Bundesverfassungsgericht:
Beschluss vom 21. Januar 2003
Aktenzeichen: 2 BvR 406/02

(BVerfG: Beschluss v. 21.01.2003, Az.: 2 BvR 406/02)

Tenor

Dem Beschwerdeführer wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung des Rechtsanwalts Dr. Heischel, Berlin, bewilligt.

Der Beschluss des Landgerichts Regensburg vom 7. Januar 2002 - StVK 154/01 - und der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 21. Februar 2002 - Ws 160/02 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die genannten Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Regensburg zurückverwiesen.

Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft das Begehren eines Strafgefangenen, ihm oder seinem anwaltlichen Bevollmächtigten eine Abschrift des ihn betreffenden Vollzugsplans auszuhändigen, und, damit zusammenhängend, die Voraussetzungen der Akteneinsicht gemäß § 185 StVollzG.

I.

1. Der Beschwerdeführer ist Strafgefangener in der Justizvollzugsanstalt Straubing und verbüßt dort seit August 1992 eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen Mordes. Durch seinen Bevollmächtigten beantragte er mit Schreiben vom 21. Juni 2001 die Aushändigung des ihn betreffenden Vollzugsplans nebst Fortschreibungen, die Übersendung und Aushändigung einer Kopie des Protokolls zur letzten Fortschreibung des Vollzugsplans mit Angaben zur Überprüfung des formalen und inhaltlichen Ablaufs gemäß § 159 StVollzG. Durch Bescheid vom 17. September 2001 lehnte die Justizvollzugsanstalt diesen Antrag ab. Zur Begründung führte sie aus, der ausführliche Vollstreckungsplan sei dem Beschwerdeführer erst am 12. Juni 2001 mündlich eröffnet worden; dabei habe er sich handschriftliche Notizen machen können. Die darüber hinausgehende Aushändigung einer Abschrift des Vollzugsplans sei vor diesem Hintergrund nicht erforderlich.

2. Gegen die Ablehnung seines Antrags stellte der Beschwerdeführer am 24. September 2001 Antrag auf gerichtliche Entscheidung bei der Auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg mit Sitz in Straubing. Die Strafvollstreckungskammer lehnte den Antrag mit Beschluss vom 7. Januar 2002 als unbegründet ab. Die Gewährung von Akteneinsicht und somit auch die Gewährung von Ablichtungen aus den Akten liege im pflichtgemäßen Ermessen der Vollzugsbehörde. Nach dem Wortlaut des § 185 Satz 1 StVollzG könne der Betroffene Akteneinsicht nur beanspruchen, soweit eine Auskunft für die Wahrnehmung seiner rechtlichen Interessen nicht ausreicht und er hierfür auf die Einsichtnahme angewiesen ist. Die pauschale Behauptung, in dem Vollzugsplan fehlten einige der gesetzlich vorgeschriebenen Mindestfestsetzungen, reiche als Darlegung eines entsprechenden Interesses nicht aus. Eine schriftliche Unterrichtung über den Inhalt des Vollzugsplans sei nicht erforderlich. Vielmehr sei gerade eine mündliche Unterrichtung in besonderer Weise geeignet, dem Gefangenen Klarheit über sein weiteres Schicksal im Vollzug zu verschaffen. Dem Beschwerdeführer stehe es frei, eine ausführliche mündliche Eröffnung des Vollzugsplans bei der Justizvollzugsanstalt zu beantragen, sofern die Unterrichtung vom 12. Juni 2001 nicht ausreichend gewesen sein sollte.

3. Mit Beschluss vom 21. Februar 2002 verwarf das Oberlandesgericht Nürnberg die hiergegen vom Beschwerdeführer eingelegte Rechtsbeschwerde als unzulässig. Die Strafvollstreckungskammer sei zutreffend davon ausgegangen, § 185 Satz 1 StVollzG gewähre dem Strafgefangenen ein Recht auf Akteneinsicht nur für den Fall, dass eine Auskunft aus der Akte für die Wahrnehmung seiner rechtlichen Interessen nicht ausreicht und er hierfür auf die Akteneinsicht angewiesen ist. Dies habe der Beschwerdeführer nicht ausreichend dargetan.

