Bundesverfassungsgericht:
Beschluss vom 1. Juni 2006
Aktenzeichen: 1 BvR 2293/03

(BVerfG: Beschluss v. 01.06.2006, Az.: 1 BvR 2293/03)

Tenor

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 22. Juli 2002 - 1 K 2263/01 - und der Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 29. September 2003 - 1 S 2145/02 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird an das Verwaltungsgericht Stuttgart zurückverwiesen.

Das Land Baden-Württemberg hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

I.

Gegenstand der Verfassungsbeschwerde sind verwaltungsgerichtliche Entscheidungen, durch die eine Klage auf Vernichtung erkennungsdienstlicher Unterlagen abgewiesen wird.

1. Gegen den Beschwerdeführer wurde ein Ermittlungsverfahren wegen versuchten sexuellen Missbrauchs von Kindern, Freiheitsberaubung und Nötigung geführt. Ihm wurde zur Last gelegt, einen zwölfjährigen Jungen zu sexuellen Handlungen aufgefordert, gewaltsam in einen Pkw gestoßen und gegen seinen Willen mitgenommen zu haben. Im Rahmen dieses Verfahrens wurde der Beschwerdeführer erkennungsdienstlich behandelt. Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren nach § 170 Abs. 2 StPO ein. Die von dem Beschwerdeführer erhobenen erkennungsdienstlichen Unterlagen wurden gespeichert. Ein Antrag auf Vernichtung der erkennungsdienstlichen Unterlagen wurde abgelehnt. Der Widerspruch des Beschwerdeführers blieb erfolglos.

2. Der Beschwerdeführer erhob Klage auf Vernichtung der Unterlagen.

Das Verwaltungsgericht wies die Klage ab. Es bestehe weiterhin der Restverdacht einer Straftat gegen den Beschwerdeführer. Auch eine Wiederholungsgefahr sei gegeben. Der Beschwerdeführer sei zwar bislang nie strafrechtlich in Erscheinung getreten. Angesichts der Schwere des dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Delikts und der kriminalistischen Erkenntnis, dass bei Sexualstraftätern eine weit überdurchschnittliche Wiederholungsgefahr bestehe und triebhaft gesteuerte Verhaltensweisen über Jahre verdeckt gehalten werden könnten, um dann wieder zu Tage zu treten, sei der Prognosespielraum nicht überschritten.

Der Beschwerdeführer stellte Antrag auf Zulassung der Berufung, den der Verwaltungsgerichtshof ablehnte. Das Verwaltungsgericht habe einen Restverdacht gegen den Beschwerdeführer zu Recht bejaht. Die Speicherung sei auch nicht unverhältnismäßig.

3. Mit seiner fristgemäß erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seines Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

4. Das Justizministerium des Landes Baden-Württemberg hat davon abgesehen, zu der Verfassungsbeschwerde Stellung zu nehmen. Der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts stellt in seiner Stellungnahme seine Rechtsprechung zu den Voraussetzungen einer Speicherung personenbezogener und erkennungsdienstlicher Daten aus Strafverfahren für präventiv-polizeiliche sowie Zwecke der Strafverfolgungsvorsorge dar.

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr nach § 93 c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG statt. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die für die Beurteilung maßgeblichen Fragen zu den Anforderungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts an Datenspeicherungen sind durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beantwortet (vgl. BVerfGE 65, 1 <41 ff.>; 67, 100 <142 ff.>; 78, 77 <84 ff.>). Die Verfassungsbeschwerde ist begründet.

1. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem ihm durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gewährleisteten allgemeinen Persönlichkeitsrecht, das hier in seiner Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung zur Anwendung kommt.

a) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährleistet die grundsätzliche Befugnis des Einzelnen, selbst über Preisgabe und Verwendung seiner persönlichkeitsbezogenen Daten zu bestimmen. Ein Eingriff in dieses Recht liegt nicht nur in der Erhebung solcher Daten, sondern auch in ihrer Speicherung (vgl. BVerfGE 65, 1 <41 ff.>; 67, 100 <143>; 78, 77 <84>; 84, 239 <279>). Zu den geschützten Daten des Beschwerdeführers zählen auch die Informationen, die in den erkennungsdienstlichen Unterlagen über ihn enthalten sind.

b) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist nicht schrankenlos gewährleistet. Der Einzelne muss Einschränkungen im überwiegenden Allgemeininteresse hinnehmen, die jedoch in einem Gesetz vorgesehen sein und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen müssen. Gesetzliche Grundlage der Datenspeicherung ist vorliegend § 38 Abs. 1 des Baden-Württembergischen Polizeigesetzes (PolG) in der seit dem 1. Januar 1999 geltenden Fassung. Danach kann der Polizeivollzugsdienst personenbezogene Daten, die ihm im Rahmen von Ermittlungsverfahren bekannt geworden sind, speichern, soweit und solange dies zur Abwehr einer Gefahr oder zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten erforderlich ist. Zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten ist die Speicherung nach dieser Vorschrift erforderlich, wenn die betroffene Person verdächtig ist, eine Straftat begangen zu haben und tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie zukünftig eine Straftat begehen wird.

Wenn Daten, die in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gewonnen wurden, gespeichert werden sollen, obwohl dieses Verfahren mit einer Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO endete, ist die Verfahrenseinstellung bei der Prüfung zu berücksichtigen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen der Datenspeicherung erfüllt sind und sie im konkreten Fall dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, insbesondere dem Erfordernis der Angemessenheit des Grundrechtseingriffs, Rechnung trägt. Eine Datenspeicherung zu präventiv-polizeilichen Zwecken setzt zunächst voraus, dass als Grundlage der Gefahrenprognose noch ein Straftatverdacht besteht. Im Fall einer Verfahrenseinstellung nach § 170 Abs. 2 StPO bedarf es daher der Überprüfung, ob noch Verdachtsmomente gegen den Betroffenen bestehen, die eine Fortdauer der Speicherung zur präventiv-polizeilichen Verbrechensbekämpfung rechtfertigen. Weitere Voraussetzung der Datenspeicherung sind hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass der Betroffene zukünftig eine Straftat begehen wird. Deren Feststellung ist einer schematischen Betrachtung nicht zugänglich, sondern bedarf der eingehenden Würdigung aller hierfür relevanten Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung der Gründe für die Einstellung des Verfahrens (vgl. BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 16. Mai 2002 - 1 BvR 2257/01 -, NJW 2002, S. 3231 <3232>).

c) Diesen Maßstäben werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht.

Die Annahme der erkennenden Gerichte, gegen den Beschwerdeführer bestehe ein erheblicher kriminalistischer Restverdacht, begegnet allerdings keinen Bedenken.

Jedoch genügt die Begründung, mit der das Verwaltungsgericht annimmt, es bestehe eine Wiederholungsgefahr, nicht den aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht folgenden Anforderungen. Das Verwaltungsgericht führt insofern unter Verweis auf das Gewicht der Tat lediglich aus, bei Sexualstraftätern bestehe eine weit überdurchschnittliche Wiederholungsgefahr. Dabei handelt es sich um einen formelhaften und unspezifischen Satz, dem ein hinreichender Bezug zu den Umständen des Einzelfalls fehlt. Weder Art und Ausführung der Tat, derer der Beschwerdeführer verdächtig ist, noch die persönlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers oder andere auf ihn bezogene tatsächliche Umstände werden auf diese Weise zur Grundlage der Prognoseentscheidung.

Das Oberverwaltungsgericht geht auf die Frage der Gefahrenprognose überhaupt nicht ein. Das genügt gleichfalls nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen.

d) Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf dem Grundrechtsverstoß. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Gerichte eine Wiederholungsgefahr verneint hätten, wenn sie alle relevanten Umstände des Einzelfalls eingehend gewürdigt hätten.

2. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG, die Festsetzung des Wertes des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit auf § 61 Abs. 1 Satz 1 RVG in Verbindung mit § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO (vgl. auch BVerfGE 79, 357 <361 ff.>; 79, 365 <366 ff.>).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.






BVerfG:
Beschluss v. 01.06.2006
Az: 1 BvR 2293/03


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