Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg:
Urteil vom 23. Februar 2010
Aktenzeichen: 10 S 221/09

(VGH Baden-Württemberg: Urteil v. 23.02.2010, Az.: 10 S 221/09)

Das Auswechseln der Begründung für die Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ist nicht zulässig.

Steht die Anordnung eines Gutachtens (hier: aufgrund zahlreicher strafrechtlicher Verurteilungen wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis) im Widerspruch zu früheren Verlautbarungen der Behörde (hier: Bestätigung der Berechtigung zum Gebrauch einer EU-Fahrerlaubnis im Inland), bedarf diese Anordnung einer näheren Begründung. Andernfalls bestehen nachvollziehbare Gründe für die Nichtbeibringung des Gutachtens mit der Folge, dass die Fahrerlaubnisbehörde nicht nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV ohne weiteres von der Nichteignung des Betroffenen ausgehen darf.

Die Rücknahme einer rechtswidrigen Entziehungsverfügung steht auch dann im Ermessen der Fahrerlaubnisbehörde, wenn aufgrund neuer Eignungszweifel ein weiteres Entziehungsverfahren eingeleitet werden muss.

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 11. Juni 2008 - 4 K 3906/07 - geändert.

Die Verfügung des Landratsamts Karlsruhe vom 30.07.2007 und der Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 16.10.2007 werden aufgehoben.Der Beklagte wird verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf Aufhebung der Entziehungsverfügung des Landratsamts Karlsruhe vom 13.10.2005 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Der Kläger und der Beklagte tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Aufhebung einer Verfügung, mit der ihm eine niederländische Fahrerlaubnis für den Bereich der Bundesrepublik Deutschland entzogen wurde.

Dem 1963 geborenen Kläger wurde mit Verfügung vom 17.03.1993 die Fahrerlaubnis entzogen, weil er ein wegen zahlreicher Verkehrsverstöße angefordertes medizinisch-psychologisches Gutachten nicht beigebracht hatte. Mit Verfügung vom 23.01.1997 lehnte das Landratsamt Karlsruhe den Antrag des Klägers auf Wiedererteilung der Fahrerlaubnis ab, weil er der erneuten Aufforderung zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens wiederum nicht nachgekommen war. Am 06.06.2000 wurde dem Kläger in Tilburg eine niederländische Fahrerlaubnis erteilt. Als Wohnort ist im Führerschein eine Adresse in Tilburg eingetragen.

Seit dem Jahre 1978 ist der Kläger fortlaufend strafrechtlich in Erscheinung getreten. Im Jahre 2007 hatte er 42 Eintragungen im Bundeszentralregister und 24 Eintragungen im Verkehrszentralregister, davon 13 wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis. Nach Erteilung der niederländischen Fahrerlaubnis trat der Kläger im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr strafrechtlich wie folgt in Erscheinung:

- Strafbefehl des Amtsgerichts Ettlingen vom 11.07.2000 wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in mehreren Fällen, Geldstrafe von 130 Tagessätzen, isolierte Sperre für die Fahrerlaubniserteilung bis 11.10.2001.

- Urteil des Amtsgerichts Künzelsau vom 06.06.2001 wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis, Geldstrafe von 160 Tagessätzen, Fahrerlaubnissperre bis 22.11.2002,

- Urteil des Amtsgerichts Ettlingen vom 09.08.2001 wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in Tatmehrheit mit dem Gebrauch eines Kraftfahrzeugs ohne Haftpflichtversicherungsvertrag in Tateinheit mit Urkundenfälschung in Tatmehrheit mit Beleidigung in vier tateinheitlichen Fällen, Freiheitsstrafe von 6 Monaten, Fahrerlaubnissperre bis 18.12.2002 (Bewährungswiderruf),

- Urteil des Amtsgerichts Bruchsal vom 23.08.2001 wegen gemeinschaftlichen Diebstahls in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis in Tatmehrheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis in zwei weiteren Fällen und Urkundenfälschung, Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 3 Monaten,

- Urteil des Amtsgerichts Ettlingen vom 28.02.2002 wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis, Freiheitsstrafe von 4 Monaten,

- Strafbefehl des Amtsgerichts Karlsruhe vom 01.04.2004 wegen fahrlässigen Anordnens des Fahrens ohne Fahrerlaubnis, Geldstrafe von 15 Tagessätzen,

- Urteil des Amtsgerichts Kempten vom 11.06.2007 wegen gemeinschädlicher Sachbeschädigung in Tateinheit mit Beleidigung in Tatmehrheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis in Tateinheit mit Urkundenfälschung, Gesamtfreiheitsstrafe von 6 Monaten, isolierte Sperrfrist von 2 Jahren.

- Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 06.08.2007 wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis, Geldstrafe von 30 Tagessätzen

Mit Schreiben vom 19.08.2004 bestätigte das Landratsamt Karlsruhe dem Kläger auf dessen Vorsprache hin, dass ihn die niederländische Fahrerlaubnis nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs berechtige, im Bundesgebiet Kraftfahrzeuge der Klasse B zu führen. Der Kläger wurde anlässlich seiner Vorsprache darüber informiert, dass das Landratsamt eine Überprüfung seiner Kraftfahreignung in Form eines medizinisch-psychologischen Gutachtens verlangen werde.

Mit Schreiben vom 29.09.2004 forderte das Landratsamt Karlsruhe den Kläger erstmals zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens auf. Mit Schreiben vom 20.06.2005 wurde der Kläger erneut zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens mit folgender Fragestellung aufgefordert: Ist zu erwarten, dass der zu Untersuchende erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Bestimmungen verstoßen wird€. Zur Begründung wurde ausgeführt, seit der Ablehnung des Antrags auf Wiedererteilung der Fahrerlaubnis sei der Kläger insgesamt siebenmal wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis verurteilt worden. Aufgrund dieses Sachverhalts bestünden bei der Fahrerlaubnisbehörde nach wie vor erhebliche Zweifel an seiner Kraftfahreignung, die durch die Erteilung der niederländischen Fahrerlaubnis nicht ausgeräumt seien. Es sei deshalb in entsprechender Anwendung von § 11 Abs. 3 Nr. 4 FeV abzuklären, ob der Kläger auch zukünftig Straftaten im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr begehen oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften verstoßen werde. Der Kläger wurde auf § 11 Abs. 8 FeV hingewiesen.

