Landgericht Bonn:
Urteil vom 6. Juli 2011
Aktenzeichen: 1 O 178/10

(LG Bonn: Urteil v. 06.07.2011, Az.: 1 O 178/10)

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des beizutreibenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Die Klägerin verlangt im Wege des Einziehungsprozesses von der Beklagten als Drittschuldnerin Zahlung gepfändeter Forderungen.

Die Beklagte ist alleinige (Gründungs-)Gesellschafterin mehrerer "G Aktiengesellschaften" (nachfolgend "G-AG"). Es handelt sich um sog. Vorratsgesellschaften, die zum Zwecke des späteren Verkaufs am 21.08.2000 gegründet wurden. Die Gründung erfolgte im Wege des sog. "Cash Poolings". Dabei wurde der jeweiligen AG zunächst das zur wirksamen Gründung erforderliche Grundkapital in Höhe von € 50.000,- zugeführt. Unmittelbar nach der Gründung wurde dieses Grundkapital der betreffenden AG wieder entzogen, um es auf das Grundkapital der nächsten G-AG einzuzahlen. Bei sämtlichen AG€en war somit unmittelbar vor Eintragung der Gesellschaft ins Handelsregister am 01.11.2000 das Grundkapital wieder entnommen.

Mit Schreiben vom 16.10.2008 (Anlage B 2) wandte sich das für die G-AG€en zuständige Finanzamt G2 III an die Beklagte als alleinige Gesellschafterin der AG€en und bat um eine Stellungnahme zur Prüfung der Körperschaftsteuerpflicht der AG€en. In einem Telefonat sowie einem anschließenden Schreiben vom 27.10.2008 (Anlage K 4) erläuterte der Syndicus der Beklagten, Herr Dr. N, die Gründungsvorgänge, legte dar, dass es sich nunmehr um vermögens- und organlose Gesellschaften handele und erbot sich gegenüber dem Finanzamt als Ansprechpartner für weitere Fragen zu den AG€en. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die als Anlage B 2 und K 4 zur Akte gereichten Schreiben Bezug genommen.

Das Finanzamt erbat mit einem zu Händen Herrn Dr. N adressierten Schreiben vom 10.02.2009 (Anlage B 3) von der Beklagten die Mitteilung aktueller vertretungsberechtigter Personen der G-AG€en, da die in der Gründungsurkunde benannten Personen postalisch nicht erreichbar seien. Herr Dr. N teilte daraufhin dem zuständigen Sachbearbeiter des Finanzamtes in einem Telefonat vom 17.02.2009 mit, dass es keine organschaftlichen Vertreter gäbe, da alle ihre Ämter niedergelegt hätten. Insoweit wird auf die Anlagen B 3 sowie K 8 (Bl. ... d.A.) wegen der weiteren Einzelheiten verwiesen.

Das Finanzamt G2 III wertete den Vorgang der Ausreichung des Grundkapitals als steuerrelevanten Tatbestand und erlies per 20.03.2009 gegenüber allen G-AG€en Körperschaftssteuerbescheide für die Jahre 2000 bis 2007, in denen Zahlungsverpflichtungen von insgesamt € 8.577,29 je Aktiengesellschaft festgesetzt wurden (s. Anlagenkonvolut B 4). Sie versandte die Bescheide an die aus dem Handelsregister bekannte Anschrift der G-AG€en (Hstraße ...#, ...# G2), von der die Bescheide mit dem Vermerk "Empfänger unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln" zurückkamen.

Sodann veranlasste das Finanzamt eine öffentliche Zustellung der Bescheide. Die Bekanntmachung der Benachrichtigung im Sinne des § 10 II VwZG erfolgte am 05.05.2009.

