Hessisches Landesarbeitsgericht:
Beschluss vom 29. Juli 2010
Aktenzeichen: 9 TaBV 4/10
(Hessisches LAG: Beschluss v. 29.07.2010, Az.: 9 TaBV 4/10)
Die jahrelange Weigerung des Gesamtbetriebsrats, entgegen § 4 Abs. 4 des 3. WOMitbestG keine Mitglieder des Hauptwahlvorstandes zu bestellen, während die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat per gerichtlicher Nachbesetzung nach § 104 AktG bestellt werden, stellt eine Wahlbehinderung im Sinne des § 20 MitbestG dar. Der Gesamtbetriebsrat kann auf Antrag wahlberechtigter Arbeitnehmer zur Bestellung von Mitgliedern des Hauptwahlvorstandes verpflichtet werden.
Tenor
Auf die Beschwerden der Beteiligten zu 1), 4), 5) und 7) wirdder Beschluss des Arbeitsgerichts Hanau vom 09. Dezember 2009 - 1BV 8/08 - teilweise abgeändert.
Der Beteiligte zu 8) wird verpflichtet, einen aus dreiMitgliedern bestehenden Hauptwahlvorstand zur Durchführung derAufsichtsratswahlen nach dem Mitbestimmungsgesetz 1976 imUnternehmen der Beteiligten zu 9) zu bestellen.
Die Beschwerde des Beteiligten zu 3) wird zurückgewiesen.
Die Rechtsbeschwerde wird für die Beteiligten zu 8) und 9)zugelassen, für den Beteiligten zu 3) nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die Beteiligten zu 1), 4), 5) und 7) sind Arbeitnehmer im Unternehmen der Beteiligten zu 9). Sie sind im Betrieb H. tätig. Der Beteiligte zu 3) ist in der passiven Phase der Altersteilzeit. Die Beteiligte zu 9) ist aus einer Vorratsgesellschaft hervorgegangen. Im Unternehmen der Beteiligten zu 9) ist ein Gesamtbetriebsrat, der Beteiligte zu 8), gebildet. Nachdem im März 2002 bei der Beteiligten zu 9) nach mehreren Umstrukturierungen der Schwellenwert des § 1 Abs. 1 Nr. 2 MitbestG von mehr als 2000 Arbeitnehmern überschritten war, wurde ein mitbestimmter Aufsichtsrat bestellt. Die Industriegewerkschaft BCE beantragte beim Amtsgericht Hanau - Registergericht - gemäß § 6 Abs. 2 Satz 1 MitbestG in Verbindung mit § 104 Abs. 2 und 3 Nr. 2 AktG die Bestellung von acht namentlich aufgeführten Personen als Vertreter der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat. Das Registergericht gab dem Antrag der IG BCE durch Beschluss vom 6. Mai 2002 statt und folgte dabei den personellen Vorschlägen der IG BCE. Auch in der Folgezeit beantragte die IG BCE wiederholt gerichtliche Nachbesetzungen von Aufsichtsratsmitgliedern. Eine erneute Vakanz, im Aufsichtsrat entstand durch die Amtsniederlegung des Arbeitnehmervertreters B.
Bislang haben im Unternehmen der Beteiligten zu 9) noch keine Aufsichtsratswahlen stattgefunden. Die betriebsratsinterne im Mai 2007 erhobene Forderung der Beteiligten zu 1) bis 7), sich für längst überfällige Aufsichtsratswahlen einzusetzen, wurde mehrheitlich abgelehnt. Die Beteiligte zu 9)' hat eine Holding-Funktion gegenüber den deutschen Gesellschaften der C-Unternehmensgruppe inne und ist herrschendes Unternehmen im Sinne von § 18 AktG. Bei ihr nehmen an der Wahl auch die Arbeitnehmer/innen anderer Unternehmen teil, weshalb diese nach der 3. WOMitbestG durchzuführen ist. Im Verfahren beim ArbG Hanau (1 BV 11/07 -Hess. Landesarbeitsgericht 9 TaBV 37/08, Nichtzulassungsbeschwerde 7 ABN 2/09) haben die Beteiligten zu 1) bis 7) erfolglos die gerichtliche Bestellung eines Unternehmenswahlvorstandes durchzusetzen versucht. Ihren dortigen Hilfsantrag, dem Beteiligten zu 8) aufzugeben, einen Unternehmenswahlvorstand zu bilden, hatten diese nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts bereits erstinstanzlich zurückgenommen.