Nachdem der Kläger das angeforderte Gutachten nicht fristgerecht vorgelegt hatte, entzog ihm das Landratsamt Karlsruhe mit Verfügung vom 13.10.2005 die niederländische Fahrerlaubnis für den Bereich der Bundesrepublik Deutschland unter Bezugnahme auf § 11 Abs. 8 FeV. Der Kläger legte Widerspruch ein und suchte beim Verwaltungsgericht Karlsruhe um vorläufigen Rechtsschutz nach. Mit Beschluss vom 03.01.2006 - 4 K 262/05 - lehnte das Verwaltungsgericht Karlsruhe den Antrag des Klägers auf vorläufigen Rechtsschutz ab; daraufhin nahm der Kläger seinen Widerspruch mit Schreiben vom 21.02.2006 zurück.

Am 04.07.2007 beantragte der Kläger unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, die Entscheidung vom 13.10.2005 aufzuheben. Mit Bescheid vom 30.07.2007 lehnte das Landratsamt Karlsruhe den Antrag auf Aufhebung der Entziehungsverfügung vom 13.10.2005 ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Kläger habe keinen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 LVwVfG, weil sich die Sach- oder Rechtslage nicht nachträglich zu seinen Gunsten geändert habe. Die neuere Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs stelle keine Änderung der Rechtslage dar. Dem Kläger stehe auch kein Anspruch auf Rücknahme oder Widerruf der Entscheidung vom 13.10.2005 zu. Die Rücknahme stehe im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde. Ein Anspruch auf Aufhebung der Entscheidung ergebe sich nur dann, wenn sich das Ermessen der Behörde auf null reduziert habe. Allein die Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts begründe keinen Anspruch auf Rücknahme, weil der Rechtsverstoß lediglich die Voraussetzung einer Ermessensentscheidung der Behörde sei. Die offensichtliche Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts könne zwar dazu führen, dass seine Aufrechterhaltung als schlechthin unerträglich angesehen werde. Die Offensichtlichkeit fehle, wenn der Rechtsfehler erst später ersichtlich werde.

Der Kläger legte hiergegen Widerspruch ein mit der Begründung, die Vorgehensweise des Landratsamts verstoße gegen Treu und Glauben. Mit Widerspruchsbescheid vom 16.10.2007 wies das Regierungspräsidium Karlsruhe den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte es aus, die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens lägen nicht vor. Die Entziehungsverfügung vom 13.10.2005 stehe mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Einklang, weil der Kläger nach der Erteilung der niederländischen Fahrerlaubnis wiederholt Straftaten im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr begangen habe. Die Aufforderung zur Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens sei daher zu Recht ergangen. Da der Kläger das Gutachten nicht beigebracht habe, habe das Landratsamt Karlsruhe auf seine Nichteignung schließen können. Auch zum maßgeblichen Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung bestünden weiterhin erhebliche Zweifel an der Kraftfahreignung des Klägers. Die Rücknahme der Entziehungsverfügung scheide aus, weil die Verfügung rechtmäßig sei. Ein Widerruf komme ebenfalls nicht in Betracht, weil ein Verwaltungsakt gleichen Inhalts erneut erlassen werden müsse.

Der Kläger hat am 19.11.2007 Klage erhoben. Zur Begründung hat er geltend gemacht, nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sei die in einem Mitgliedstaat erteilte Fahrerlaubnis unabhängig davon anzuerkennen, ob der Betroffene nach Auffassung des Aufnahmestaates seine Fahreignung ausreichend nachgewiesen habe. Er hat beantragt, die Verfügungen des Landratsamts Karlsruhe vom 13.10.2005 und vom 30.07.2007 und den Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 16.10.2007 aufzuheben, hilfsweise den Beklagten zu verpflichten, über seinen Antrag auf Aufhebung der Verfügung vom 13.10.2005 erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden.

Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Er hat geltend gemacht, der Kläger habe durch die zwischenzeitlich vom Landgericht Karlsruhe und vom Amtsgericht Kempten geahndeten erneuten Verstöße wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis seine nicht gegebene charakterliche Kraftfahreignung bestätigt. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 29.04.2004 habe keinen entscheidungserheblichen Einfluss auf die Bewertung der Eignungszweifel gehabt, die sich aus der Vielzahl von Verkehrsverstößen ergeben hätten. Das Führen eines Kraftfahrzeugs mit der niederländischen Fahrerlaubnis sei damals eindeutig strafbar gewesen, worüber sich der Kläger bewusst hinweggesetzt habe.

