Bundesverfassungsgericht:
Beschluss vom 19. Dezember 2007
Aktenzeichen: 1 BvR 1984/06

(BVerfG: Beschluss v. 19.12.2007, Az.: 1 BvR 1984/06)

Tenor

1. Die Verfahren werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.

2. Der Beschluss des Amtsgerichts Bersenbrück vom 6. Juli 2006 - 13 II 614/06 (BH) - verletzt den Beschwerdeführer zu I. in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidung wird aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Bersenbrück zurückverwiesen.

3. Der Beschluss des Amtsgerichts Bersenbrück vom 5. Juli 2006 - 13 II 1188/05 (BH) - verletzt die Beschwerdeführerin zu II. in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidung wird aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Bersenbrück zurückverwiesen.

4. Die Beschlüsse des Amtsgerichts Bersenbrück vom 22. Mai 2007 und vom 15. Juli 2007 - 13 II 451/07 (BH) - verletzen die Beschwerdeführerin zu III. in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Bersenbrück zurückverwiesen.

5. Die Beschlüsse des Amtsgerichts Bersenbrück vom 26. April 2007 und vom 15. Juli 2007 - 13 II 294/07 (BH) - verletzen den Beschwerdeführer zu IV. in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Bersenbrück zurückverwiesen.

6. Die Beschlüsse des Amtsgerichts Bersenbrück vom 22. Mai 2007 und vom 15. Juli 2007 - 13 II 331/07 (BH) - verletzen die Beschwerdeführer zu V. in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Bersenbrück zurückverwiesen.

7. Das Land Niedersachsen hat den Beschwerdeführern ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.

8. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird für die Verfahren 1 BvR 1984/06 und 1 BvR 2131/07 jeweils auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt, für die Verfahren 1 BvR 1985/06, 1 BvR 2132/07 und 1 BvR 2139/07 jeweils auf 6.000 € (in Worten: sechstausend Euro).

Gründe

Die Verfassungsbeschwerden betreffen die Frage, ob die in § 4 Abs. 2 Satz 4 des Beratungshilfegesetzes (BerHG) eingeräumte Möglichkeit, einen Antrag auf Beratungshilfe nachträglich zu stellen, zeitlich befristet ist.

I.

1. Die Beschwerdeführer wandten sich jeweils außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens an einen Rechtsanwalt ihrer Wahl, um sich beraten zu lassen und von ihm Hilfe bei der Wahrnehmung ihrer Rechte zu erhalten. Gut ein Jahr, nachdem die Beratung und die damit verbundenen außergerichtlichen Schritte abgeschlossen waren, stellten sie jeweils einen Antrag auf Gewährung von Beratungshilfe nach § 4 Abs. 2 Satz 4 BerHG bei dem hierfür in allen Ausgangsverfahren zuständigen Amtsgericht Bersenbrück.

Der Rechtspfleger wies die Anträge zurück, weil sie verspätet gestellt seien. Die letzte Tätigkeit des jeweiligen Rechtsanwalts liege weit zurück, ohne dass ein Grund für die verspätete Antragstellung angegeben worden sei. Nach der ständigen Rechtsprechung des Amtsgerichts sei ein Antrag auf Beratungshilfe dann verwirkt, wenn er nicht ohne schuldhaftes Zögern eingereicht worden sei. Die zeitliche Grenze liege dann, wenn keine nachprüfbaren Gründe für die Verzögerung mitgeteilt würden, bei sechs Monaten.

Den Erinnerungen der Beschwerdeführer half der Rechtspfleger nicht ab, sondern legte sie dem Richter zur Entscheidung vor. Dieser wies die Rechtsbehelfe mit den angegriffenen, in allen Verfahren wortgleich begründeten Beschlüssen zurück. Dabei führte er im Wesentlichen aus, das Gesetz erlaube nur ausnahmsweise, einen Anspruch auf Erstattung von Leistungen aus Steuergeldern nachträglich geltend zu machen. Die nachträgliche Beurteilung, ob die Leistung notwendig gewesen sei, stelle sich naturgemäß schwieriger dar als eine vorhergehende Kontrolle, bei der noch Nachfragen und Auflagen möglich seien. Hieraus erkläre sich zwanglos, dass derartige nachträgliche Anträge auf Gewährung von Beratungshilfe unverzüglich zu stellen seien. Der zeitliche Rahmen dieser Unverzüglichkeit sei - ohne den im Einzelfall führbaren Nachweis einer besonderen Verfahrenslage - auf sechs Monate zu bemessen. Ausgehend von den Erfahrungswerten bei der Anbringung von Kostenfestsetzungsanträgen in Zivilverfahren sei diese Frist eher hochgegriffen. Sie löse in den Anwaltskanzleien keinen erkennbaren Zusatzaufwand aus. Dabei gehe es nicht um die Frage der Verjährung oder der Verwirkung. Vielmehr beruhe das Erfordernis unverzüglicher Antragstellung auf einer Auslegung der Ausnahmevorschrift des § 4 Abs. 2 Satz 4 BerHG. Die Beratungshilfe sei ein der Prozesskostenhilfe verwandtes Verfahren, allerdings mit der Besonderheit, dass die Möglichkeit einer nachträglichen Antragstellung bestehe. Daraus folge ein besonderes Gebot zur beschleunigten Antragstellung, wobei sich dieses Gebot zugleich aus dem allgemeinen Beschleunigungsgebot der Zivilprozessordnung ableiten lasse. Zudem könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber eine erst nach Jahren erfolgende Antragstellung gewollt habe.