Die Beteiligten zu 1) bis 7) haben die Verpflichtung des Gesamtbetriebsrats begehrt, einen Hauptwahlvorstand zu bestellen. Sie sind der Auffassung gewesen, die Unterlassung der Einleitung der Aufsichtsratswahl und Bestellung eines Wahlvorstandes erfülle den Tatbestand des § 20 MitbestG, da durch dieses Verhalten die wahlberechtigten Arbeitnehmer in der Ausübung ihres aktiven und passiven Wahlrechts behindert würden.
Die (erstinstanzlich) Beteiligten zu 1) bis 7) haben beantragt,
den Beteiligten zu 8) zu verpflichten, einen aus drei Mitgliedern bestehenden Hauptwahlvorstand zur Durchführung der Aufsichtsratswahlen nach dem Mitbestimmungsgesetz 1976 im Unternehmen der Beteiligten zu 9) zu bestellen; hilfsweise, festzustellen, dass der Beteiligte zu 8) verpflichtet ist, die Wahl der Arbeitnehmervertreter zum Aufsichtsrat im Konzern der Beteiligten zu 9) einzuleiten und hierzu insbesondere und zunächst einen Wahlvorstand nach der 3. Wahlordnung zum Mitbestimmungsgesetz zu bestellen.
Die Beteiligten zu 8) und 9) haben beantragt,
die Anträge zurückzuweisen.
Die Beteiligten zu 8) und 9) sind der Ansicht gewesen, den Antragstellern fehle die Antragsbefugnis. Der Hilfsantrag sei mangels hinreichender Bestimmtheit unzulässig. Durch die gerichtliche Bestellung der Aufsichtsratsmitglieder gemäß § 104 AktG sei zudem kein mitbestimmungswidriger Zustand eingetreten. Von einer Wahlbehinderung könne keine Rede sein.
Wegen der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlichen Vorbringens, des vom Arbeitsgericht festgestellten Sachverhalts und des arbeitsgerichtlichen Verfahrens wird auf die Sachdarstellung des angefochtenen Beschlusses verwiesen.
Das Arbeitsgericht Hanau hat die Anträge durch Beschluss vom 9. Dez. 2009 -1 BV 8/08 - zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Hauptantrag sei unzulässig, weil den Antragstellern die Antragsbefugnis für die begehrte gerichtliche Entscheidung fehle. Einzelne Arbeitnehmer hätten nicht das Recht, dem Gesamtbetriebsrat Weisungen zu erteilen. Für den Hilfsantrag fehle ein Feststellungsinteresse. Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses verwiesen.
Gegen den ihnen am 4. Jan. 2010 zugestellten Beschluss haben die Beteiligten zu 1) bis 7) am 7. Jan, 2010 Beschwerde eingelegt und diese gleichzeitig begründet.
Das Verfahren wurde bezüglich der Beteiligten zu 2) und 6) wegen deren Ausscheidens aus dem Unternehmen nach übereinstimmender Teilerledigungserklärung eingestellt.
Die Beteiligten zu 1), 3), 4), 5) und 7) bleiben bei ihrer Auffassung, sie seien durch die rechtswidrige Untätigkeit und Weigerung des Beteiligten zu 8), einen Wahlvorstand zu bestellen, in ihrem Wahlrecht behindert im Sinne von § 20 MitbestG.
Die Beteiligten zu 1), 3), 4), 5) und 7) beantragen zuletzt,
den Beschluss des Arbeitsgerichts Hanau vom 9. Dez. 2009 - 1 BV 8/08 -abzuändern und den Beteiligten zu 8) zu verpflichten, einen aus drei Mitgliedern bestehenden Unternehmenswahlvorstand zur Durchführung der Aufsichtsratswahlen nach dem Mitbestimmungsgesetz 1976 im Konzern der Beteiligten zu 9) zu bestellen; hilfsweise, festzustellen, dass der Beteiligte zu 8) verpflichtet ist, die Wahl der Arbeitnehmervertreter zum Aufsichtsrat im Konzern der Beteiligten zu 9) einzuleiten und hierzu insbesondere und zunächst einen Wahlvorstand nach der 3. Wahlordnung zum Mitbestimmungsgesetz zu bestellen.