Mit Urteil vom 11. Juni 2008 hat das Verwaltungsgericht Karlsruhe die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger habe keinen Anspruch auf ein Wiederaufgreifen des Verfahrens, weil eine Änderung der Rechtsprechung keine Änderung der Sach- und Rechtslage i. S. des § 51 Abs. 1 LVwVfG darstelle. Der Kläger könne auch keine Aufhebung der Entziehungsverfügung verlangen. Eine Rücknahme nach § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG komme nicht in Betracht, weil die Entziehungsverfügung vom 13.10.2005 rechtmäßig gewesen sei. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sei die Anwendung innerstaatlicher Vorschriften über den Entzug einer Fahrerlaubnis, die in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellt worden sei, aufgrund eines Verhaltens des Betroffenen nach Erwerb des ausländischen Führerscheins anzuwenden. Nur die Umstände vor der Ausstellung eines neuen Führerscheins könnten nicht die Aufforderung zu einer neuerlichen Fahreignungsprüfung rechtfertigen. Vorliegend habe das Landratsamt die Entziehungsverfügung auf nach Erteilung der niederländischen Fahrerlaubnis begangene Verkehrsstraftaten gestützt, nämlich auf den Strafbefehl des Amtsgerichts Ettlingen vom 09.08.2001 wegen Gebrauchs eines Kraftfahrzeugs ohne Haftpflichtversicherungsvertrag und den Strafbefehl des Amtsgerichts Karlsruhe vom 01.04.2004 wegen fahrlässigen Anordnens des Fahrens ohne Fahrerlaubnis. Diese Straftaten seien durchaus geeignet, Zweifel an der Kraftfahreignung des Klägers zu begründen und damit die Aufforderung zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens zu rechtfertigen. Offen bleiben könne daher, ob das Landratsamt Karlsruhe auch die Verurteilungen wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis habe heranziehen dürfen. Aus dem Schreiben des Landratsamts vom 19.08.2004 ergebe sich nichts Abweichendes. Dieses sei dahingehend zu verstehen, dass die niederländische Fahrerlaubnis des Klägers zwar grundsätzlich in der Bundesrepublik gelte, was aber nachträgliche Maßnahmen, denen Vorfälle nach der Erteilung der Fahrerlaubnis zugrunde lägen, nicht ausschließe. Auch ein Widerruf der Verfügung vom 13.10.2005 komme nicht in Betracht.

Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist am 25.06.2008 zugestellt worden. Am 16.07.2008 hat der Kläger einen Antrag auf Prozesskostenhilfe für einen noch zu stellenden Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt. Mit Beschluss vom 02.12.2008 - 10 S 2025/08 -, dem Kläger zugestellt am 12.12.2008, hat der Senat Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt S. beigeordnet. Am 18.12.2008 hat der Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt sowie einen Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 11.06.2008 gestellt. Mit Beschluss vom 28.01.2009 hat der Senat dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt und die Berufung zugelassen. Der Beschluss wurde dem Kläger am 28.01.2009 zugestellt. Am 18.02.2009 hat der Kläger einen Sachantrag gestellt und zur Begründung der Berufung auf seine Ausführungen im Zulassungsantrag verwiesen. Er hat vorgetragen, die Verfügung des Landratsamts Karlsruhe vom 13.10.2005 sei rechtswidrig und nach § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG zurückzunehmen. Eine Entziehung nach § 28 Abs. 1 Satz 3, § 46 Abs. 1 i.V.m. § 11 Abs. 8 FeV komme nur in Betracht, wenn die Aufforderung zur Beibringung des medizinisch-psychologischen Gutachtens rechtmäßig gewesen sei. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hätten die deutschen Behörden nur das Verhalten des Betroffenen nach Erwerb des ausländischen Führerscheins berücksichtigen dürfen. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sei die Entziehungsverfügung nicht nur auf die beiden genannten Strafbefehle, sondern auf das Gesamtverhalten des Klägers einschließlich sämtlicher Straftatbestände wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis gestützt worden. Die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Differenzierung lasse sich der Entziehungsverfügung nicht entnehmen. Darüber hinaus rechtfertigten die beiden Straftatbestände nicht die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens. Hätte die Fahrerlaubnisbehörde diese beiden Straftatbestände gemeint, so hätte sie hierzu nähere Ausführungen in Kenntnis der Ermittlungsakten machen müssen. Auch das Verwaltungsgericht begnüge sich damit festzustellen, dass die Straftaten geeignet seien, Eignungszweifel zu begründen.

Der Kläger beantragt bei sachdienlicher Auslegung,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 11.06.2008 - 4 K 3906/07 - zu ändern und die Verfügung des Landratsamts Karlsruhe vom 30.07.2007 und den Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 16.10.2007 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, die Verfügung des Landratsamts Karlsruhe vom 13.10.2005 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er macht geltend, der Kläger lege nicht dar, weshalb die Entscheidung vom 30.07.2007 ermessensfehlerhaft sei. Nach obergerichtlicher Rechtsprechung genüge insoweit regelmäßig der Hinweis auf die bestandskräftige frühere Entscheidung mit dem Bemerken, dass für eine andere Entscheidung kein Anlass bestehe. Auch im vorliegenden Fall dürften die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens vor den Interessen des Klägers realisiert werden, weil dies hier nicht zu unzumutbaren, unerträglichen Folgen führe. Im Übrigen sei die Entziehungsverfügung vom 13.10.2005 nicht rechtswidrig; insbesondere sei die Aufforderung zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens berechtigt gewesen. Der Kläger sei wiederholt im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr strafrechtlich verurteilt worden; er bagatellisiere diese Straftaten. Im Übrigen offenbarten die weiteren Verurteilungen wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis seit 2001 zumindest in subjektiver Hinsicht die Einstellung des Klägers zur Rechtsordnung. Dies zeige sich insbesondere in den Verurteilungen aus dem Jahre 2007 wegen vorsätzlicher Taten, die nach dem bestandskräftigen Entzug der Fahrerlaubnis begangen worden seien.

Dem Senat liegen die Fahrerlaubnisakten des Landratsamts (2 Hefte), die Widerspruchsakte des Regierungspräsidiums Karlsruhe, die Gerichtsakten des Verwaltungsgerichts Karlsruhe im vorliegenden Verfahren und im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (4 K 2632/05) sowie die Strafakten des Amtsgerichts Karlsruhe (5 Cs 46 Js 35796/03), des Amtsgerichts Ettlingen (1 Ds 45 Js 2577/01), des Amtsgerichts Kempten (2 Ds 233 Js 22549/06) und des Landgerichts Karlsruhe (9 Ns 450 Js 4309/06) vor. Wegen der Einzelheiten wird hierauf und auf die gewechselten Schriftsätze der Beteiligten Bezug genommen.