4. Mit der Verfassungsbeschwerde greift der Beschwerdeführer den Bescheid der Justizvollzugsanstalt Straubing sowie die dazu ergangenen gerichtlichen Entscheidungen an. Er sieht sich durch sie in seinen Grundrechten aus Art. 19 Abs. 4 i.V.m. Art. 103 Abs. 1 sowie Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verletzt. Durch die Ablehnung seines Antrags auf Aushändigung der begehrten Aktenauszüge sei sein Recht auf aktive Beteiligung an seiner Resozialisierung ebenso verletzt wie sein Recht, durch Kenntnisnahme von den ihn betreffenden Verwaltungsvorgängen die Wahrung seiner die Vollzugsplanung betreffenden inhaltlichen Rechte zu überprüfen.

5. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz erhielt Gelegenheit zur Stellungnahme. Es führte aus, dass jedem Strafgefangenen das Recht eingeräumt sei, sich jederzeit um ein Gespräch mit den zuständigen Bediensteten zu bemühen, mit welchen eingehend Fragen der Vollzugsplanung erörtert und diskutiert werden könnten. Dem Gefangenen könnten hierbei die Inhalte des Vollzugsplans erläutert werden, um Missverständnisse von vornherein auszuschließen. Jeder Gefangene könne dabei konkrete Fragen stellen, sich Notizen machen und Absichtserklärungen abgeben, mit denen er auf den Vollzugsplan und dessen Fortschreibung Einfluss nehmen könne. Darüber hinaus dürfe nicht übersehen werden, dass der Vollzugsplan gerade bei Gefangenen, die lange Strafen zu verbüßen haben, einer ständigen Entwicklung unterliege. Im Falle einer Aushändigung bestünde die Gefahr, dass der Gefangene sich auf eine ihm schriftlich vorliegende, tatsächlich jedoch überholte Vollzugsplanung berufe. Vermeintlich enttäuschte Erwartungen des Gefangenen könnten zudem dazu führen, dass der Gefangene zu einer weiteren Mitarbeit am Vollzugsziel nicht mehr bereit sei. Dieser Folge könne durch eine generelle mündliche Erläuterung entgegengewirkt werden.

II.

1. Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung (§ 93c Abs. 1 BVerfGG) liegen vor. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Grundsätze der Rechtsstellung des Gefangenen im Vollzug hat das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt (s. im Einzelnen unter 2.). Nach diesen Grundsätzen ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Die angegriffenen Beschlüsse des Landgerichts und des Oberlandesgerichts verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG.

2. Die Annahme des Landgerichts und des Oberlandesgerichts, der Beschwerdeführer könne grundsätzlich auf eine ausschließlich mündliche Unterrichtung über den Inhalt des Vollzugsplans verwiesen werden, ist verfassungsrechtlich nicht tragfähig.

