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung des Klägers ist § 81 b 2. Alt. StPO. Danach dürfen Lichtbilder und Fingerabdrücke eines Beschuldigten auch gegen seinen Willen aufgenommen und Messungen und ähnliche Maßnahmen an ihm vorgenommen werden, soweit es für die Zwecke des Erkennungsdienstes notwendig ist. Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt.
Zum Zeitpunkt der Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung wurde gegen den Kläger ein Ermittlungsverfahren bei der Staatsanwaltschaft C. unter dem Aktenzeichen 43 Js 2446/08 geführt, das auch zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides noch nicht abgeschlossen war. Er war insoweit Beschuldigter in einem Ermittlungsverfahren wegen Sachbeschädigung. Die formellen Voraussetzungen des § 81 b 2. Alt. StPO lagen damit vor. Die erkennungsdienstliche Behandlung des Klägers ist für die Zwecke des Erkennungsdienstes jedoch nicht notwendig.
Sie soll präventiv Hilfsmittel für die Erforschung und Aufklärung von - zukünftigen - Straftaten bereitstellen. Das ist dann erforderlich, wenn der anlässlich eines Strafverfahrens gegen den Betroffenen festgestellte Sachverhalt nach kriminalistischer Erfahrung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles - insbesondere Art, Schwere und Begehungsweise der Straftaten, der Persönlichkeit des Klägers sowie des Zeitraums, in dem er strafrechtlich nicht oder nicht mehr in Erscheinung getreten ist - die Annahme rechtfertigt, er könne in Zukunft mit guten Gründen als Verdächtiger oder potenzieller Beteiligter an einer Straftat in Betracht kommen und die erkennungsdienstlichen Unterlagen könnten diese Ermittlungen fördern, den Betroffenen also überführen oder entlasten.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 19.10.1982 - 1 C 29/79 -, BVerwGE 66, 192; Urteil vom 19.10.1982 - 1 C 114/79 -, BVerwGE 66, 202; OVG NRW, Beschluss vom 13.01.1999 - 5 B 2562/98 -, NWVBl 1999, 257; VGH Mannheim, Urteil vom 18.12.2003 - 1 S 2211/02 -, NVwZ-RR 2004, 572 ff.
Die Notwendigkeit der erkennungsdienstlichen Behandlung ergibt sich demzufolge anhand einer Abwägung zwischen dem Interesse der Öffentlichkeit an einer effektiven Verhinderung und Aufklärung von Straftaten und dem Interesse der Betroffenen, entsprechend dem Menschenbild des Grundgesetzes nicht bereits deshalb als potenzieller Rechtsbrecher behandelt zu werden, weil er sich irgendwie verdächtig gemacht hat oder angezeigt worden ist.
Vgl. OVG NRW, Urteile vom 25.06.1991 - 5 A 1257/90 - und vom 29.11.1994 - 5 A 2234/93 -; Beschlüsse vom 14.07.1994 - 5 B 2686/93 -, 16.10.1996 - 5 B 2205/96 - und vom 13.01.1999 - 5 B 2562/98 -, NWVBl. 1999, 257 = NJW 1999, 2689 = DVBl. 1999, 1228.
Im Rahmen der Abwägung ist insbesondere danach zu differenzieren, in welchem Umfang auch nach Abschluss des Verfahrens noch Verdachtsmomente gegen den Betroffenen bestehen. Falls die für das Ermittlungsverfahren bestimmenden Verdachtsmomente ausgeräumt sind, ist eine Abnahme und/oder weitere Aufbewahrung erkennungsdienstlicher Unterlagen nicht notwendig im Sinne des § 81 b 2. Alt. StPO. Andernfalls kommt es entscheidend darauf an, welcher Art das Delikt ist, auf das sich die verbliebenen Verdachtsmomente beziehen. Je schwerer das Delikt wiegt, je höher der Schaden für die geschützten Rechtsgüter und die Allgemeinheit zu veranschlagen ist und je größer die Schwierigkeiten einer Aufklärung sind, desto mehr Gewicht erlangt das oben beschriebene öffentliche Interesse. Anders als im Fall des § 81 g StPO ist es für die Anordnung nach § 81 b StPO jedoch nicht erforderlich, dass der zurückliegende oder zukünftig zu erwartende Verdacht Straftaten von "erheblicher" Bedeutung betrifft.
Im Übrigen stellt die Verwertung verbliebener Verdachtsmomente in Verfahren, die nicht oder noch nicht zu einer Strafverurteilung des Betroffenen geführt haben, keinen Verstoß gegen die im Rechtsstaatsprinzip begründete und auch in Art. 6 Abs. 2 EMRK zum Ausdruck kommende Unschuldsvermutung dar. Denn weder die Aufnahme der erkennungsdienstlichen Unterlagen noch ihre Aufbewahrung enthalten eine Aussage über Schuld oder Unschuld des Betroffenen.
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 16.5.2002 - 1 BvR 2257/01 -, DVBl. 2002, 1110 f.; BVerwG, Urteil vom 25.10.1960 - 1 C 63.59 -, BVerwGE 11, 181 (183); OVG NRW, Urteil vom 29.11.1994 - 5 A 2234/93 -; Beschluss vom 05.02.1996 - 5 A 1406/93 -.