2. Die Beschwerdeführer rügen eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG. Es verstoße gegen den allgemeinen Gleichheitssatz in seiner Ausprägung als Willkürverbot, wenn das Gericht eine zeitliche Befristung der nachträglichen Antragstellung unterstelle, ohne dass dies dem Gesetz zu entnehmen sei. Zudem gehe aus den angegriffenen Beschlüssen nicht hervor, wann der Lauf der angenommenen Frist von sechs Monaten beginnen solle.

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerden zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführer angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c BVerfGG): Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind geklärt, und die Verfassungsbeschwerden sind offensichtlich begründet.

1. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG.

a) Die Auslegung und Anwendung einfachen Rechts ist grundsätzlich Sache der Fachgerichte. Mit Blick auf den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) in seiner Ausprägung als Verbot objektiv willkürlicher Entscheidungen ist ein Richterspruch jedoch dann von Verfassungs wegen zu beanstanden, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht. Dies ist anhand objektiver Kriterien festzustellen (vgl. BVerfGE 80, 48 <51>; 87, 273 <279>; stRspr). Eine fehlerhafte Rechtsanwendung allein lässt eine Gerichtsentscheidung allerdings noch nicht als in diesem Sinne willkürlich erscheinen. Dies ist erst dann der Fall, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt einer Norm in krasser Weise missdeutet wird (vgl. BVerfGE 87, 273 <279>; 96, 189 <203>).

b) Gemessen an diesen Grundsätzen verletzen die angegriffenen Entscheidungen des Richters Art. 3 Abs. 1 GG, da jeweils der Inhalt von § 4 Abs. 2 Satz 4 BerHG in schlechthin unhaltbarer Weise missdeutet wird. Die in den Beschlüssen vertretene Auslegung ist vom Wortlaut des Gesetzes nicht gedeckt. Überdies orientiert sie sich weder am dokumentierten Willen des historischen Gesetzgebers noch kann sie sich auf den systematischen Zusammenhang der ausgelegten Vorschrift stützen. Darüber hinaus steht sie im Gegensatz zur ganz herrschenden Auffassung in Literatur und Rechtsprechung.

aa) Dem Wortlaut der Vorschrift lässt sich nicht entnehmen, dass ein nach der in Anspruch genommenen Beratung gestellter Antrag auf Beratungshilfe unverzüglich anzubringen wäre. § 4 Abs. 2 Satz 4 BerHG lautet wie folgt:

„Wenn sich der Rechtsuchende wegen Beratungshilfe unmittelbar an einen Rechtsanwalt wendet, kann der Antrag nachträglich gestellt werden.“

Der Gesetzestext verlangt mithin nicht, dass der Antrag unverzüglich oder gar innerhalb einer Frist von sechs Monaten zu stellen ist. Dem insoweit allein als auslegungsfähig in Betracht zu ziehenden Wort „nachträglich“ kann ein solcher Sinn nicht beigemessen werden (so aber AG Leer, Nds.Rpfl 1992, S. 91). Nachträglich bedeutet, dass etwas hinterher, später oder danach geschieht (vgl. Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden, 3. Aufl., Bd. 6, S. 2689; Brockhaus, Enzyklopädie, 19. Aufl., Bd. 27, S. 2346). Damit wird ausschließlich eine zeitliche Reihenfolge zwischen zwei Ereignissen zum Ausdruck gebracht, nicht hingegen eine bestimmte zeitliche Nähe. Ein zeitlich konkret begrenzendes Moment wohnt dem Begriff des Nachträglichen nicht inne.

Mithin bedeutet „nachträglich“ im Sinne von § 4 Abs. 2 Satz 4 BerHG nur, dass der Antrag auch noch gestellt werden darf, nachdem der Rechtsanwalt dem Rechtsuchenden Beratung gewährt oder jedenfalls seine Tätigkeit begonnen hat (vgl. Greißinger, AnwBl 1996, S. 606 <610>).

bb) Die Vorschrift kann auch nicht im Wege einer teleologischen Reduktion dahin ausgelegt werden, dass nur nachträgliche Anträge, die unverzüglich gestellt werden, Berücksichtigung finden können.