a) Aus dem durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG grundrechtlich geschützten Resozialisierungsinteresse des Strafgefangenen, das auch darauf gerichtet ist, Rahmenbedingungen herzustellen, die seiner Bewährung und Wiedereingliederung förderlich sind (vgl. BVerfGE 35, 202 <235 f.>; 36, 174 <188>; 45, 187 <238 f.>; 64, 261 <272 f.>; stRspr), folgt ein Anspruch des Strafgefangenen, über den Vollzugsplan so unterrichtet zu werden, dass ihm die Mitwirkung an seiner Behandlung möglich ist (vgl. § 4 Abs. 1 StVollzG) und er seine die Vollzugsplanung betreffenden Rechte wahrnehmen kann. Der Vollzugsplan ist vom Strafvollzugsgesetz als zentrales Element des dem Resozialisierungsziel verpflichteten Vollzugs konzipiert. Als eine Art "Gesamt-Fahrplan" (Callies/Müller-Dietz, StVollzG, 9. Aufl. 2002, § 7, Rn. 2) bildet er das "Kernstück" eines behandlungsorientierten Vollzugs (Mey in: Schwind/Böhm <Hrsg.>, StVollzG, 3. Aufl. 1999, § 7, Rn. 3), dem der Gefangene von Verfassungs wegen nicht als passives Objekt unterworfen sein, sondern an dem er sich aktiv beteiligen können soll. Wegen dieser zentralen Bedeutung muss der Vollzugsplan auch gerichtlich daraufhin kontrollierbar sein, ob die Rechtsvorschriften für das Aufstellungsverfahren beachtet wurden und das inhaltliche Gestaltungsermessen der Behörde rechtsfehlerfrei ausgeübt worden ist (Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Februar 1993 - 2 BvR 594/92 -, StV 1994, S. 93).

Dem grundrechtlich geschützten Resozialisierungsinteresse des Strafgefangenen und der Bedeutung des Vollzugsplans in diesem Zusammenhang würde es nicht gerecht, wenn dem Gefangenen ein von ihm gewünschter Einblick in den für ihn erstellten Vollzugsplan grundsätzlich unter Verweis auf das Ausreichen mündlicher Auskünfte verweigert werden könnte. Da der Betroffene ohne Zugang zur schriftlichen Fassung des Vollzugsplans nicht in der Lage ist, die Vollständigkeit und Richtigkeit der ihm erteilten Auskunft zu überprüfen, würde das Beharren auf einer ausschließlich mündlichen Auskunftserteilung dem zentralen Anliegen des Vollzugsplans zuwiderlaufen, dem Gefangenen - im Rahmen des Möglichen - eine gewisse Planungssicherheit und damit eine Grundlage für eigenes zukunftsorientiertes Verhalten zu vermitteln.

Zwar trifft es zu, dass der Vollzugsplan gerade beim Vollzug längerer Strafen der Weiterentwicklung, insbesondere in Abhängigkeit von der Entwicklung des Gefangenen selbst, unterliegt. Daher ist nicht auszuschließen, dass sich ein Strafgefangener auf eine ihm zur Kenntnis gegebene Vollzugsplanung zu einem Zeitpunkt beruft, zu dem diese bereits überholt ist. Diese Möglichkeit besteht jedoch unabhängig davon, ob er vom Inhalt des Vollzugsplans in mündlicher oder in schriftlicher Form informiert wurde. Die geltend gemachte Gefahr, dass der Gefangene aus der Kenntnis vom Inhalt seines Vollzugsplans Rechtsansprüche ableitet, die der Plan tatsächlich nicht vermittelt, ist daher nicht in spezifischer Weise mit der Form der Unterrichtung verknüpft und kann schon deshalb eine grundsätzliche Beschränkung auf mündliche Informationen über den Inhalt des Vollzugsplans nicht rechtfertigen. Wenn die Beschränkung auf mündliche Auskünfte als ein Mittel betrachtet und eingesetzt wird, dem Gefangenen das Gebrauchmachen von Kenntnissen über den Inhalt des Vollzugsplans zu erschweren, so zeigt sich gerade darin, dass diese Beschränkung der verfassungsrechtlichen Rechtsstellung des Gefangenen als Träger subjektiver Rechte nicht gerecht wird, liegt es doch gerade im Wesen dieser Rechte, dass sie aktiv geltend gemacht werden können. Das Anliegen der Vermeidung von Missverständnissen und unsachgerechten Enttäuschungsreaktionen auf Seiten des Gefangenen mag mündliche Erläuterungen als sinnvoll erscheinen lassen, kann aber keine Beschränkung auf diese Form der Informationsübermittlung rechtfertigen.