Wegen der Steuerschuld in Höhe von jeweils € 8.577,29 der einzelnen G-AG€en brachte das Finanzamt G2 II unter dem 21.07.2009 gegenüber der Beklagten als Drittschuldnerin Pfändungs- und Einziehungsverfügungen aus, in denen gemäß §§ 309 ff AO die Ansprüche, die dem Vollstreckungsschuldner gegen die Beklagte auf Leistung der Stammeinlage bzw. auf Erstattung des an sie zurückgezahlten Stammkapitals zustehen und zukünftig zustehen werden, gepfändet wurden. Die Beklagte erkannte in ihren Drittschuldnererklärungen die gepfändeten Forderungen nicht an. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die als Anlagenkonvolut K 5 mit der Klageschrift überreichten Pfändungs- und Einziehungsverfügungen nebst Drittschuldnererklärungen verwiesen.

Mit Schreiben vom 07./08.07.2010 übersandte das Finanzamt an Herrn Dr. N als Liquidator der inzwischen sich im Liquidationsverfahren befindlichen G-AG€en Kopien der Aktenausfertigungen aller Steuerbescheide. Daraufhin legten die AG€en am 08.08.2010 Einspruch gegen die Bescheide ein.

Am 03.03.2011 erließ das Finanzamt zwischenzeitlich sieben neue Pfändungs- und Einziehungsverfügungen.

Mit der Klage begehrt die Klägerin von der Beklagten bezüglich sieben G-AG€en Zahlung der per 21.07.2009 gepfändeten Forderungen. Sie ist der Ansicht, die Pfändung sei wirksam ausgebracht. Insbesondere sei die öffentliche Zustellung der Steuerbescheide wirksam gem. § 10 I Nr. 2 VwZG erfolgt, da mangels zustellungsfähiger Anschrift und mangels gesetzlicher Vertreter der G-AG€en eine schriftliche Übermittlung per Post nicht möglich gewesen sei. Die Klägerin behauptet, es habe keine andere Adresse der G-AG€en im Wege weiterer Ermittlungen festgestellt werden können.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an sie € 60.041,03 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 15.12.2009 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte tritt dem Klagebegehren unter mehreren Gesichtspunkten entgegen. Sie ist zum einen der Ansicht, die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen seien nichtig, da es an einer wirksamen Bekanntgabe der Körperschaftssteuerbescheide als Grundverwaltungsakt fehle. Die Voraussetzungen für eine öffentliche Bekanntgabe lägen nicht vor, da eine Zustellung an Herrn Dr. N als sonstigen Vertreter im Sinne des § 7 VwZG habe erfolgen können. In diesem Zusammenhang behauptet sie, Dr. N sei bei Abtritt der Vertretungsorgane der G-AG€en Vertretungsmacht für die Entgegennahme von Zustellungen gemäß § 7 VwZG erteilt worden. Dies habe er auch gegenüber dem Finanzamt durch das Angebot als Ansprechpartner für die G-AG€en zu fungieren hinreichend deutlich gemacht.

Die Beklagte ist ferner der Ansicht, der Zustellungsmangel sei so offenkundig, dass er zur Nichtigkeit der Pfändungs- und Einziehungsverfügungen führe. Die Zustellungsmängel seien auch nicht durch die spätere Übersendung der Kopien der Steuerbescheide gemäß § 8 VwZG geheilt worden. Zum anderen sei die gepfändete Forderung in den Verfügungen weder nach Gegenstand noch nach Schuldgrund zweifelfrei identifizierbar. Die Einlageforderungen seien zudem gem. § 851 ZPO iVm § 319 AO unpfändbar. Darüber hinaus bestreitet die Beklagte inhaltlich das Bestehen einer Steuerschuld der G-AG€en.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die wechselseitigen Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Gründe

Die Klage ist unbegründet.

Die Klägerin hat, gestützt auf die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen vom 21.07.2009, keinen Zahlungsanspruch gegen die Beklagte.

1.) Insofern kann offenbleiben, ob und in welcher Höhe Steuerschulden der G-AG€en tatsächlich bestehen, da die Beklagte als Drittschuldnerin im Einziehungsprozess keine Einwendungen gegen die Forderung des Vollstreckungsgläubigers erheben kann (vgl. Kruse in Tipke/Kruse, AO, Stand Januar 2010, § 315 Rz. 3).

