Oberlandesgericht Schleswig:
Beschluss vom 15. Dezember 2005
Aktenzeichen: VA (Not) 6/05, v,
(OLG Schleswig: Beschluss v. 15.12.2005, Az.: VA (Not) 6/05, v, )
Tenor
Auf die Anträge der Antragsteller zu 1. und zu 2. auf gerichtliche Entscheidung vom 20. und 26. Oktober 2005 wird der Antragsgegner unter Aufhebung des Erlasses vom 23. September 2005 verpflichtet, über die Anträge der Antragsteller zu 1. und zu 2. und der weiteren Beteiligten zu 3. bis 6., sie zu Notaren zu bestellen, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu entscheiden.
Gebühren und Auslagen werde nicht erhoben. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
Der Geschäftswert wird bis zur Verbindung der beiden Verfahren durch Beschluss vom 21. November 2005 auf 50.000,- Euro und für die Zeit danach auf 100.000,- Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsgegner schrieb in den Schleswig-Holsteinischen Anzeigen (SchlHA) 2003 Seite 139 vier Notarstellen für den Amtsgerichtsbezirk Lübeck aus. Um diese Stellen bewarben sich die beiden Antragsteller, die vier Beteiligten sowie 13 weitere Bewerber, die sich gegen die ablehnenden Entscheidungen nicht gewandt haben.
Ablauf der Bewerbungsfrist war der 31.07.2003. Mit Schreiben vom 19.08.2004 begründete der Antragsgegner gegenüber allen Bewerbern die Dauer des Verfahrens mit der Vielzahl der im Jahre 2003 ausgeschriebenen Stellen und den zahlreichen Bewerbungen sowie der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 20.04.2004. Mit weiterem zugestelltem Schreiben vom 03.02.2005 gab der Antragsgegner den Bewerbern Gelegenheit, ihre Bewerbungsunterlagen im Hinblick auf die Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts binnen vier Wochen zu ergänzen. Andernfalls werde er davon ausgehen, dass ein Ergänzungsbedarf nicht bestehe.
Für den am 11.12.1962 geborenen Antragsteller J. ermittelte zunächst der Präsident des Landgerichts gemäß § 6 der Allgemeinen Verfügung über die Angelegenheiten der Notarinnen und Notare vom 15.08.1991 (SchlHA Seite 141), geändert durch die allgemeine Verfügung vom 07.04.1994 (SchlHA Seite 115), im Folgenden: AVNot 1994, einen Punktwert von 87,45, die Notarkammer demgegenüber einen Punktwert von 111,45 (8. Rangstelle). Der Unterschied ergab sich daraus, dass der Präsident des Landgerichts etliche Nachweise nicht anerkannte, weil sie innerhalb der Bewerbungsfrist nur in einfacher Kopie eingereicht und auch auf einen Hinweis nicht nachgereicht worden waren. Der Vorstand der Notarkammer beanstandete ferner das Fehlen der Deckungszusage hinsichtlich der Berufshaftpflichtversicherung gemäß §§ 6 a, 19 a BNotO. Auf den Hinweis vom 03.02.2005 legte der Antragsteller beglaubigte Ablichtungen schon zuvor eingereichter Unterlagen und den Nachweis nach § 6 a BNotO vor. Der Präsident des LG Lübeck und der Vorstand der Schleswig-Holsteinischen Notarkammer ermittelten übereinstimmend einen Punktwert von 124,80 Punkten (6. Rangstelle) aufgrund der AVNot 1994, geändert durch die allgemeine Verfügung vom 16.02.2005 (SchlHA Seite 75), im Folgenden: AVNot 2005. Letzterer rügte, ebenso wie die Präsidentin des Oberlandesgerichts die verspätete Einreichung des Nachweises nach § 6 a BNotO.
Für den am 29.08.1957 geborenen Antragsteller S. wurde zunächst ein Punktwert von 117,05 (5. Rangstelle) ermittelt und nach der AVNot 2005 ein Punktwert von 124,45 (7. Rangstelle). Auf den Hinweis vom 03.02.2005 hatte er sich nicht geäußert. Der Unterschied ergab sich aus dem neuen Punktsystem.
Für den am 23.08.1967 geborenen Beteiligten B. wurde zunächst eine Punktzahl von 98,25 (13. Rangstelle) und nach der AVNot 2005 ein Punktwert von 144,05 (1. Rangstelle) ermittelt. Auf den Hinweis vom 03.02.2005 hatte er sich nicht geäußert. Der Unterschied ergab sich aus dem neuen Punktsystem.