Gründe

Mit Einverständnis der Beteiligten entscheidet der Senat ohne mündliche Verhandlung (§ 125 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 101 Abs. 2 VwGO).

Der Kläger ist trotz der im Berufungsverfahren mitgeteilten Mandatsniederlegung nach wie vor durch seinen beigeordneten Rechtsanwalt S. vertreten im Sinne des § 67 Abs. 4 i.V.m. Abs. 2 VwGO. Der Beiordnungsbeschluss vom 02.12.2008 hat seine Wirksamkeit durch die Mandatsniederlegung nicht verloren. Die Anwaltsbeiordnung nach § 166 VwGO i.V.m. § 121 Abs. 1 ZPO steht einer Mandatsniederlegung durch einseitige Erklärung entgegen. Der beigeordnete Rechtsanwalt ist vielmehr darauf verwiesen, gemäß § 48 Abs. 2 BRAO die Aufhebung der Beiordnung zu beantragen. Dies ist im vorliegenden Verfahren nicht geschehen und würde zudem wichtige Gründe voraussetzen. Bis zu seiner Entpflichtung bleibt der beigeordnete Rechtsanwalt nach § 48 Abs. 1 BRAO zur Vertretung des Beteiligten verpflichtet (BVerwG, Beschl. v. 10.04.2006 - 5 B 87/05 - juris; OLG Celle, Beschl. v. 05.02.2007 - 6 W 2/07 - juris, OLG Karlsruhe, Beschl. v. 10.11.2006 - juris).

Die Berufung des Klägers ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Der Kläger hat einen Anspruch darauf, dass der Beklagte über seinen Antrag auf Aufhebung der Entziehungsverfügung vom 13.10.2005 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichtshofs erneut entscheidet (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO). Die den Antrag ablehnende Verfügung des Landratsamts Karlsruhe und der Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe sind insoweit rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat aber keinen Anspruch auf Verpflichtung des Beklagten zur Rücknahme der Verfügung vom 13.10.2005, weil die Aufhebung der Entziehungsverfügung im Ermessen der Behörde steht und sich das Ermessen nicht so weit verdichtet hat, dass die Aufhebung der Verfügung die einzig rechtmäßige Entscheidung ist (sog. Ermessensreduzierung auf null).1.

Die Berufung ist zulässig. Dem Kläger ist im Hinblick auf die Frist des § 124a Abs. 4 Satz 1 VwGO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt worden. Der Kläger hat innerhalb der Frist des § 124a Abs. 6 VwGO einen Sachantrag gestellt und zur Begründung der Berufung zulässigerweise auf seine Ausführungen im Verfahren auf Zulassung der Berufung verwiesen.

Der Antrag des Klägers, die Verfügung vom 13.10.2005 aufzuheben, ist sachdienlich dahingehend auszulegen, dass er die Verpflichtung des Beklagten zur Rücknahme der Verfügung vom 13.10.2005 begehrt (§§ 86 Abs. 3, 88 VwGO i.V.m. § 125 VwGO). Hierin ist als Minus ohne weiteres der Antrag auf Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts enthalten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 und 2 VwGO). Ein Aufhebungsantrag wäre hingegen nur im Rahmen einer Anfechtungsklage sachdienlich (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO); die Erhebung einer Anfechtungsklage ist aber aufgrund der Bestandskraft der Verfügung vom 13.10.2005 unzulässig.

Entgegen der Auffassung des Beklagten hat der anwaltlich vertretene Kläger keinen Antrag auf ein förmliches Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 - Abs. 4 LVwVfG gestellt (Wiederaufgreifen im engeren Sinne). Er hat bei der Behörde, vor dem Verwaltungsgericht und im Berufungsverfahren ausdrücklich die Aufhebung der Verfügung vom 13.10.2005 mit der Begründung beantragt, diese sei rechtswidrig. Der Kläger hat sich auch im Klage- und im Berufungsverfahren nicht auf die Vorschrift des § 51 LVwVfG berufen.

Den Antrag des Klägers als Wiederaufgreifensantrag im engeren Sinne auszulegen, wäre auch nicht sachdienlich, weil ein Wiederaufgreifensgrund nicht vorliegt. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, ist eine Änderung der Rechtsprechung keine Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 LVwVfG (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.10.2009 - 1 C 15.08 - und Urt. v. 22.10.2009 - 1 C 26.08 -, jeweils juris). Hinzu kommt, dass die Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, die der Europäische Gerichtshof in Ausübung der ihm durch Art. 234 Buchst. a EGV verliehenen Befugnis vornimmt, die Bedeutung und Tragweite dieser Vorschrift erforderlichenfalls so erläutert und verdeutlicht, wie sie seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre (z. B. Urt. v. 15.12.1995, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. I-4921, Rn. 141; vgl. Senatsurt. v. 09.09.2008 - 10 S 994/07 - juris). Auch deshalb kann eine Änderung der materiellen Rechtslage nicht angenommen werden.2.

Die Berufung ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

a) Die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Vorschrift liegen vor, weil die Entziehungsverfügung vom 13.10.2005 rechtswidrig ist.