2.) Ebenso bedürfen die materiellen Einwände der Beklagten gegen die Wirksamkeit der Pfändung bzw. die Pfändbarkeit der Forderungen keiner Klärung, denn das Zahlungsbegehren der Klägerin scheitert bereits daran, dass die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen vom 21.07.2009 aus formellen Gründen nichtig sind.

3.) Dem Zivilgericht obliegt im Rahmen des Einziehungsprozesses auch incident die Prüfung der Wirksamkeit der Pfändungs- und Einziehungsverfügung, wobei sich der Drittschuldner zwar nicht auf die Fehlerhaftigkeit, wohl aber auf die Nichtigkeit einer Pfändungs- und Einziehungsverfügung berufen kann (s. BAG BB 1989, 1128; Pahlke/Koenig, AO, 2.Aufl. § 315 Rz. 10; Kruse in Tipke/Kruse, AO, Stand Januar 2010, § 315 Rz. 3 m.w.N.).

a) Die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen sind nichtig, da sie ergangen sind, ohne dass ein vollstreckbarer Grundverwaltungsakt vorgelegen hat. Dieser Mangel führt vorliegend zur Nichtigkeit der Pfändungsverfügungen, da er schwerwiegend und offenkundig im Sinne des § 125 I AO ist.

aa) Eine Vollstreckungsmaßnahme, der die wesentliche Voraussetzung eines vollstreckbaren Verwaltungsaktes als Grundlage fehlt, leidet an einem besonders schwerwiegenden Mangel (BFH NJW 2003, 1070, Rz. 16 - zitiert nach juris; Kruse in Tipke/Kruse, AO, Stand September 2009, § 249 Rz. 3 m.w.N.).

Bei Beginn der Vollstreckungsmaßnahmen, d.h. bei Erlass der Pfändungs- und Einziehungsverfügung am 21.07.2009, lagen keine wirksamen vollstreckbaren Verwaltungsakte vor, da die Körperschaftssteuerbescheide vom 20.03.2009 mangels Bekanntgabe gegenüber den G-AG€n noch keine Wirksamkeit erlangt hatten. Gemäß § 124 I AO wird ein Verwaltungsakt gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm bekannt gegeben wird. Die Bekanntgabe eines schriftlichen Steuerbescheides richtet sich gemäß § 155 I AO nach § 122 AO. Vorliegend hat das Finanzamt nach einem Scheitern der Bekanntmachung per einfachem Brief (§ 122 II AO) eine Zustellung der Körperschaftssteuerbescheide gemäß § 122 V 2 AO iVm § 10 VwZG im Wege der öffentlichen Bekanntmachung veranlasst. Diese öffentliche Zustellung ist indes unwirksam, da die sachlichen Voraussetzungen der öffentlichen Zustellung gemäß § 10 I Nr. 2 VwZG nicht erfüllt sind. Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass mit Wirkung ab dem 1.11.2008 durch das MoMiG die öffentliche Zustellung bei juristischen Personen unter erleichterten Bedingungen zugelassen wurde. Bei ihnen kann nach § 10 I Nr. 2 VwZG eine Zustellung durch öffentliche Bekanntmachung erfolgen, wenn weder eine Zustellung unter der eingetragenen Anschrift noch unter einer im Handelsregister eingetragenen Anschrift einer für Zustellungen empfangsberechtigten Person oder einer ohne Ermittlungen bekannten anderen inländischen Anschrift möglich ist.

Vorliegend hat das Finanzamt vor der öffentlichen Zustellung einmalig versucht, die Steuerbescheide den G-AG€en unter der aus dem Handelsregister bekannten Adresse in G2 zu übersenden.