Für den am 23.07.1957 geborenen Beteiligten M. wurde zunächst ein Punktwert von 117,60 (3. Rangstelle) und nach der AVNot 2005 ein Punktwert von 135,90 (2. Rangstelle) ermittelt. Er hatte auf den Hinweis vom 03.02.2005 mitgeteilt, dass er keinen Ergänzungsbedarf sehe. Der Unterschied ergab sich aus dem neuen Punktsystem.
Für den am 26.11.1963 geborenen Beteiligten St. wurde zunächst ein Punktwert von 123,95 (1. Rangstelle) und nach der AVNot 2005 ein Punktwert von 135,85 (3. Rangstelle) ermittelt. Er hatte auf den Hinweis vom 03.02.2005 mit Schreiben vom 04.03.2005 beantragt, ihm im Hinblick auf seine Tätigkeit als Notariatsverweser seit dem 03.02.2003 Sonderpunkte zu gewähren. Hierzu legte er erstmals die Bestallungsurkunde vom 16.12.2002 und erneut die schon seiner Bewerbung vom 30.07.2003 beigefügte Bescheinigung über Niederschriften vom 08.07.2003 vor. Ein Sonderpunkt wurde ihm mit der Begründung, diese Tätigkeit sei bereits mit 2,4 Punkten bei den Niederschriften berücksichtigt und sonst seien keine Besonderheiten erkennbar, nicht gewährt. Der Unterschied ergibt sich allein aus dem neuen Punktsystem.
Für den am 24.07.1966 geborenen Beteiligten Ra. wurde zunächst ein Punktwert von 105,40 (10. Rangstelle) und nach der AVNot 2005 ein Punktwert von 133,95 einschließlich 2 Sonderpunkten (4. Rangstelle) ermittelt. Er hatte mit Schreiben vom 09.02.2005 eine neue Bescheinigung vom 9. bzw. 14.02.2005 über eine weitere Beurkundung im Zeitraum 21.06.2003 bis 31.07.2003 vorgelegt und sich ferner unter Vorlage der Bestallungsurkunde vom 28.08.2002 auf seine Tätigkeit als Notariatsverwalter seit dem 01.09.2002 berufen. Für die sehr umfangreiche und noch nicht abgeschlossene Notariatsverwaltung wurden ihm 2 Sonderpunkte zuerkannt. Ein gegen ihn gerichtetes Klageverfahren (Klageschrift vom 21.02.2005), das im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Notariatsverwalter steht, wurde nicht zu seinem Nachteil berücksichtigt.
Mit Bescheiden aufgrund des Erlasses vom 23.09.2005 teilte der Antragsgegner den Antragstellern übereinstimmend mit, er vermöge ihren Bewerbungen um die ausgeschriebenen Notarstellen nicht zu entsprechen, weil die Mitbewerber B., M., St. und Ra. eine höhere Punktzahl im Rahmen des Auswahlverfahrens erreicht hätten. Den weiteren Beteiligten wurde unter dem 23.09.2005 mitgeteilt, ihre Bestellung zum Notar sei in Aussicht genommen worden.
Der Antragsteller zu 1. macht zur Begründung seines Antrags geltend:
Die AVNot 2005 sei keine geeignete Rechtsgrundlage, weil nach ihr schematisch unter das Punktebewertungssystem subsumiert werde, ohne die nach § 6 BNotO gebotene Einzelfallbetrachtung und umfassende Würdigung durchzuführen.
Die Differenzierung danach, ob die Niederschriften innerhalb der letzten drei Jahre vor der Bewerbung gefertigt worden seien, § 6 Abs. 2 Nr. 4 a AVNot 2005, sei nicht sachgerecht. Sie berge auch eine Missbrauchsgefahr in sich, weil Bewerbern, insbesondere solchen in größeren Sozietäten, zeitnah Notarvertretungen €zugeschanzt€ werden könnten.
Der Antragsgegner habe nicht hinreichend berücksichtigt, dass er vom 13.06.1994 bis zum 16.10.1994 im Hinblick auf das Strafverfahren des zu vertretenden Notars L. das gesamte Notariat völlig eigenständig und eigenverantwortlich geführt habe. Auch seine 3 ½-jährige Tätigkeit als Notariatsverwalter sei nicht hinreichend berücksichtigt worden.