(1) Eine solche teleologische Reduktion kann sich nicht auf den Willen des Gesetzgebers stützen. Der Normentstehungsgeschichte lassen sich die vom Amtsgericht lediglich unterstellten Vorstellungen von einem bestimmten Antragstellungszeitraum nicht entnehmen. Der Gesetzgeber hat keinerlei belegbare Erwägungen zu Antragsfristen und -zeiträumen angestellt (vgl. die Gesetzentwürfe BTDrucks 8/1713, S. 3 und 5; BTDrucks 8/3311, S. 6 und 15; Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschussses des Bundestages, BTDrucks 8/3695, S. 2, 4 und 8). Hingegen war es sein zum Ausdruck gebrachtes Ziel, den Zugang zur Rechtsberatung zu erleichtern und hierbei das Verfahren für den Rechtsuchenden einfach und unbürokratisch zu gestalten (BTDrucks 8/1713, S. 5). Dem entspricht die dem Rechtsuchenden eingeräumte Möglichkeit, den Anwalt unmittelbar - ohne vorherige Bewilligung von Beratungshilfe - aufsuchen zu können. Die Erwägung, das Bewilligungsverfahren für das entscheidende Gericht im Fall nachträglicher Antragstellung möglichst einfach zu gestalten, ist den niedergelegten Regelungsmotiven nicht zu entnehmen.

(2) Ebenso wenig lässt sich eine teleologische Reduktion auf eine dem Zusammenhang des Gesetzes innewohnende Zwecksetzung stützen. Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts ist der Regelung kein besonderes Beschleunigungsgebot zu entnehmen. Zwar handelt es sich bei dem Verfahren zur Bewilligung von Beratungshilfe um ein der Prozesskostenhilfe verwandtes Verfahren. Die zeitliche Begrenzung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe resultiert jedoch daraus, dass diese von den Erfolgsaussichten der beabsichtigten Rechtsverfolgung abhängt. Demnach ist über den Prozesskostenhilfeantrag grundsätzlich vor dem Abschluss der Instanz zu entscheiden (vgl. Musielak/Fischer, ZPO, 5. Aufl., § 119 Rn. 11). Gerade hierin besteht einer der wesentlichen Unterschiede zwischen der Bewilligung von Prozesskostenhilfe und der Bewilligung von Beratungshilfe; letztere ist - ihrer Natur gemäß - nicht von einer Erfolgsaussicht abhängig und steht lediglich unter einem Mutwilligkeitsvorbehalt (§ 1 Abs. 1 Nr. 3 BerHG). Im Übrigen richtet sich das Beschleunigungsgebot im Prozesskostenhilfeverfahren in erster Linie an den entscheidenden Richter. Der antragstellenden Partei können zwar Fristen für die Ergänzung ihres Vorbringens gesetzt werden; deren Nichteinhaltung ist jedoch nicht mit Sanktionen verbunden; es handelt sich nicht um Ausschlussfristen (vgl. Zöller/Philippi, ZPO, 26. Aufl., § 118 Rn. 13 und 17a m.w.N.).

Schließlich lässt sich ein allgemeines Beschleunigungsgebot hier auch nicht aus den Vorschriften der Zivilprozessordnung ableiten. Diese finden - wie das Amtsgericht nicht verkannt hat - auf das in Rede stehende Verfahren grundsätzlich keine Anwendung; dieses folgt vielmehr den Regeln der freiwilligen Gerichtsbarkeit (vgl. § 5 BerHG).

cc) Der vom Amtsgericht in den Ausgangsverfahren vertretenen Auffassung steht zudem die ganz herrschende Meinung in Literatur und Schrifttum entgegen, mit der sich das Amtsgericht nicht auseinander gesetzt hat (vgl. LG Münster, JurBüro 1983, S. 1705; AG Koblenz, Rpfleger 2003, S. 669; AG Sinzig, BRAGOreport 2001, S. 127; LG Aschaffenburg, Beschluss vom 27. Oktober 1999 - 1 T 22/99 -, JURIS; Kalthoener/Büttner/Wrobel-Sachs, Prozesskostenhilfe und Beratungshilfe, 4. Aufl., Rn. 984; Schoreit/Dehn, Beratungshilfe, Prozesskostenhilfe, 8. Aufl., § 4 Rn. 12; Lindemann/Trenk-Hinterberger, Beratungshilfegesetz, § 4 Rn. 16; Hellstab, Rpfleger 2004, S. 337 <344>; Schneider, BRAGOreport 2001, S. 128; Greißinger, AnwBl 1996, S. 606 <610>; ders., AnwBl 1994, S. 371 <374>; Kreppel, Rpfleger 1986, S. 86 <87>; a. A. AG Leer, Nds.Rpfl 1992, S. 91, unklar AG Osnabrück, Nds.Rpfl 1996, S. 95; siehe auch BVerfG, 3. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 18. Januar 2006 - 1 BvR 2312/05 -, NJW 2006, S. 1504).