Ausgehend von der früheren Gesetzeslage haben Rechtsprechung und Verwaltung es abgelehnt, eine öffentliche Zustellung bereits nach einem einmaligen, fehlgeschlagenen Versuch zuzulassen. Die öffentliche Zustellung und die damit verbundene Zustellungsfiktion waren nach der Rechtsprechung des BFH verfassungsrechtlich nur zu rechtfertigen, wenn eine andere Form der Zustellung aus sachlichen Gründen nicht oder nur schwer durchführbar ist. Sie war nur als "letztes Mittel" der Bekanntgabe zulässig, wenn alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind, das Schriftstück dem Empfänger in anderer Weise zu übermitteln (vgl. BFH NVwZ-RR 2001, 77 m.w.N.). Der Gesetzgeber des MoMiG wollte durch die Neuregelung des § 10 VwZG eine Zustellungserleichterung bei juristischen Personen erreichen und die Voraussetzungen der ultima ratio "öffentliche Zustellung" für Gesellschaften auf ein Mindestmaß reduzieren (vgl. Wübbelsmann, DStR 2011, 126, 128 m.w.N.).

Indes ist auch unter Berücksichtigung dieser gesetzgeberischen Intention das Finanzamt vorliegend nicht berechtigt gewesen, die öffentliche Zustellung bereits nach dem einmaligen postalischen Rücklauf zu veranlassen. Zwar hat das Finanzamt ausweislich des Schreibens vom 10.02.2009 auch vergeblich versucht, die postalischen Anschriften der organschaftlichen Vertreter zu ermitteln und es war in dem daraufhin mit Dr. N geführten Telefonat vom 17.02.2009 bestätigt worden, dass keine organschaftlichen Vertreter mehr vorhanden sind. Eine Zustellung an die gesetzlichen Vertreter gemäß § 6 II VwZG war damit nicht möglich. Da im Handelsregister auch keine Anschriften einer für Zustellungen empfangsberechtigten Person eingetragen waren, lagen somit die Voraussetzungen des § 10 I Nr. 2 1.HS VwZG vor. Gleichwohl hätte es keiner öffentlichen Zustellung bedurft, da eine Zustellung an Herrn Dr. N als Bevollmächtigten iS v. § 7 VwZG möglich gewesen wäre. Die Klägerseite ist der Behauptung der Beklagten, Herrn Dr. N sei bei Abtritt der Gesellschaftsorgane entsprechende Vertretungsmacht erteilt worden, nicht entgegengetreten, so dass die Behauptung gemäß § 138 III ZPO als zugestanden zu werten ist. Die Vollmacht kann grundsätzlich formlos und unter Umständen auch konkludent erteilt werden (s. Engelhardt/App, VwZG, 8.Aufl., § 7 Rz. 2). Da eine solche Bevollmächtigung gegenüber dem Finanzamt nicht schriftlich angezeigt war, bestand keine Verpflichtung gemäß § 7 I 2 VwZG an den Bevollmächtigten zuzustellen. Es lag im pflichtgemäßen Ermessen des Finanzamtes zu entscheiden, ob sie dem Beteiligten selbst oder seinem Bevollmächtigten zustellt (vgl. Engelhardt/App, a.a.O., § 7 Rz. 5). Vorliegend hätte sie dies Ermessen dahingehend ausüben müssen, an einen Bevollmächtigten zuzustellen, da dem Finanzamt spätestens seit dem Telefonat vom 17.02.2009 positiv bekannt war, dass mangels organschaftlicher Vertreter eine Zustellung an die G-AG€en selbst gem. § 6 II VwZG nicht möglich war. Zwar hatte Herr Dr. N nicht ausdrücklich gegenüber dem Finanzamt mitgeteilt, dass an ihn als Bevollmächtigten Zustellungen bewirkt werden können. Der Telefonnotiz vom 17.02.2009 (Bl. ...) ist ebenfalls kein Hinweis darauf zu entnehmen, dass diese Bevollmächtigung in dem Telefonat thematisiert worden wäre. Jedoch hatte sich Herr Dr. N bereits mit Schreiben vom 27.10.2008 als Ansprechpartner für weitere Fragen zu den G-AG€en gegenüber