Der Antragsteller zu 2. macht zur Begründung seines Antrags geltend:
Das Bewerbungsverfahren hätte noch nach der AVNot 1994 entschieden werden müssen. Das rückwirkende Inkrafttreten der AVNot 2005 benachteilige ihm zum einen gegenüber Bewerbern, bei denen sich bereits ein Notariat in der Kanzlei befinde und die deshalb unproblematisch ihre Punktzahlen erhöhen könnten. Zum anderen sei in der Vergangenheit angesichts der Kappungsgrenze der Besuch weiterer Fortbildungsveranstaltungen obsolet gewesen.
Der Antragsteller zu 1. beantragt,
den Bescheid des Antragsgegners vom 23.09.2005 aufzuheben und den Antragsgegner zu verpflichten, ihn unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
Der Antragsteller zu 2. beantragt,
die Entscheidung zur Besetzung der im Jahre 2003 im Bezirk des Amtsgerichts Lübeck ausgeschriebene Notarstellen aufzuheben und unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
Der Antragsgegner beantragt,
die Anträge als unbegründet zurückzuweisen.
Der Antragsgegner trägt im Verfahren J. vor:
Die Tätigkeit als Notarvertreter sei hinreichend berücksichtigt worden, weil für jede zusätzliche Beurkundung weitere Punkte vergeben würden. Die Differenzierung nach dem Alter der Niederschriften sei sachlich geboten. Die Tätigkeit als Notariatsverwalter für die Abwicklung der Notariatsgeschäfte des ehemaligen Notars L. sei ebenfalls durch die Berücksichtigung der Beurkundungen nach dem Punktwertesystem hinreichend berücksichtigt worden. Die Dauer der Notariatsverwaltung sei für sich allein kein Kriterium für weitere Sonderpunkte, zumal die Regeldauer der Notariatsverwaltungen von einem Jahr (§ 56 Abs. 2 BNotO) in der Mehrzahl aller Notariatsverwaltungen überschritten werde. Der Antragsteller habe es versäumt, substantiiert Umstände vorzutragen, die zu einer besonderen Berücksichtigung der Notariatsverwaltung berechtigen würden. Eine anlässlich dieses Verfahrens vorgenommene fernmündliche Nachfrage bei der Sachbearbeiterin des Präsidenten des Landgerichts Lübeck habe ergeben, dass es sich bei der Notariatsverwaltung L. um keine umfangreiche oder arbeitsaufwändige Verwaltung gehandelt habe. Der Antragsteller habe es, auch nach dem Hinweis vom 03.02.2005, versäumt, über die formalen Nachweise seiner Tätigkeit als Notarvertreter und Notariatsverwalter hinaus, darzulegen, warum diese in besonderer Weise zu berücksichtigen sei.
Im Verfahren S. trägt der Antragsgegner vor:
Angesichts der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts könne die Entscheidung nicht mehr nach der AVNot 1994 getroffen werden. Das veränderte Bewertungssystem der AVNot 2005 trage diesen Vorgaben Rechnung. Der Antragsteller könne keinen Vertrauensschutz in die damalige rechtswidrige Praxis beanspruchen.
Die Beteiligten zu 3. - 6. beantragen,
die Anträge auf gerichtliche Entscheidung zurückzuweisen.
Zur Begründung nehmen die Beteiligten zu 3., 4. und 6. Bezug auf die Ausführungen des Antragsgegners. Der Beteiligte zu 5. führt ergänzend aus, der Antragsteller zu 2. verkenne, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 20.04.2004 keinerlei Übergangsfristen eingeräumt habe. Er habe auch keinen Vertrauensschutz in die seinerzeitige Praxis erworben und werde im Übrigen mit sämtlichen Mitbewerbern gleich behandelt. Keiner habe die Möglichkeit, nach dem Bewerbungsschluss erworbene notarspezifische Kenntnisse nachzuschieben. Hinsichtlich des Antragstellers zu 1. sei die Tätigkeit als Notarvertreter über die Vergabe von Punkten berücksichtigt worden. Gleiches gelte für die lediglich 62 Beurkundungen im Rahmen der Notariatsverwaltung. Selbst bei einer Vergabe von Sonderpunkten hätte er die vor ihm liegende Bewerber nicht überflügeln können, für den Beteiligten zu 5. gelte dies selbst bei einer Zubilligung der höchstens möglichen 10 Sonderpunkte für die Notariatsverwaltung. Besondere notarspezifische Bezüge ihrer anwaltlichen Tätigkeit hätten beide Antragsteller bis zum Ablauf der Bewerbungsfrist nicht vorgetragen.