Dies folgt letztlich bereits daraus, dass die Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung nach § 81 b 2. Alt. StPO ein noch anhängiges Ermittlungsverfahren voraussetzt. Zu diesem Zeitpunkt ist aber die Frage einer strafrechtlichen Sanktion notwendig noch offen. Denn die Unschuldsvermutung hat gerade bis zum rechtskräftigen Abschluss eines Strafverfahrens zu gelten. Dementsprechend führt eine Einstellung des Verfahrens oder auch ein Freispruch im anschließenden Strafverfahren nicht ohne weiteres dazu, die Datenerhebung oder -speicherung zum Zwecke präventiver Verbrechensbekämpfung auszuschließen. Selbst bei einem Freispruch sind die Ermittlungsbehörden vielmehr befugt, weiterhin davon auszugehen, der ursprüngliche, für die Anordnung auch ausreichende Tatverdacht bestehe fort und sei weiterhin ihre tragfähige Grundlage. Verhältnismäßigkeit und Rechtsstaatsprinzip verlangen den Ermittlungsbehörde in diesen Fällen jedoch einschränkend ab, die Erforderlichkeit der Datenerhebung und -speicherung unter Berücksichtigung des freisprechenden Urteils darzulegen und nachvollziehbar zu begründen.
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 16.5.2002 - 1 BvR 2257/01 -, DVBl. 2002, 1110 f.
Ist damit aber die Anordnung einer erkennungsdienstlichen Behandlung selbst nach einem freisprechenden Urteil grundsätzlich zulässig, so gilt dies erst recht dann, wenn ein Verfahren nach § 153 ff. StPO eingestellt wurde. Denn hierfür ist es gerade Voraussetzung, dass ein Straftatverdacht nicht auszuschließen ist. Anderenfalls müsste die Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO erfolgen.
Nach diesen Maßstäben ist eine erkennungsdienstliche Behandlung des Klägers nicht notwendig. Allerdings dürfte die vom Beklagten vertretene Auffassung zutreffen, dass Graffiti häufig von Mehrfachtätern angebracht werden. Entgegen der vom Kläger vertretenen Auffassung dürften insbesondere Lichtbilder und Fingerabdrücke auch geeignet sein in diesem Bereich Täter zu ermitteln. Da das Aufbringen der Graffiti eine erhebliche Zeit in Anspruch nehmen kann, besteht stets die Möglichkeit, dass ein Täter - wie auch der Kläger im Anlassverfahren - bemerkt und insbesondere gesehen wird. Zudem können sich am verwendeten Material, insbesondere den Sprühdosen, Fingerabdrücke befinden.
Dennoch kommt in der speziellen vorliegenden Fallgestaltung die Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen nicht in Betracht. Es bestehen keine hinreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger zukünftig eine Straftat begehen wird. Die Feststellung derartiger Anhaltspunkte ist einer schematischen Betrachtung nicht zugänglich, sondern bedarf der eingehenden Würdigung aller hierfür relevanten Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung der Gründe für die Einstellung des Verfahrens. Die persönlichen Verhältnisse des Klägers und andere auf ihn bezogene tatsächliche Umstände sind zu berücksichtigen.
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 1.6.2006 - 1 BvR 2293/03 - , Rdnr. 12, 15.
Dem Kläger ist nur die Anlasstat nachzuweisen. Hier ist es nicht zu einer Verurteilung sondern zu einer Einstellung des Verfahrens nach § 153 a StPO gekommen, nachdem der Kläger die Auflage (Zahlung einer Geldbuße von 300,- EUR) erfüllt hatte. Es bestehen keine hinreichenden Anhaltspunkte, dass er weitere Graffiti angefertigt haben könnte. Die vom Beklagten insoweit herangezogenen beiden weiteren Fälle sind dem Kläger nicht anzulasten. Auch wenn in diesen Vergleichsfällen identische Buchstaben aufgebracht worden sind, ist die Gestaltung nach den in der Akte befindlichen Fotos so unterschiedlich, dass eine Urheberschaft des Klägers nicht naheliegt. Weitere für die vorliegende Entscheidung relevante Taten werden dem Kläger nicht vorgeworfen. Das Verfahren aus dem Jahr 2005 wegen eines fahrlässig verschuldeten Verkehrsunfalls ist hier - wohl auch nach Meinung des Beklagten - nicht einschlägig. Der Kläger hat den durch das Graffito verursachten Schaden auf seine Kosten unverzüglich beseitigen lassen. Bis heute, d.h. etwa acht Monate nach der Tat, ist es nicht zur Einleitung weiterer Ermittlungsverfahren gekommen. Der Kläger wird zum Wintersemester ein Studium an der Fachhochschule M. aufnehmen. Die auch vom Bundesverfassungsgericht geforderte Gesamtschau aller Umstände liefert in dieser speziellen Fallgestaltung keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger künftig Straftaten begehen wird und dass eine erkennungsdienstliche Behandlung spätere Ermittlungsverfahren fördern könnte. Allein die Tatsache, dass bei Sachbeschädigungen durch Graffiti eine weit überdurchschnittliche Wiederholungsgefahr bestehen mag, reicht als Grundlage für die vom Beklagten getroffene Prognoseentscheidung nicht aus.
Vgl. zu diesem Aspekt BVerfG, Beschluss vom 1.6.2006, a.a.O.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergeht gemäß § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Sätze 1 und 2 ZPO.
VG Minden:
Urteil v. 29.06.2009
Az: 11 K 3588/08
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