dem Finanzamt angeboten und war auch danach vom Finanzamt in den Angelegenheiten der G-AG€en kontaktiert worden. Es bestand somit für das Finanzamt die Möglichkeit, durch konkrete Nachfrage zu klären, ob Herr Dr. N auch Zustellungen für die G AG€en entgegen nimmt. Einer solchen Nachfrage hätte es hier bei zusammenfassender Würdigung aller Umstände vor Veranlassung der öffentlichen Zustellung bedurft. Insofern ist - auch nach Änderung der Regelung des § 10 I Nr. 2 VwZG durch das MoMiG - zu berücksichtigen, dass die öffentliche Zustellung Ausnahmecharakter hat und nur als ultima ratio in Betracht kommt (vgl. BRDrs 354/07 S. 122). Denn die Zustellungsvorschriften dienen auch der Verwirklichung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Art. 103 GG. Sie sollen gewährleisten, dass der Adressat Kenntnis von dem zuzustellenden Schriftstück nehmen und seine Rechtsverteidigung darauf einrichten kann (vgl. BFH NVwZ-RR 2001, 77). Ferner war vorliegend für das Finanzamt keine Situation gegeben, auf die die Neuregelung des § 10 I Nr. 2 VwZG nach dem Willen des Gesetzgebers inbesondere abzielte. Durch die Neuregelung gemäß MoMiG sollte die erleichterte Möglichkeit der öffentlichen Zustellung bei juristischen Personen dazu dienen, einen Verstoß gegen die nach dem ebenfalls neugeregelten § 37 III Nr. 1 AktG bestehende Pflicht zur Angabe einer inländischen Geschäftsanschrift bei Anmeldung zum Handelsregister zu sanktionieren (vgl. Prütting/Gehrlein, ZPO, 3.Aufl. § 185 Rz. 4; BRDrs. 354/07, S. 122). Das im MoMiG verankerte "Gesamtpaket" der Neuregelungen zielte damit auf sog. Missbrauchs- und Bestattungfälle ab. Es sollte die Zustellung von Schriftstücken an Gesellschaften erleichtert werden, die ihre Geschäftsräume geschlossen haben und auch postalisch nicht erreichbar sind (vgl. Wübbelsmann, DStR 2011, 126, 128; Geßler, AktG, § 37 Rz. 22e). Insofern ist jedoch für die G-AG€en, als bereits im Jahr 2000 gegründete Gesellschaften, zum einen zu berücksichtigen, dass für sie gemäß § 18 EGAktG hinsichtlich der gemäß §§ 37, 39 AktG erforderlichen Handelsregisterangaben Übergangsfristen bis 31.10.2009 bestanden, d.h. diese zum Zeitpunkt der öffentlichen Zustellung am 05.05.2009 noch nicht abgelaufen waren. Zum anderen ist die Tatsache, dass die G-AG€en keine organschaftlichen Vertreter mehr hatten, nicht vor dem Hintergrund zu sehen, dass sich die G-AG€en im Geschäftsverkehr "unerreichbar" machen wollten, sondern beruhte auf dem Umstand, dass sich die Beklagte aufgrund einer veränderten Rechtslage veranlasst sah, die vermögenslosen Gesellschaften nicht mehr in den Verkehr zu bringen. Es handelte sich zudem um reine Vorratsgesellschaften, die keinerlei Geschäftstätigkeit nach außen entfaltet haben. Diese Hintergründe waren dem Finanzamt auch bereits mit Schreiben vom 27.10.2008 (Anlage K 4) erläutert worden. In dieser Situation hätte es daher nicht nur der Nachfrage bezüglich der Anschrift organschaftlicher Vertreter bedurft, wie vom Finanzamt mit Schreiben vom 10.02.2009 (Anlage B 3) veranlasst, sondern das Finanzamt hätte Herrn Dr. N darüber in Kenntnis setzen müssen, dass die öffentliche Zustellung von Steuerbescheiden im Raum steht und hinsichtlich einer Bevollmächtigung gem. § 7 VwZG nachfragen müssen. Die Anschrift von Herrn Dr. N war dem Finanzamt auch ohne weitere Ermittlungen im Sinne des § 10 I Nr. 2 a.E. VwZG bekannt.

Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass die sachlichen Voraussetzungen für eine öffentliche Zustellung am 05.05.2009 nicht vorlagen, so dass die öffentliche Zustellung unwirksam war, die Körperschaftssteuerbescheide nicht iS des § 122 AO bekannt gegeben waren und somit im Zeitpunkt des Beginns der Vollstreckung am 21.07.2009 keine gem. § 124 AO wirksamen Grundverwaltungsakte vorlagen.

bb) Die Körperschaftssteuerbescheide sind erst durch die am 07./08.07.2010 an den Liquidator der G-AG€en erfolgte Übersendung der Kopien der Aktenausfertigungen der Steuerbescheide wirksam bekanntgegeben worden. Entgegen der Ansicht der Beklagten reichte für die Bekanntgabe aus, dass Kopien und keine Originale übersandt wurden. Das Gericht folgt insofern der ständigen Rechtsprechung des BFH, wonach einer Heilung von Zustellungsmängeln gem. § 8 VwZG nicht entgegen steht, dass dem Empfangsberechtigten anstelle des Originals des Schriftstücks lediglich eine das Original vollständig wiedergebende Kopie zugeht, da der Zweck der Bekanntgabe erreicht ist, wenn dem Adressaten eine zuverlässige Kenntnis des Inhalts des Bescheides verschafft wird. Hinsichtlich dieses Zweckes sind das Original und dessen vollständige Fotokopie gleichwertige Schriftstücke (s. BFH Beschluss vom 07.11.2003, X B 55/08, Rz. 10 - zitiert nach juris; BFH NVwZ-Rr 2001, 77, 78, a.A. s. Engelhardt/App, a.a.O. § 8 Rz. 5 m.w.N.).

cc) Zwar galten die Körperschaftssteuerbescheide somit gem. § 8 VwZG als per 07./08.07.2010 zugestellt, indes hatte zu diesem Zeitpunkt die Vollstreckungsmaßnahme bereits begonnen. Der Umstand, dass bei Beginn der Vollstreckung am 21.07.2009 kein wirksamer vollstreckbarer Grundverwaltungsakt vorlag, führt gemäß §§ 249 I 1, 254 I AO dazu, dass die Verfügung der Pfändungs- und Einziehungsverfügung unheilbar unzulässig war. Insofern folgt das Gericht wegen der Besonderheiten des Verwaltungszwangsverfahrens der Rechtsprechung des BFH. Dieser hat in der Entscheidung vom 22.10.2002 (Az. VII R 56/00; Rz. 20 - zitiert nach juris) zur Begründung der Unheilbarkeit des Mangels Folgendes ausgeführt:

"Die AO 1977 regelt in § 249 Abs. 1 und § 254 Abs. 1 bereits dem Wortlaut nach zwingende Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, ehe eine Vollstreckung beginnen darf. Diese Vorschriften, die als bereichsspezifische Sonderregelungen gegenüber den allgemeinen zivilrechtlichen Vollstreckungsregeln der §§ 704 ff ZPO anzusehen sind, regeln die Vollstreckung auf hoheitlichen Verwaltungsakten beruhender öffentlichrechtlicher Ansprüche in einem Verwaltungszwangsverfahren (vgl. §§ 249 ff. und §§ 309 ff. AO 1977, sowie BFH-Urteil vom 23. Juli 1996 VII R 88/94, BFHE 181, 202, BStBl II 1996, 511). Dieses ist dadurch gekennzeichnet, dass die Verwaltungsbehörde den Vollstreckungstitel, nämlich den vollstreckbaren Verwaltungsakt selbst erlässt und auch die Vollstreckungshandlungen, z.B. bei Vollstreckung in Geldforderungen und andere Vermögensrechte den Erlass der Pfändungs- und Einziehungsverfügung, selbst vornimmt, während im zivilrechtlichen Verfahren der Bürger seinen materiellen Anspruch nicht im Wege der Selbsthilfe, sondern erst durch die Inanspruchnahme staatlicher Vollstreckungsorgane durchsetzen kann. Deshalb hat die AO 1977 in den Vorschriften über die Vollstreckung (§§ 249 ff. AO 1977) bestimmte Schutzrechte für den Vollstreckungsschuldner geregelt. Dieser soll den Vollstreckungsmaßnahmen nicht unvermittelt und überraschend gegenüberstehen, sondern wie es § 249 Abs. 1 AO 1977 verlangt, einen vollstreckbaren Verwaltungsakt, mit dem von ihm erkennbar eine bestimmte Leistung gefordert wird, in Händen haben und gemäß § 254 Abs. 1 AO 1977 nach Fälligkeit des Anspruchs des Steuergläubigers durch ein Leistungsgebot unter Fristsetzung auf die bevorstehende Vollstreckung hingewiesen werden. Zu Recht verweist die Klägerin darauf, dass es sich hier um "Muss"-Bestimmungen handelt, die die Behörde einzuhalten hat, ehe sie mit der Vollstreckung beginnen darf und deren Fehlen nicht mit der Folge, dass die rechtswidrige Vollstreckungsmaßnahme den ihr anhaftenden Mangel verliert, durch Nachholung der Versäumnisse, wie die Bekanntgabe des vollstreckbaren Verwaltungsakts und des Leistungsgebots erst während des Vollstreckungsverfahrens, geheilt werden kann."