II.
Die Anträge auf gerichtliche Entscheidung sind zulässig und insbesondere form- und fristgerecht eingelegt worden, §§ 111 Abs. 2 Satz 1, Abs. 4 Satz 2 BNotO, 39 Abs. 1 und 2 BRAO.
Die auf Neubescheidung gerichteten Anträge sind auch begründet.
1. Alle Beteiligten erfüllen die allgemeinen Voraussetzungen für die Bestellung gemäß §§ 5, 6 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 BNotO i. V. m. § 5 Abs. 1 Nr. 2 bis Nr. 5 AVNot 2005. Sie haben ferner nachgewiesen, dass eine Berufshaftpflichtversicherung besteht bzw. eine vorläufige Deckungszusage vorliegt, §§ 6 a, 19 a BNotO. Der Bestellung steht nicht entgegen, dass der Antragsteller J. innerhalb der Bewerbungsfrist nur die Kopie eines Nachtrags zur Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung eines Rechtsanwalts vom 03.03.2003 und erst mit Schreiben vom 01.03.2005 eine Bescheinigung der Allianz Versicherungs-Aktiengesellschaft vom 18.02.2005 über eine Versicherung nach § 19 a BNotO vorgelegt hat.
Gemäß § 6 a BNotO, § 5 Abs. 3 AVNot 2005 muss die Bestellung versagt werden, wenn der Bewerber weder nachweist, dass eine Berufshaftpflichtversicherung (§ 19 a) besteht, noch eine vorläufige Deckungszusage vorliegt. Gemäß § 6 b Abs. 2 BNotO ist die Bewerbung innerhalb der in der Ausschreibung gesetzten Frist einzureichen. Die Unvollständigkeit einer Bewerbung hinsichtlich des Versicherungsnachweises steht nach dem Wortlaut der Regelungen ihrer Berücksichtigung nicht entgegen. Es ist deshalb unerheblich, dass das Datum der Deckungszusage dafür spricht, dass der Antragsteller J. diese nicht nur bei Ablauf der Bewerbungsfrist Ende Juli 2003 nicht vorgelegt hat, sondern überhaupt noch keine Deckungszusage nach § 6 a BNotO hatte. Gemäß § 6 b Abs. 4 BNotO sind bei der Auswahl unter mehreren Bewerbern nach § 6 Abs. 3 nur solche Umstände zu berücksichtigen, die bei Ablauf der Bewerbungsfrist vorlagen. Die Deckungszusage ist nach dem Wortlaut von § 6 Abs. 3 BNotO kein Umstand, der bei der Auswahlentscheidung eine Rolle spielt, sondern eine in einer gesonderten Vorschrift geregelte Formalie. Entsprechend ist diese Voraussetzung in der AVNot nicht in § 5 Abs. 1 bei den Voraussetzungen, die für die Notarbestellung vorliegen sollen, sondern in einem gesonderten Absatz 3 als formale Voraussetzung für den Bestellungsakt geregelt. Diese Auslegung entspricht der Handhabung des Antragsgegners in diesem Verfahren, der abweichend von der Stellungnahme des Vorstandes der Notarkammer und der Präsidentin des Oberlandesgerichts auf diesen Gesichtspunkt nicht abgestellt hat.
Der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 11.07.2005 - NotZ 29/04 - ZNotP 2005, 431, steht diesem Ergebnis nicht entgegen. § 6 Abs. 4 BNotO wird dort als Ausschlussnorm für die Erbringung und vor allem auch für den Nachweis der fachlichen Eignung behandelt (ebenso BGH, Beschluss vom 22.11.2004 - NotZ 16/04 - NJW 2005, 212). Um Fragen der Eignung geht es bei dem Versicherungsnachweis gerade nicht.