Die Beteiligten zu 8) und 9) beantragen,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Die Beteiligten zu 8) und 9) verteidigen unter Vertiefung, ihres Vorbringens die erstinstanzliche Entscheidung. Sie halten die Beschwerde für unbegründet, weil die Beteiligten zu 1), 3), 4), 5) und 7) nicht antragsbefugt seien. Es bestehe kein eigenes Recht der Antragsteller, den Beteiligten zu 8) zur Bestellung eines Hauptwahlvorstandes zu verpflichten. Der Beteiligte zu 8) begehe angesichts der Bestellung der Aufsichtsratsmitglieder gemäß § 104 AktG auch keine Wahlbehinderung im Sinne des § 20 MitbestG. Die Durchführung einer .Aufsichtsratswahl im Konzern der Beteiligten zu 9) wäre aufgrund der damit verbundenen Kosten in der jetzigen wirtschaftlichen Situation zudem unverhältnismäßig und nicht vermittelbar. Sie rechne bei einer Aufsichtsratswahl mit Kosten in Höhe von mehreren Millionen Euro.. Dem Hilfsantrag mangele es an der Bestimmtheit und am Feststellungsinteresse.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Beschwerdevorbringens wird auf die Beschwerdeschriftsätze und den Inhalt des Sitzungsprotokolls vom 29. Juli 2010 verwiesen.
II.
Die Beschwerden sind statthaft, § 87 Abs. 1 ArbGG, und - was die Beschwerden der Beteiligten zu 1), 4), 5) und 7) betrifft - zulässig. Sie sind form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, §§ 87 Abs. 2 Satz 1, 66 Abs. 1 Satz i, 89 Abs. 1 und 2 ArbGG. Es mangelt den Beschwerden auch nicht an der erforderlichen Beschwer. Diese entfällt insbesondere nicht deshalb, weil die Beteiligten zu 1) bis 7) erstinstanzlich beantragt hatten, den Beteiligten zu 8) zu verpflichten, einen Hauptwahlvorstand zur Durchführung der Aufsichtsratswahlen im Unternehmen, mit der Beschwerde dagegen im Konzern zu bestellen. Beides sind nur unterschiedliche Ausdrucksweisen für denselben Sachverhalt, denn in § 5 Abs. 1 MitbestG lautet es, das Gesetz finde auf das herrschende Unternehmen Anwendung, wenn das in § 1 Abs. 1 Nr. 1 MitbestG bezeichnete Unternehmen ein Konzern sei.
Der Antrag des Beteiligten zu 3) ist unzulässig geworden, weil er sich in der Freistellungsphase der Altersteilzeit im sog. Blockmodell befindet. Der Beteiligte zu 3) ist nicht mehr antragsbefugt, weil er nicht mehr, in einer mitbestimmungsrechtlichen Position unmittelbar betroffen ist. Ein ruhendes Arbeitsverhältnis, in dem anders als z. B. während der Elternzeit oder der Ableistung eines Wehr- oder Zivildienstes die wechselseitigen Hauptleistungspflichten bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses suspendiert sind, erfüllt die Voraussetzungen einer Betriebszugehörigkeit im Sinne des § 3 Abs. 1 MitbestG 1976, § 5 Abs. 1 BetrVG nicht (BAG Beschluss vom 16. April 2003 -7ABR 53/02 - EzA § 9 BetrVG 2001 Nr. 1; BAG Beschluss vom 25. Okt. 2000 - 7 ABR 18/00 - EzA § 76 BetrVG Nr. 16). Im Unterschied zu den Tatbeständen, in denen Arbeitnehmer für eine bestimmte Zeit keine Arbeitsleistung erbringen, ist das Blockmodell dadurch gekennzeichnet, dass der Arbeitnehmer mit Beginn der Freistellung seine Tätigkeit im Betrieb beendet und keine gesicherte Rückkehrmöglichkeit mehr besteht. Unabhängig davon, dass nach dem Eintritt in die Freistellungsphase der unmittelbare Bezug zu den betrieblichen Abläufen auf Dauer verloren zu gehen droht, fehlt es damit an einer künftigen Betroffenheit von den Entscheidungen des Aufsichtsrats.