Nach § 3 Abs. 1 StVG i.V.m. § 46 Abs. 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Dies gilt insbesondere, wenn erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist (§ 46 Abs. 1 Satz 2, § 11 Abs. 1 Satz 3 FeV). Nach § 46 Abs. 3 FeV i.V.m. § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV darf die Fahrerlaubnisbehörde auf die Nichteignung des Betroffenen schließen, wenn dieser der Aufforderung zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachten nicht fristgerecht nachkommt. Voraussetzung ist allerdings, dass die Anforderung des Gutachtens rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig ist und die Weigerung ohne ausreichenden Grund erfolgt. In formeller Hinsicht muss die Aufforderung im Wesentlichen aus sich heraus verständlich sein, und der Betroffene muss ihr entnehmen können, was konkret ihr Anlass ist, und ob das in ihr Verlautbarte die behördlichen Zweifel an der Fahreignung zu rechtfertigen vermag. Nur unter diesen Voraussetzungen ist es sachgerecht, bei einer unberechtigten Weigerung ohne weitere vertiefte Ermittlungen die Schlussfolgerung zu ziehen, der Betroffene habe "gute Gründe" für seine Weigerung, weil eine Begutachtung seine bislang nur vermutete Ungeeignetheit aufdecken und belegen würde. In materieller Hinsicht ist eine Gutachtensaufforderung nur rechtmäßig, wenn - erstens - aufgrund konkreter tatsächlicher Anhaltspunkte berechtigte Zweifel an der Kraftfahreignung des betroffenen Kraftfahrers bestehen und - zweitens - die angeordnete Überprüfung ein geeignetes und verhältnismäßiges Mittel ist, um gerade die konkret entstandenen Eignungszweifel aufzuklären. Hiernach muss sich die Anforderung eines Gutachtens auf solche Mängel beziehen, die bei vernünftiger, lebensnaher Einschätzung die ernsthafte Besorgnis begründen, dass der Betroffene sich als Führer eines Kraftfahrzeugs nicht verkehrsgerecht und umsichtig verhalten werde, was es auf der anderen Seite ausschließt, jeden Umstand, der auf die entfernt liegende Möglichkeit eines Eignungsmangels hindeutet, als hinreichenden Grund für die Anforderung eines Gutachtens anzusehen (zum Ganzen BVerfG, Beschluss vom 24. Juni 1993 - 1 BvR 689/92 - BVerfGE 89, 69; BVerwG, Urt. v. 05.07.2001 - 3 C 13/01 - juris).

Die Gutachtensanforderung des Landratsamts Karlsruhe vom 20.06.2005 ist auf § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV in der damals geltenden Fassung vom 01.02.2005 gestützt. Danach kann die Fahrerlaubnisbehörde zur Klärung von Eignungszweifeln bei erheblichen oder wiederholten Verstößen gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder bei Straftaten, die im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr oder mit der Kraftfahreignung stehen, ein Gutachten anfordern. Dieser Tatbestand liegt vor, wenn entweder wiederholt gegen Verkehrsvorschriften oder Strafgesetze verstoßen worden ist oder ein zwar nur einmaliger, aber erheblicher Verstoß gegen Verkehrsvorschriften oder Strafgesetze vorliegt (Senatsbeschl. v. 25.07.2001 - 10 S 614/00 - juris). Ein wiederholter Verstoß setzt mindestens zwei Vorfälle voraus (OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 06.06.2007 - 1 S 55.07 - juris).

Zur Begründung der Gutachtensanforderung vom 20.06.2005 führt die Fahrerlaubnisbehörde lediglich aus, der Kläger sei seit der letzten Entscheidung sieben Mal wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis verurteilt worden, weshalb nach wie vor erhebliche Zweifel an seiner Kraftfahreignung bestünden. Damit genügt das Schreiben nicht den Anforderungen, die an eine rechtmäßige Gutachtensanforderung zu stellen sind. Denn die Behörde hat nicht berücksichtigt, dass fünf der genannten Verurteilungen nach Erteilung der niederländischen Fahrerlaubnis erfolgt sind. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs durfte der Kläger von dieser Fahrerlaubnis ohne weiteren Anerkennungsakt im Bundesgebiet Gebrauch machen. Eine Fallgestaltung, in der der Anerkennungsgrundsatz nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ausnahmsweise eingeschränkt ist, ist nicht ersichtlich (vgl. Beschl. v. 03.07.2008 - C 225/07 - Möginger -; Urt. v. 26.06.2008 - C-329/06 - C-343/06 - Wiedemann u. Funk -; Urt. v. 26.06.2008 - C-334/06 - C-336/06 - Zerche -; Urt. v. 19.02.2009 - C-321-07 - Schwarz -, jeweils juris). Die Erteilung der niederländischen Fahrerlaubnis ist nicht während des Laufes einer Sperrfrist erfolgt. Es gibt auch keinen greifbaren Anhaltspunkt für einen Verstoß gegen das Wohnsitzprinzip. In der Fahrerlaubnis ist ein niederländischer Wohnsitz eingetragen. Der Kläger gibt als Beruf selbständiger fliegender Händler an. Er wird in den Behörden- und Strafakten zwar durchgehend unter einer Adresse in M. geführt; hierbei handelt es sich aber (auch) um die Anschrift seiner Mutter. Daher kann ein dem Wohnsitzerfordernis genügender Aufenthalt in den Niederlanden nicht von vorneherein ausgeschlossen werden. Anhaltspunkte für eine Fälschung liegen ebenfalls nicht vor. Laut einer Mitteilung des Bundesgrenzschutzamts Kleve vom 25.04.2005 war die Fahrerlaubnis nach Auskunft der niederländischen Behörden gültig.