2. Die von dem Antragsgegner getroffene Auswahlentscheidung ist rechtmäßig, soweit er hinsichtlich aller Beteiligten die persönliche Eignung gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 BNotO, § 5 Abs. 1 Nr. 1 AVNot 2005 bejaht hat. Dem Antragsgegner steht bei der Entscheidung über die persönliche und fachliche Eignung gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 BNotO ein Beurteilungsspielraum zu (BGH DNotZ 1994, 318; Senatsbeschluss vom 12.11.2004 - VA (Not) 5/04 - SchlHA 2005, 88). Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsgegner die Grenzen seines Beurteilungsspielraums verkannt hat, indem er die persönliche Eignung bei allen Beteiligten bejaht und insoweit bei dem Beteiligten zu 6. ein gegen ihn gerichtetes Klageverfahren, das im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Notariatsverwalter gestanden hat, nicht zu seinem Nachteil berücksichtigt hat, bestehen nicht.
3. Die von dem Antragsgegner getroffene Auswahlentscheidung ist hinsichtlich der fachlichen Eignung gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1, 6 Abs. 3 BNotO rechtswidrig. Sie berücksichtigt nicht hinreichend die vom Bundesverfassungsgericht für den Bereich des Anwaltsnotariats entwickelten Grundsätze (Beschluss vom 20.04.2004 - 1 BvR 838/01 u.a. - AnwBl 2004, 519 und Beschluss vom 08.10.2004 - 1 BvR 702/03 - NJW 2005, 50) und die darauf fußende Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (22.11.2004 - NotZ 16/04 - a.a.O.).
a) Die Auswahlentscheidung entspricht ausgehend von den Maßgaben des Bundesverfassungsgerichts zur chancengleichen Bestenauslese zur Besetzung freier Notarstellen, die im Hinblick auf die verfassungsrechtlich gewährleistete Berufsfreiheit geboten ist, nicht den Vorgaben des seinerseits verfassungsgemäßen § 6 Abs. 3 BNotO. Das Bundesverfassungsgericht hat zu Verwaltungsvorschriften anderer Bundesländer, die der AVNot 1994 in den hier maßgebenden Punkten weitgehend inhaltsgleich waren, ausgeführt, dass sie nicht den Vorrang desjenigen mit der besten fachlichen Eignung gewährleisteten, weil sie vor allem eine konkrete und einzelfallbezogene Bewertung der fachlichen Leistung der Bewerber vermissen ließen. Auswahlentscheidungen auf der Grundlage dieser Verwaltungsvorschriften seien mit Art. 12 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 33 Abs. 2 GG nicht mehr vereinbar. Der fachlichen Eignung, die sich insbesondere in vertretungsweise ausgeübter Notartätigkeit und notarspezifischer Fortbildung darstelle, werde zu wenig Bedeutung beigemessen. Ursächlich hierfür sei die Punktzahlbildung, die gemeinsame Gruppenbildung für Fortbildung und praktische Bewährung, die starke Gewichtung der Anwaltstätigkeit durch die Kappungsgrenze, insbesondere aber das Fehlen einer benoteten Bewertung der spezifisch fachlichen Eignung bei gleichzeitig ausdifferenzierter Bewertung der allgemeinen Befähigung in Gestalt der Leistungen, die in der die juristische Ausbildung abschließenden Staatsprüfung gezeigt worden seien (BVerfG AnwBl 2004, 519, 522). Das Bundesverfassungsgericht führt deshalb abschließend für die derzeit zu treffenden Auswahlentscheidungen aus (a.a.O.):
€Eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Auswahl wird die für den Notarberuf wesentlichen Eigenschaften, also die fachliche Eignung der Bewerber, ebenso differenziert zu bewerten haben wie die von ihnen in der Vorbereitung auf das angestrebte Amt gezeigten theoretischen und praktischen Kenntnisse. Solange weder die erworbenen theoretischen Kenntnisse der Bewerber um ein Anwaltsnotariat noch deren praktische Erfahrungen, insbesondere bei den Beurkundungen, bewertet sind, wird in Abwägung zu den weiterhin berücksichtigungsfähigen Leistungen aus der die Ausbildung abschließenden Prüfung eine individuelle Prognose über die Eignung des Bewerbers im weiteren Sinne zu treffen sein. Dabei kommt den beiden genannten spezifischen Eignungskriterien im Verhältnis zur Anwaltspraxis und dem Ergebnis des Staatsexamens eigenständiges Gewicht zu. ...€
Diesen Vorgaben folgt der BGH in der o.g. Entscheidung vom 22.11.2004. Sie sind im vorliegenden Verfahren zu beachten. Entgegen der Auffassung des Antragstellers S. genießt er keinen Vertrauensschutz auf eine Auswahlentscheidung nach der alten rechtswidrigen Regelung.