b) Dabei braucht über die Frage, ob mit dem grundrechtlich fundierten Interesse des Strafgefangenen, vom Inhalt des Vollzugsplans und dessen Fortschreibungen anhand des schriftlichen Textes Kenntnis zu nehmen und damit auf für ihn verlässlicher Grundlage prüfen zu können, ob seine den Vollzugsplan betreffenden Rechte gewahrt sind, ein Rechtsanspruch gerade auf Aushändigung einer Abschrift korrespondiert, nicht abschließend befunden zu werden (im Ergebnis ablehnend: OLG Karlsruhe ZfStrVO 1980, S. 184; OLG Hamm NStZ 1985, S. 47; bejahend: OLG Celle NStZ 1982, S. 136 sowie Schöch in: Kaiser/Schöch <Hrsg.>, Strafvollzug, 5. Aufl. 2002, § 7, Rn. 17 und Feest/Joester in: Feest <Hrsg.>, AK-StVollzG, 4. Aufl. 2000, § 7, Rn. 6). Jedenfalls begegnet die tragende Erwägung, mit der sowohl das Landgericht als auch das Oberlandesgericht einen solchen Anspruch verneint haben, durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Beide Gerichte gehen übereinstimmend davon aus, dass die Frage, ob ein Rechtsanspruch auf Aushändigung einer Kopie des Vollzugsplans besteht, nach den gesetzlichen Vorschriften über die Gewährung von Akteneinsicht zu beantworten ist (zur Einordnung der Aushändigung einer Abschrift oder Ablichtung aus den Akten als Unterfall des Akteneinsichtsrechts vgl. auch Meyer-Goßner in: Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl. 2003, § 147, Rn. 6, m.w.N.). Das Landgericht wie auch das Oberlandesgericht verneinen für den vorliegenden Fall einen Anspruch auf Aushändigung einer Abschrift des Vollzugsplans, weil nach ihrer Auffassung die Voraussetzungen eines Akteneinsichtsrechts nach § 185 StVollzG nicht erfüllt sind.

§ 185 StVollzG räumt dem Gefangenen einen Anspruch auf Akteneinsicht nach Maßgabe des § 19 BDSG unter der Voraussetzung ein, dass eine mündliche Auskunft für die Wahrung seiner rechtlichen Interessen nicht ausreicht. Ob ein rechtliches Interesse im Sinne dieser Bestimmung regelmäßig schon im Hinblick auf das Recht des Gefangenen auf informationelle Selbstbestimmung zu bejahen ist (Weichert in: Feest <Hrsg.>, AK-StVollzG, § 185, Rn. 9; ders., ZStrVO 2000, S. 88 <89>; a. A.: Schmid in: Schwind/Böhm <Hrsg.>, StVollzG, § 185, Rn. 9 ff., jew. m.w.N.), kann hier offenbleiben. Bei grundrechtskonformer Auslegung ist aus den oben dargelegten Gründen die Erforderlichkeit der Akteneinsicht zur Wahrung der rechtlichen Interessen des Gefangenen jedenfalls dann gegeben, wenn der Gefangene Einsicht in seinen Vollzugsplan begehrt.

3. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf der nicht hinreichenden Berücksichtigung der Grundrechte des Beschwerdeführers im Rahmen der Auslegung des § 185 StVollzG. Angesichts des Zusammenhangs zwischen dem vom Beschwerdeführer geltend gemachten Anspruch auf Aushändigung einer Abschrift des Vollzugsplans und der Reichweite des Akteneinsichtsrechts nach § 185 StVollzG, den beide Gerichte verfassungsrechtlich beanstandungsfrei angenommen haben, ist davon auszugehen, dass die Fachgerichte eine für den Beschwerdeführer günstigere Entscheidung getroffen hätten, wenn sie - verfassungsrechtlich zutreffend - von einem Recht des Gefangenen auf Einsichtnahme in seinen Vollzugsplan ausgegangen wären.

4. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.






BVerfG:
Beschluss v. 21.01.2003
Az: 2 BvR 406/02


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