Der Beklagte weist allerdings zutreffend darauf hin, dass die strafrechtlichen Verurteilungen wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis rechtskräftig waren. Es bedarf hier keiner abschließenden Entscheidung, ob der Tatbestand des § 21 StVG ab Erteilung der niederländischen Fahrerlaubnis erfüllt war, inwieweit die Fahrerlaubnisbehörde an die strafrechtlichen Entscheidungen gebunden war und ob sie ggf. zu Gunsten des Betroffenen von der rechtlichen Beurteilung des Strafgerichts abweichen durfte. Denn im vorliegenden Verfahren kommt hinzu, dass die Fahrerlaubnisbehörde dem Kläger mit Schreiben vom 19.08.2004 bestätigt hat, dass er von seiner niederländischen Fahrerlaubnis im Bundesgebiet Gebrauch machen darf. Indem die Behörde gleichwohl von einem Fahren ohne Fahrerlaubnis in sieben Fällen ausging - obwohl der Kläger ihrer Auffassung nach im Besitz einer auch im Inland gültigen EU-Fahrerlaubnis war -, hat sie sich zu ihrer eigenen Verlautbarung in Widerspruch gesetzt. Unabhängig von der Frage, ob die strafrechtlichen Verurteilungen wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis materiell-rechtlich die Anordnung eines Gutachtens gerechtfertigt haben, hätte die Anforderung daher zumindest einer näheren Erläuterung bedurft. Andernfalls musste es für den Kläger unerfindlich bleiben, warum ihm die Behörde entgegen ihrem Schreiben vom 19.08.2004 nunmehr gleichwohl ein Fahren ohne Fahrerlaubnis entgegenhielt und hieraus Eignungszweifel ableitete. Vor diesem Hintergrund beruhte die Nichtbeibringung eines Gutachten auf nachvollziehbaren Gründen und rechtfertigte nicht ohne weiteres den Schluss auf Nichteignung.

Geht man mit dem Verwaltungsgericht hingegen davon aus, dass die Verurteilungen des Klägers wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis außer Betracht bleiben können, weil der Kläger nach Erteilung seiner niederländischen Fahrerlaubnis noch zwei weitere Straftaten im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr begangen hat (Gebrauch eines Kraftfahrzeugs ohne Haftpflichtversicherungsvertrag, fahrlässiges Anordnen des Fahrens ohne Fahrerlaubnis), genügt die Gutachtensanforderung ebenfalls nicht den formellen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen. Denn diese beiden Straftaten werden in der Anordnung vom 20.06.2005 nicht erwähnt. Der Kläger konnte dem Anschreiben daher nicht entnehmen, dass auch diese Straftaten zum Anlass der Gutachtensanforderung genommen werden. Zudem hätte es der Erläuterung bedurft, weshalb die beiden verbleibenden Straftaten nach Zahl und Gewicht hinreichende Anhaltspunkte für Eignungszweifel geben, die die Anforderung eines Gutachtens rechtfertigen. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass allein die verbleibenden Straftaten die Untersuchungsanordnung gestützt hätten, findet im Schreiben vom 20.06.2005 keinen Niederschlag. Eine rechtswidrige Aufforderung zur Gutachtensbeibringung kann auch nicht dadurch gleichsam geheilt werden, dass die Behörde nachträglich Umstände darlegt, die Anlass zu Zweifeln an der Fahreignung hätten geben können (BVerwG, Urt. v. 05.07.2001 a.a.O.). Ebenso wenig ist ein Austausch der Begründung einer Gutachtensanforderung zulässig, die - wie hier - erst durch das Verwaltungsgericht vorgenommen wird. Die Behörde ist zwar befugt, die maßgebliche Begründung für eine verfügte Entziehung in dem Sinne auszuwechseln, dass die Annahme der Ungeeignetheit des Fahrerlaubnisinhabers nicht mehr nur vermittelt über eine unberechtigte Gutachtensverweigerung, sondern unvermittelt aus den zu Tage getretenen Umständen abgeleitet wird (BVerwG, Urt. v. 05.07.2001 a.a.O.). Dies ist jedoch im Streitfall bis zur Bestandskraft der Entziehungsverfügung nicht geschehen. Es kann in der Sache dahinstehen, ob die beiden Straftaten des Klägers, die er in dem Zeitraum zwischen der Erteilung der niederländischen Fahrerlaubnis und der Bestandskraft der Entziehungsverfügung verübt hat und die nicht auf den Tatvorwurf des Fahrens ohne Fahrerlaubnis gestützt sind, nach Zahl und Gewicht für sich genommen die Aufforderung zur Beibringung eines Gutachtens wegen des Verdachts auf charakterliche Nichteignung gerechtfertigt hätten. Jedenfalls fehlt es insoweit an einer tragfähigen Begründung der Ermessensentscheidung der Behörde nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV a.F., auf diesen Sachverhalt gestützt ein Gutachten vom Kläger zu fordern.

War danach die Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens rechtswidrig, durfte die Behörde den Gebrauch der Fahrerlaubnis im Bundesgebiet nicht nach § 46 Abs. 1 und Abs. 3 FeV i.V.m. § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV untersagen.

b) Nach § 48 Abs. 1 LVwVfG steht die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts im Ermessen der Behörde. Damit hat der Gesetzgeber bezüglich der Aufhebung bestandskräftiger belastender Verwaltungsakte in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise weder den Prinzipien der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Einzelfallgerechtigkeit noch den Prinzipien der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens den Vorrang eingeräumt.