Diesen Anforderungen wird die an der AVNot 2005 orientierte Auswahlentscheidung nicht gerecht. Sie unterscheidet sich von der AVNot 1994 dadurch, dass notarspezifische Fortbildungskurse nicht mehr mit 0,5 Punkten für jeden bis zum Bewerbungsschluss besuchten Halbtag, insgesamt höchstens 45 Punkten, sondern für jeden innerhalb der letzten drei Jahre vor dem Ende der Bewerbungsfrist besuchten Halbtag mit 0,6 Punkten, im Übrigen mit 0,3 Punkten bewertet werden (jeweils § 6 Abs. 2 Nr. 3 AVNot 2005). Ferner werden Niederschriften nicht mehr mit 0,1 Punkten, soweit sie innerhalb der letzten drei Jahre vor Antragstellung während einer Vertreterbestellung oder Verweserschaft mit einer ununterbrochenen Dauer von mindestens zwei Wochen errichtet wurden, mit jeweils 0,2 Punkten, insgesamt mit höchstens 20 Punkten, sondern ohne Kappungsgrenze nach einem nach Alter und Zahl der Niederschriften differenzierten Punktsystem bewertet (jeweils § 6 Abs. 2 Nr. 4 AVNot 2005). Die Vergabe von Sonderpunkten ist weiter differenziert worden und nicht mehr auf bis zu zehn Punkte begrenzt (§ 6 Abs. 2 Nr. 5 AVNot 1994, § 6 Abs. 2 Nr. 5 AVNot 2005).
Die Neuregelung hat durch den Wegfall der Gruppenbildung für Fortbildung und praktische Bewährung zusammen mit dem Wegfall der Kappungsgrenze die vom Bundesverfassungsgericht beanstandete Möglichkeit beseitigt, die Höchstpunktzahl ohne jede praktische Erfahrung zu erreichen. Durch den Wegfall der Kappungsgrenze hat sie zudem das Übergewicht der Dauer der Tätigkeit als Rechtsanwalt beseitigt (dazu BVerfG AnwBl 2004, 519, 522). Sie ist entgegen der Auffassung des Antragstellers J. nicht deshalb zu beanstanden, weil sie zeitnahen Niederschriften ein größeres Gewicht beimisst. Der dadurch tendenziell möglichen wertenden Berücksichtigung von Erfahrungen aus notarieller Tätigkeit steht entgegen seiner Ansicht auch nicht entgegen, dass in bestimmten Sozietätsformen besonders gute Gelegenheit zur Notarvertretung besteht. Abgesehen davon, dass sich dies schon bisher auf die Möglichkeit der Erlangung von Punkten für Beurkundungen auswirkte, ergibt sich hieraus auch keine rechtlich relevante Gefährdung des chancengleichen Zugangs zum Notariat. Insoweit ist der Gesichtspunkt der Bestenauslese vorrangig (BVerfG AnwBl. 2004, 519, 523).
Die geforderte individuelle Eignungsprognose ermöglicht ein allein an der AVNot 2005 orientiertes Auswahlverfahren gleichwohl nicht. Der Punktwert richtet sich allein nach der Anzahl der Beurkundungsvorgänge, jedoch weiterhin nicht nach dem Arbeitsumfang für Vorbereitung, Ausarbeitung und Abwicklung von Urkunden mit der Folge, dass eine hohe Punktzahl bereits durch die Abnahme von Eiden, die Aufnahme eidesstattlicher Versicherungen sowie die bloße Beurkundung von einem Notar vorbereiteter Verträge in dessen Vertretung erreicht werden kann, ohne dadurch umfassende praktische Erfahrung bewiesen zu haben. Dem Antragsgegner ist allerdings einzuräumen, dass durch das nach der Zahl der Niederschriften gestaffelte Punktsystem zumindest tendenziell vermieden werden kann, dass man mit vielen leichten und gleichartigen Niederschriften viele Punkte erlangt. Auch spricht viel dafür, dass bei einer großen Zahl von Niederschriften typischerweise sämtliche Schwierigkeitsgrade vertreten sind mit der Folge, dass die Rangfolge der Bewerber sich bei einer Abkehr von dem rein quantitativen System nicht notwendig ändern muss. Es bietet aber keine Gewähr dafür, dass nicht im Einzelfall schon die ersten 200 Niederschriften wenig aussagekräftig sind. Immer noch fehlt eine benotete Bewertung der notarspezifischen Leistungen. Gerade bis zu deren Einführung ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aber eine individuelle Prognose erforderlich. Eine solche individuelle Prognose über die Eignung des Bewerbers im weiteren Sinne hat nicht stattgefunden, vielmehr ist schematisch die AVNot 2005 angewandt worden. Allein die Prüfung von Sonderpunkten nach der AVNot vermag die geforderte Prognose nicht zu ersetzen.