c) Gemessen an den oben genannten Grundsätzen verletzen auch die von den Beschwerdeführern zu III., IV. und V. mit angegriffenen Entscheidungen des Rechtspflegers Art. 3 Abs. 1 GG. Die dort geäußerte Ansicht, Beratungshilfe sei immer dann verwirkt, wenn sie nicht ohne schuldhaftes Zögern beantragt werde, und die Grenze, innerhalb derer ohne Angabe entsprechender Gründe eine Verwirkung anzunehmen sei, sei bei sechs Monaten zu ziehen, ist schlechterdings unvertretbar. Hierdurch wird der Gehalt des in der Rechtsprechung anerkannten Instituts der Verwirkung in unhaltbarer Weise missdeutet.

Eine Verwirkung des Beratungshilfeanspruchs wird in Rechtsprechung und Literatur zwar teilweise erwogen (AG Koblenz, Rpfleger 2003, S. 669; AG Sinzig, BRAGOreport 2001, S. 127; Kalthoener/Büttner/Wrobel-Sachs, Prozesskostenhilfe und Beratungshilfe, 4. Aufl., § 4 Rn. 984; Hellstab, Rpfleger 2004, S. 337 <344>; Greißinger, AnwBl 1996, S. 606 <610>; anders allerdings BVerfG, 3. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 18. Januar 2006 - 1 BvR 2312/05 -, NJW 2006, S. 1504; Schneider, BRAGOreport 2001, S. 128). Auch die Vertreter dieser Ansicht nehmen aber eine Verwirkung regelmäßig erst dann an, wenn die Verjährungsfrist des zugrunde liegenden Vergütungsanspruchs des Rechtsanwaltes gegenüber dem Antragsteller abgelaufen ist. Diese Verjährungsfrist beträgt nach der Änderung durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz drei Jahre (§ 195 BGB) und war in allen Ausgangsverfahren bei weitem nicht erreicht. Vielmehr wurden die Anträge in den Ausgangsverfahren etwa ein Jahr, spätestens eineinhalb Jahre nach Beendigung der Beratungstätigkeit gestellt. Dessen ungeachtet wird in den insoweit angegriffenen Entscheidungen die gegenüber der Verjährungsfrist sehr kurze Frist von sechs Monaten nicht näher gerechtfertigt.

Zudem wird das Wesen des Instituts der Verwirkung verkannt, wenn auf ein schuldhaftes Zögern des Anspruchsberechtigten bei der Geltendmachung des Anspruchs auf Beratungshilfe abgestellt wird. Bei der Verwirkung handelt es sich um einen Ausnahmetatbestand, der seine Rechtfertigung aus einem Verstoß gegen Treu und Glauben erfährt. Dieser kann in der gegenüber dem Anspruchsgegner „illoyalen Verspätung“ der Rechtsausübung bestehen (BGHZ 25, 47 <52>; BGH, NJW 1984, S. 1684).

In Ermanglung einer Pflicht zur unverzüglichen Antragstellung kann entgegen der Ansicht des Rechtspflegers eine Verspätung der Rechtsausübung nicht allein damit begründet werden, dass ein Berechtigter sich nicht ohne schuldhaftes Zögern an das Gericht gewendet hat, um Beratungshilfe bewilligt zu bekommen. Erst recht scheidet die für die Annahme einer Verwirkung erforderliche so genannte Illoyalität einer etwaigen Verspätung aus. Diese setzt einen Vertrauenstatbestand voraus, aufgrund dessen die verspätete Geltendmachung des Rechts unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben dem Verpflichteten nicht mehr zumutbar ist (vgl. BGHZ 25, 47 <52>). Wodurch ein solcher Vertrauenstatbestand hier geschaffen worden sein könnte und warum die späte Stellung des Antrags auf Beratungshilfe für den Staat eine besondere Härte darstellen sollte, wird in den angegriffenen Entscheidungen des Rechtspflegers nicht dargelegt und ist auch nicht erkennbar.

2. Da die Entscheidungen des Amtsgerichts danach unter keinem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt vertretbar sind und auf dem darin liegenden Grundrechtsverstoß beruhen, sind die angegriffenen Beschlüsse gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sachen an das Amtsgericht zurückzuverweisen.

III.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf

§ 34a Abs. 2 BVerfGG, die Festsetzung der Werte des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit auf § 37 Abs. 2 RVG (vgl. dazu auch BVerfGE 79, 365).






BVerfG:
Beschluss v. 19.12.2007
Az: 1 BvR 1984/06


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