Vorliegend haben die Fahrerlaubnisbehörde und die Widerspruchsbehörde das ihr eingeräumte Ermessen nicht - auch nicht hilfsweise oder konkludent - ausgeübt. Die Verfügung vom 30.07.2007 beschränkt sich auf die Erörterung, dass der Kläger keinen Anspruch auf Rücknahme der Entziehungsverfügung habe und erschöpft sich in der Wiedergabe der für einen solchen Anspruch maßgeblichen Obersätze. Es wird nicht ersichtlich, dass die Behörde erkannt hat, dass die Rücknahme auch dann, wenn hierauf kein Anspruch besteht, gleichwohl in ihrem Ermessen liegt. Ob die Fahrerlaubnisbehörde von der Rechtswidrigkeit der Entziehungsverfügung und somit vom Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG ausging, bleibt offen. Jedenfalls teilt sie keinerlei Erwägungen mit, die auf eine Ermessensausübung hindeuten. Zwar genügt es nach überwiegender Ansicht im Regelfall, wenn die Behörde dem Betroffenen mitteilt, dass nach der Rechtslage kein Anlass zu einem Wiederaufgreifen des Verfahrens bestanden habe, ohne in die nähere Prüfung der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts einzutreten (Kopp/ Ramsauer, VwVfG, 10.Auflage, § 48 Rn. 81a m.w.N.). Einen solchen Hinweis enthält die Verfügung aber nicht. Hinzu kommt im vorliegenden Fall, dass weitergehende Prüfungs- und Begründungspflichten dann bestehen, wenn besondere Umstände des Einzelfalles vorliegen, die sich der Behörde aufdrängen oder substantiiert vorgetragen worden sind. Diese muss die Behörde in die Ermessenserwägungen einbeziehen (BVerwG, Urt. v. 30.01.1974 a.a.O., Kopp/Ramsauer, a.a.O., § 48 Rn. 81a). Solche besonderen Umstände waren hier gegeben, weil der Kläger unter Bezugnahme auf das Schreiben vom 19.08.2004 geltend gemacht hatte, die Entziehungsverfügung verstoße gegen Treu und Glauben. Auch auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Vorrang des Anerkennungsgrundsatzes hat er ausdrücklich hingewiesen. Hinzu kommt, dass der Kläger die Verfügung vom 13.10.2005 zunächst angefochten hatte. Die Gesamtumstände hätten mithin Anlass zu der Erwägung gegeben, ob vorliegend der Einzelfallgerechtigkeit ausnahmsweise ein größeres Gewicht zukommt als den Aspekten der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens. Auch dem Widerspruchsbescheid ist keine Ermessensbetätigung zu entnehmen. Die Widerspruchsbehörde ist vielmehr zu Unrecht von der Rechtmäßigkeit der Entziehungsverfügung ausgegangen und hat damit verkannt, dass das Ermessen nach § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG eröffnet war. Dem Erfordernis von Ermessenserwägungen konnte hier auch nicht durch nachträglichen Vortrag vor dem Verwaltungsgericht oder im Berufungsverfahren nach § 114 Satz 2 VwGO genügt werden. Denn diese Vorschrift schafft lediglich die prozessualen Voraussetzungen dafür, dass die Behörde unzureichende Ermessenserwägungen ergänzen kann, nicht hingegen dafür, dass sie ihr Ermessen nachträglich erstmals ausübt (BVerwG, Urt. v. 05.09.2006 - 1 C 20/05 - juris; Beschl. v. 14.01.1999 - 6 B 133.98 - juris).

c) Der Kläger hat allerdings keinen Anspruch auf Rücknahme der Entziehungsverfügung, weil sich das der Behörde in § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG eingeräumte Ermessen nicht so weit verdichtet hat, dass die Rücknahme des Bescheides die allein rechtmäßige Entscheidung ist.

Bei der Ausübung des Rücknahmeermessens ist in Rechnung zu stellen ist, dass dem Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit prinzipiell kein größeres Gewicht zukommt als dem Grundsatz der Rechtssicherheit, sofern dem anzuwendenden Recht nicht ausnahmsweise eine andere Wertung zu entnehmen ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts besteht mit Blick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit ausnahmsweise dann ein Anspruch auf Rücknahme eines bestandskräftigen Verwaltungsakts, wenn dessen Aufrechterhaltung "schlechthin unerträglich" ist, was von den Umständen des Einzelfalles und einer Gewichtung der einschlägigen Gesichtspunkte abhängt. Allein die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts begründet keinen Anspruch auf Rücknahme, da der Rechtsverstoß lediglich die Voraussetzung einer Ermessensentscheidung der Behörde ist. Das Festhalten an dem Verwaltungsakt ist insbesondere dann "schlechthin unerträglich", wenn die Behörde durch unterschiedliche Ausübung der Rücknahmebefugnis in gleichen oder ähnlich gelagerten Fällen gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstößt oder wenn Umstände gegeben sind, die die Berufung der Behörde auf die Unanfechtbarkeit als einen Verstoß gegen die guten Sitten oder Treu und Glauben erscheinen lassen. Die offensichtliche Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts, dessen Rücknahme begehrt wird, kann ebenfalls die Annahme rechtfertigen, seine Aufrechterhaltung sei schlechthin unerträglich. Ferner kann in dem einschlägigen Fachrecht eine bestimmte Richtung der zu treffenden Entscheidung in der Weise vorgegeben sein, dass das Ermessen im Regelfall nur durch die Entscheidung für die Rücknahme des Verwaltungsakts rechtmäßig ausgeübt werden kann, so dass sich das Ermessen in diesem Sinne als intendiert erweist (BVerwG, Urt. v. 17.01.2007 - 6 C 32/06 - juris; BVerwG Urt. v. 30.01.1974 - VIII C 20.72 - BVerwGE 44, 333, juris; BVerwG, Beschl. v. 15.03.2005 - 3 B 86/04 -, juris; VGH Bad.-Württ. v. 31.01.1989 - 9 S 1141/88 - juris; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 19.11.2009 - 5 S 575/09 - juris).

Nach diesen Grundsätzen ist die Rücknahme der Entziehungsverfügung nicht zwingend geboten. Die Aufrechterhaltung der Verfügung verstößt nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz; auch das einschlägige Fachrecht verlangt keine Rücknahme. Der Rechtsverstoß erweist sich auch nicht als offensichtlich. Eine offensichtliche Rechtswidrigkeit in diesem Sinne ist anzunehmen, wenn an dem Verstoß der streitigen Maßnahme gegen formelles oder materielles Recht vernünftigerweise kein Zweifel besteht und sich deshalb die Rechtswidrigkeit aufdrängt. Vorliegend kann der Verstoß der Entziehungsverfügung gegen § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV nicht in diesem Sinne als evident angesehen werden. Ob hinreichend gewichtige und verwertbare Umstände für die Gutachtensanforderung vorlagen und diese den formellen Anforderungen entsprach, ist keine einfach zu beantwortende Rechtsfrage. Auch ein offensichtlicher Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht liegt nicht vor. Denn die Fahrerlaubnisbehörde hatte die Eignungsbedenken im Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auf Umstände gestützt, die nach der Erteilung der niederländischen Fahrerlaubnis eingetreten sind.