Eine individuelle Prognose durfte auch nicht deshalb unterbleiben, weil die Beteiligten mit Ausnahme der Rechtsanwälte St. und Ra., die Sonderpunkte wegen einer Tätigkeit als Notariatsverweser bzw. eine weitere Niederschrift geltend gemacht haben, auf den Hinweis vom 03.02.2005 keine neuen Umstände vorgetragen haben. Der allgemeine Hinweis auf die Gelegenheit, im Hinblick auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Bewerbungsunterlagen zu ergänzen, erfüllte nicht die Anforderungen an eine Sachverhaltsermittlung im Sinne von § 64 a BNotO. Ein Verstoß gegen die Mitwirkungspflicht nach § 64 a BNotO setzt konkrete Hinweise voraus. Jedenfalls aber ist gemäß § 64 a Abs. 2 BNotO der Bewerber darauf hinzuweisen, dass sein Antrag auf Gewährung von Rechtsvorteilen zurückzuweisen ist, wenn die Landesjustizverwaltung infolge seiner Verweigerung der Mitwirkung den Sachverhalt nicht hinreichend klären kann. Einen solchen Hinweis enthält das Schreiben vom 03.02.2005 nicht. Er ergibt sich insbesondere nicht aus der Formulierung €Andernfalls gehe ich davon aus, dass ein Ergänzungsbedarf nicht besteht€.
Aus Vorstehendem folgt, dass der Antragsgegner eine erneute Auswahlentscheidung zwischen den sechs Beteiligten dieses Verfahrens zu treffen hat. Sie kann nicht auf die Beteiligten zu 5. und 6., als die erfolgreichen Bewerber mit den wenigsten Punkten, beschränkt werden. Da die Entscheidung nicht nach einem reinen Punktsystem, sondern nach einer individuellen Prognose zu treffen ist, kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich bei einer erneuten Auswahlentscheidung auch die Reihenfolge zwischen den bislang erfolgreichen vier Bewerbern ändert. Den Beteiligten ist zuzugeben, dass die für eine individuelle Prognose erforderliche Tatsachenerhebung voraussichtlich arbeitsaufwändig sein wird. Dies ist für die Übergangszeit bis zur Schaffung des vom Bundesverfassungsgericht geforderten Bewertungssystems hinzunehmen.
b) Verbindliche Vorgaben für das weitere Verfahren gibt es nicht. Im Rahmen der individuellen Prognose kann der Antragsgegner zum Beispiel Erhebungen zur Art der bisherigen notariellen Tätigkeit anstellen oder dazu, inwieweit der jeweilige Schwerpunkt der Anwaltstätigkeit €notarnäher€ oder €notarferner€ ausgestaltet ist. Dagegen wird eine nachträgliche Differenzierung zwischen den besuchten Fortbildungsveranstaltungen schon daran scheitern, dass keiner der Beteiligten, wie in der mündlichen Verhandlung bestätigt worden ist, Kurse mit Leistungskontrolle und Benotung absolviert hat.