Die Beteiligten zu 1), 4), 5) und 7) sind antragsbefugt, denn sie tragen einen Sachverhalt vor, bei dem eine unmittelbare mitbestimmungsrechtliche Betroffenheit möglich ist, nämlich einen Handlungsanspruch aus einer Wahlbehinderung gemäß § 20 MitbestG. Ob dieser Anspruch besteht, ist eine Frage der Begründetheit. Eine gerichtliche Ersatzbestellung eines Wahlvorstandes ist nicht möglich (Hess. LAG Beschluss vom 21. Aug. 2008 - 9 TaBV 37/08 - NZA-RR 2009, 305 = Juris; UHH/Hennsler vor § 9 MitbestG Rz. 56).
Der Hauptantrag der Beteiligten zu 1), 4), 5) und 7) ist begründet. Die dauerhafte Weigerung des Gesamtbetriebsrats, seiner Verpflichtung nach § 4 Abs. 4 der 3. WOMitbestG nachzukommen, Mitglieder des Hauptwahlvorstandes zu bestellen und dazu beizutragen, dass von der Möglichkeit der Nachbestellung nicht missbräuchlich jahrelang - seit 2002 -Gebrauch gemacht wird, anstatt Aufsichtsratswahlen einzuleiten, stellt eine Wahlbehinderung durch den Gesamtbetriebsrat im Sinne des § 20 MitbestG dar (ebenso etwa Hess. LAG Beschluss vom 21. Aug. 2008 - 9 TaBV 37/08 -a.a.O.; Ulmer/Habersack/Henssler, MitbestG, 2. Aufl., § 20 Rz. 15). § 20 Abs. 1 Satz 1 MitbestG verbietet jede Behinderung von Vorgängen oder Maßnahmen, die unter den Begriff der Wahlen fallen (Wlotzke-Wißmann MitbestR, 3. Aufl., § 20 MitbestG Rz. 11). Das Verbot der Wahlbehinderung trifft jeden, dessen Verhalten sich auf die Wahlen auswirken kann (Wlotzke-Wißmann a.a.O.). Das können auch Arbeitnehmervertretungen wie der Beteiligte zu 8) sein (Wlotzke-Wißmann a.a.O.). Geschützt ist jeder, der im Rahmen eines Wahlverfahrens Rechte ausüben kann, insbesondere wahlberechtigte Arbeitnehmer (Wlotzke-Wißmann a.a.O. Rz, 12). Hier wird den wahlberechtigten Arbeitnehmern seit rund acht Jahren das Wahlrecht vorenthalten.
Daran ändern auch die nach § 104 AktG durchgeführten Notbestellungen nichts. Von der gesetzlichen Konzeption her ist die Bestellung von Arbeitnehmervertretern in den Aufsichtsrat gemäß § 104 AktG nur eine Not-und Behelfslösung. Das insoweit vorgesehene Verfahren ist grundsätzlich die Nachwahl (vgl. LAG Köln Beschluss vom 30. Juni 2000 - 12 (4) TaBV 11/00 -NZA-RR 2001, 317 = Juris). Die gerichtliche Ersatzbestellung ist nur ein zeitweiliger Notbehelf zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des Aufsichtsrats (ebenso LAG Köln a.a.O.). Durch die Verweigerungshaltung des Beteiligten zu 8) ist es - worauf die Antragsteller zu Recht hinweisen - einem relativ kleinen Kreis von nach § 104 AktG Antragsberechtigten möglich, unter Vermeidung von Wahlen Kandidaten für den Aufsichtsrat zu nominieren. Sinn des § 104 AktG ist es indessen nicht, auf Dauer die nach dem MitbestG vorgesehene, durch Wahlen legitimierte Teilhabe an Unternehmensentscheidungen zu behindern.
Diese Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei, § 2 Abs. 2 GKG.
Die Rechtsbeschwerde ist gemäß §§ 92 Abs. 1 S. 2, 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zuzulassen, da die Frage, ob aus § 20 MitbestG eine Verpflichtung des Gesamtbetriebsrats folgen kann, einen Wahlvorstand zu bestellen, grundsätzliche Bedeutung hat.
Hessisches LAG:
Beschluss v. 29.07.2010
Az: 9 TaBV 4/10
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