Die Aufrechterhaltung der Entziehungsverfügung verstößt auch nicht gegen Treu und Glauben. Zwar hat das Landratsamt dem Kläger schriftlich bestätigt, dass er von seiner niederländischen Fahrerlaubnis im Bundesgebiet Gebrauch machen darf. Die Behörde hat aber zugleich darauf hingewiesen, dass sie die Kraftfahreignung des Klägers überprüfen werde. Im Übrigen kann zu dem bei der vorliegenden Verpflichtungsklage maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats nicht außer Acht bleiben, dass der Kläger nach der Bestandskraft der Entziehungsverfügung vom 13.10.2005 noch zweimal rechtskräftig wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis sowie wegen Urkundenfälschung im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr (Fälschung von Kennzeichen) verurteilt worden ist (Urteil des Amtsgerichts Kempten vom 11.06.2007; Urteil des Amtsgerichts Karlsruhe vom 17.11.2006, geändert durch Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 06.08.2007). Der Kläger hat damit sowohl wiederholte als auch erhebliche Straftaten im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr begangen. Damit haben sich - ungeachtet der Bewertung seiner Verurteilungen wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in dem Zeitraum zwischen Erteilung der niederländischen Fahrerlaubnis und dem Erlass der Entziehungsverfügung - im Nachhinein wiederum erhebliche Zweifel an seiner Fahreignung in charakterlicher Hinsicht ergeben. Denn charakterliche Mängel können sich auch aus einer beharrlichen Missachtung der Rechtsordnung ergeben (vgl. § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV). Ausweislich der genannten Strafurteile war ihm auch bewusst, dass er aufgrund der bestandskräftigen Entziehungsverfügung von seiner niederländischen Fahrerlaubnis im Bundesgebiet nicht mehr Gebrauch machen durfte. Damit bestehen konkrete Anhaltspunkte, dass er vor allem im Straßenverkehr nicht willens ist, die Rechtsordnung zu respektieren. Darüber hinaus darf zur Würdigung der Persönlichkeit des Klägers, wie sie sich in den genannten Straftaten offenbart, auch die Vorgeschichte einbezogen werden. Bei der Frage, ob sich der Inhaber einer EU-Fahrerlaubnis aufgrund von Umständen, die nach deren Erteilung eingetreten sind, als ungeeignet erwiesen hat, kann berücksichtigt werden, ob das neue Verhalten des Betroffenen das Fortbestehen der Eignungsmängel offenbart, die zum Entzug der inländischen Fahrerlaubnis geführt haben. Auch im Lichte des Gemeinschaftsrechts ist nicht zu beanstanden, wenn in einer Gesamtbetrachtung auch die früheren Verkehrsauffälligkeiten des Klägers mit einbezogen werden (BayVGH v. 21.11.2007 - 11 CS 07.1435, v. 11.05.2007 - 11 C 06.2890 -; jeweils juris). Das beharrliche und langjährige Fehlverhalten des Klägers innerhalb und außerhalb des Straßenverkehrs lässt ebenfalls erheblich daran zweifeln, dass er willens und in der Lage ist, die Rechtsordnung zu achten. Offen bleiben kann, ob einige der Straftaten wie etwa (mehrfacher) Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und (mehrfache) Beleidigungsdelikte nicht auch auf ein erhöhtes Aggressionspotential hindeuten.

Da einem ungeeigneten Fahrer die Fahrerlaubnis zwingend zu entziehen ist (§ 3 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 46 Abs. 1 Satz 1, § 11 Abs. 7 FeV) und vorliegend neuerliche Eignungsbedenken eingetreten sind, ist die Aufrechterhaltung der Entziehungsverfügung deshalb nicht schlechthin treuwidrig oder sonst unerträglich.3.

Bei der Ermessensausübung werden auch die genannten neuerlichen Eignungsbedenken zu berücksichtigen sein. Der Senat hat insoweit erwogen, ob das Ermessen der Fahrerlaubnisbehörde aufgrund der erneuten Straftaten des Klägers zu seinen Lasten sogar reduziert ist, weil die Rücknahme einer Entziehungsverfügung bei einem ungeeigneten Kraftfahrer im Interesse der Sicherheit des Straßenverkehrs schlechthin ausscheiden könnte. Die Annahme einer solchen Ermessensreduzierung würde aber voraussetzen, dass die Ungeeignetheit des Klägers ohne weitere Ermittlungen der Behörde feststeht. Darüber hinaus würde der Behörde die Befugnis genommen, die fehlerhafte Entziehungsverfügung im Rahmen ihrer Folgenbeseitigungslast mit Wirkung für die Vergangenheit aufzuheben, um den Rechtsfehler zumindest teilweise zu kompensieren und ggf. die Wiederaufnahme auf der Entziehung beruhender Strafverfahren zu ermöglichen. Auch wenn alles dafür spricht, dass unmittelbar ein neues Entziehungsverfahren eingeleitet werden muss, verbleibt der Behörde daher hinsichtlich der Rücknahme der rechtswidrigen Entziehungsverfügung ein Ermessensspielraum.

Nach alledem hat der Kläger zwar keinen Anspruch auf Aufhebung der Entziehungsverfügung, wohl aber einen Anspruch auf Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts. Die Behörde kann nach Würdigung und Abwägung der gesamten Umstände des Falles die Entziehungsverfügung aufrechterhalten oder diese aufheben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 VwGO.

Die Revision wird nicht zugelassen, weil keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.






VGH Baden-Württemberg:
Urteil v. 23.02.2010
Az: 10 S 221/09


Link zum Urteil:
https://www.admody.com/urteilsdatenbank/5b083592f16a/VGH-Baden-Wuerttemberg_Urteil_vom_23-Februar-2010_Az_10-S-221-09




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