Maßgebend für die Frage, welche Tätigkeiten berücksichtigungsfähig sind, sind die Hinweise zum weiteren Verfahren, die der BGH mit Beschluss vom 11.07.2005 - NotZ 29/04 -, ZNotP 2005, 431, erteilt hat. Danach darf die Justizverwaltung die fachliche Eignung eines Bewerbers um das Amt des Notars nur dann bejahen, wenn diese bis zum Ablauf der Bewerbungsfrist nachgewiesen ist, soweit es sich nicht um eine bloße nachträgliche Erläuterung eines bereits rechtzeitig eingebrachten Umstandes handelt (zuvor bereits Beschluss vom 22.11.2004 - NotZ 16/04 - a.a.O.). Das gilt nicht nur für die Erbringung, sondern vor allem auch für den Nachweis der fachlichen Leistungen. Dieser setzt neben der Vorlage entsprechender Bescheinigungen voraus, dass der Bewerber der Justizverwaltung innerhalb der Bewerbungsfrist mitgeteilt hat, welche bei der Vorbereitung auf den Notarberuf bereits erbrachten Leistungen zu seinen Gunsten in die Auswahlentscheidung einbezogen werden sollen. Insoweit dient die Festlegung des Stichtags der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit, aber auch der Gleichbehandlung aller Bewerber aufgrund einer einheitlichen Bewertungssituation, die nur gewährleistet ist, wenn zu Beginn des Auswahlverfahrens sämtliche für jeden Bewerber maßgeblichen Kriterien feststehen. Der BGH hat deshalb ausdrücklich trotz Wegfalls der Kappungsgrenze eine nach Ablauf der Bewerbungsfrist erstellte Bescheinigung für vor deren Ablauf errichtete Niederschriften für nicht berücksichtigungsfähig gehalten, ebenso eine in der Bewerbung bis zum 31.07.2003 nicht erwähnte Tätigkeit als Notariatsfachangestellter. Nach Ablauf der Bewerbungsfrist belegte Qualifikationen für den Notarberuf könnten allein in künftigen Bewerbungsverfahren als Eignungskriterien Berücksichtigung finden (BGH a.a.O. mit weiteren Nachweisen, u.a. BGHZ 126, 54).
Da diese Entscheidung zu einem Fall ergangen ist, bei dem ebenfalls Bewerbungsschluss der 31.07.2003 und das Verfahren nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 20.04.2004 fortzuführen war, ist sie auf den vorliegenden Fall übertragbar. Angesichts des klaren Wortlauts des § 6 Abs. 4 BNotO und des Abstellens auf den Ablauf der Bewerbungsfrist bietet auch die vom BGH gewählte Formulierung, wonach zu Beginn des Bewerbungsverfahrens sämtliche für jeden Bewerber maßgebliche Kriterien feststehen müssen, nicht die Möglichkeit, für die zu berücksichtigenden Umstände auf den Ablauf der mit Schreiben vom 03.02.2005 gesetzten Frist abzustellen.
Zulässig sind folglich Erläuterungen der als berücksichtigungsfähig eingebrachten Anwaltszeit, der bis zum Ablauf der Bewerbungsfrist erstellten und beim Antragsgegner angegebenen Urkunden und ganz allgemein der Tätigkeit als Notarverwalter und Notarverweser, soweit sie sich, wie u.a. beim Antragsteller zu 1), aus bis zum Fristablauf vorgelegten Bescheinigungen über Urkunden ergibt. Bei dem Beteiligten Ra. kann die mit Schreiben vom 09.02.2005 nachgereichte Bescheinigung für eine Niederschrift in der Zeit vom 21.06.2003 bis 31.07.2005 nicht berücksichtigt werden, weil der Nachweis bei Ablauf der Bewerbungsfrist nicht vorlag.
Um dem Senat in einem etwaigen späteren Verfahren die Einhaltung der Grenzen des Beurteilungsspielraums zu ermöglichen, wird aktenkundig zu machen sein, auf welcher Tatsachengrundlage die Auswahlentscheidung beruht. Derzeit ist nach Aktenlage zum Beispiel nicht ersichtlich, warum die Notarverwaltung des Beteiligten Ra. als sehr umfangreich (und noch nicht abgeschlossen) mit zwei Sonderpunkten bedacht worden ist, nicht aber die Notarverwaltung des Beteiligten St.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 111 Abs. 4 Satz 2 BNotO, 201 Abs. 1 und Abs. 2, 40 Abs. 4 BRAO, 13 a Abs. 1 FGG. Gebühren und Auslagen werden nicht erhoben, wenn bei einem Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen einen Bescheid der Landesjustizverwaltung dem Antrag stattgegeben wird (§§ 201 Abs. 2, 39 Abs. 1 BRAO). Hinsichtlich der außergerichtlichen Kosten entspricht es angesichts der schwierigen Rechtslage der Billigkeit, wenn diese jeder Beteiligte selbst trägt. Die Festsetzung des Geschäftswertes beruht auf den §§ 111 Abs. 4 Satz 2 BNotO, 202 Abs. 2 BRAO, 30 Abs. 2 KostO.
OLG Schleswig:
Beschluss v. 15.12.2005
Az: VA (Not) 6/05, v,
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