bb) Unstreitig litten die ohne vollstreckbaren Grundverwaltungsakt ergangenen Pfändungs- und Einziehungsverfügungen damit an einem besonders schwerwiegenden Mangel (BFH NJW 2003, 1070, Rz. 16 - zitiert nach juris; Kruse in Tipke/Kruse, AO, Stand September 2009, § 249 Rz. 3 m.w.N.).

Umstritten ist indes, ob dieser Mangel auch zur Nichtigkeit der Pfändungs- und Einziehungsverfügungen oder nur zur Rechtswidrigkeit der Vollstreckungsmaßnahme führt (vgl. i.e. die Nachweise zur Rspr. und Literatur in der Entscheidung des BFH NJW 2003, Rz. 12 -18 - zitiert nach juris, der dort i.E. nur eine Rechtwidrigkeit mangels Offenkundigkeit bejaht; a.A. Kruse in Tipke/Kruse, AO, Stand September 2009, § 249 Rz. 3 m.w.N.).

Vorliegend geht das Gericht von einer Nichtigkeit der Vollstreckungsmaßnahmen aus, da der Fehler jedenfalls auch offenkundig i. S. des § 125 I AO war. Ein schwerwiegender Mangel ist dann offenkundig, wenn jeder verständige Dritte bei Unterstellung der Kenntnis aller in Betracht kommenden Umstände in der Lage ist, den Fehler der Verwaltungsmaßnahme in seiner besonderen Schwere zu erkennen (st. Rspr. vgl. BFH a.a.o, Rz. 17 m.w.N.). Die oben dargelegten Umstände, die die Unzulässigkeit der öffentlichen Zustellung und damit letztlich den Vollstreckungsmangel begründeten, waren sämtlich direkt aus den Akten des Finanzamtes und den dort enthaltenen Schriftstücken (hier insbesondere Schreiben vom 27.10.2008, Telefonnotiz vom 17.02.2009) ersichtlich. Es bedurfte keiner weiteren Ermittlungen, um zu erkennen, dass bei Erlass der Pfändungs- und Einziehungsverfügung kein wirksam bekannt gegebener Grundverwaltungsakt vorlag. Damit war zugleich auch der Mangel der Vollstreckungsmaßnahme für jeden verständigen Dritten offenkundig.

4.) Soweit das Finanzamt G2 zwischenzeitlich unter dem 03.03.2011 neue Pfändungs- und Einziehungsverfügungen erlassen hat, sind diese nicht streitgegenständlich.

5.) Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 I ZPO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 ZPO.

Streitwert: € 60.041,03






LG Bonn:
Urteil v. 06.07.2011
Az: 1 O 178/10


Link zum Urteil:
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