Sozialgericht Düsseldorf:
Urteil vom 2. Juli 2008
Aktenzeichen: S 2 KA 181/07
(SG Düsseldorf: Urteil v. 02.07.2008, Az.: S 2 KA 181/07)
Tenor
Die Klage wird abgewiesen. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen die Durchführung eines Vertrages zur Behandlung der feuchten Makuladegeneration.
Die altersbedingte Makuladegeneration (AMD) ist eine Netzhaut-Erkrankung, bei der nach und nach die Zellen in der Netzhautmitte - der Makula - absterben, so dass die Betroffenen im zentralen Gesichtsfeld zunehmend verschwommen oder verzerrt sehen. Bei der "feuchten" (neovaskulären) Form der Erkrankung wachsen neu gebildete Blutgefäße in die Makula ein. Aus diesen abnormalen Gefäßen tritt eine die Sehzellen schädigende Flüssigkeit aus, was kann bis zur Erblindung führen kann. Nach seit längerem angewandten Behandlungsmöglichkeiten wie der Lasertherapie, der photodynamischen Therapie mit Verteporfin oder der chirurgischen Entfernung neuer Blutgefäße besteht die bisher aussichtsreichste Therapie in der Injektion von VEGF (Vascular Endothelial Growth Factor) - Hemmern in den Glaskörperraum des Augapfels (intravitreal). Hierdurch sollen die neu gebildeten Gefäße inaktiviert und die Netzhautschwellung zurückgebildet werden
Die Klägerin ist ein deutsches Tochterunternehmen des in der T ansässigen Biotechnologie- und Pharmaunternehmens O AG. Zu den von ihr in der Augenheilkunde vertriebenen Präparaten gehört u.a. Lucentis mit dem Wirkstoff Ranibizumab, einem VEGF-Hemmer. Arzneimittelrechtlich ist dieses Präparat seit Januar 2007 zur Behandlung der feuchten AMD in der Bundesrepublik Deutschland zugelassen.
Der in Lucentis verwendete Wirkstoff Ranibizumab wird von dem Biotechnologie-Unternehmen H Inc., South San Francisco/USA, produziert. Er ist molekular eng verwandt mit dem ebenfalls von diesem Unternehmen hergestell- ten Wirkstoff Bevacizumab, der in dem Arzneimittel Avastin der Fa. S verwendet wird. Avastin gehört ebenfalls zu den VEGF-Antagonisten und hemmt Gefäßneubildungen. Arzneimittelrechtlich ist Avastin für die Anwendungsgebiete der First-Line-Behandlung von Patienten mit metastasierendem Kolon- oder Rektumkarzinom und mit metastasierendem Mammakarzinom zugelassen. Eine Zulassung für die Behandlung der AMD ist seitens der Fa. S weder beantragt noch beabsichtigt.
Vor der Zulassung von Lucentis wurde in der Bundesrepublik Deutschland das Arzneimittel Avastin zur Behandlung der feuchten AMD im Rahmen eines sog. "Off-Label-Use" in großem Umfang von Vertragsärzten eingesetzt und von Krankenkassen bezahlt. Seit der Zulassung von Lucentis besteht Streit, ob der Off-Label-Use von Avastin insofern weiterhin zulässig ist.
Die Fa. S ist beherrschend an der H Inc. beteiligt und beabsichtigt deren vollständige Übernahme; die O AG hält eine Beteiligung an der Fa. S von etwa einem Drittel des stimmberechtigten Kapitals.
Ebenfalls zur Behandlung der feuchten AMD zugelassen ist das Arzneimittel Macugen (Wirkstoff: Pegaptanib) der Q Pharma GmbH.
Die Beklagten zu 1) und 2) sind Verbände operierender Augenärzte, die Beklagten zu 3) bis 5) gesetzliche Krankenkassen. Sie schlossen am 03.05.2007 einen "Vertrag zur Behandlung der feuchten Maculadegeneration mittels intravitrealer Eingabe von VEGF-Hemmern". Nach der Präambel soll der Vertrag "neue Versorgungs- und Vergütungsformen für eine hochwertige und qualitative Patientenversorgung bei Erkrankung von Patienten an der feuchten Maculadegeneration mit intravitrealer Injektion" erproben. Gegenstand des vertraglichen Versorgungsauftrages soll die Diagnostik und Behandlung einer feuchten Maculapathie mit intravitrealer Medikamenteneingabe nach im Einzelnen bestimmten
Qualitätsstandards sein. Die an dieser Versorgung teilnehmenden Ärzte enthalten nach Anlage 3 des Vertrages eine Leistungskomplexpauschale incl. Anästhesie und VEGF-Hemmer in Höhe von 450,- EUR.
Die zwischen den Vertragsparteien letztlich verbindlich geregelte Anlage 1a des Vertrages enthält ein vom teilnehmenden Augenarzt zu verwendendes Formular "Aufklärung und Einverständniserklärung". Darin werden die Medikamente Macugen, Lucentis und Avastin unter Angabe der durchschnittlichen jährlichen Medikamentenkosten beschreiben. U.a. heißt es - zusammengefasst -:
bei Macugen (Pegaptanib), dass die Chancen für eine Visusverbesserung bei Verwendung von Ranibizumab und wahrscheinlich auch Bevacizumab deutlich besser seien und dass jährliche Medikamentenkosten in Höhe von durchschnittlich mindestens 9.350,- EUR zu erwarten seien;
bei Lucentis (Ranibizumab), dass der rechtliche Vorteil im Verhältnis zu Bevacizumab in der arzneimittelrechtlichen Zulassung für die Anwendung am Auge, der Nachteil im Preis liege. Das Medikament sei sehr teuer und koste ca. 40mal so viel wie die Behandlung mit Bevacizumab (zu erwartende durchschnittliche jährliche Medikamentenkosten mindestens 14.100,- EUR). Hinsichtlich der Wirksamkeit sei eine vergleichende Beurteilung nicht möglich, da es beim Einsatz von Ranibizumab an praktischen Erfahrungen fehle;
bei Avastin (Bevacizumab), dass dieses nicht zur Behandlung der feuchten AMD zugelassen sei und weltweit seit 2006 häufig und mit guten Behandlungsergebnissen eingesetzt werde. Es sei kein teures Medikament (zu erwartende durchschnittliche jährliche Medikamentenkosten mindestens 650,- EUR), so dass auch die gesetzlichen Krankenkassen in der Vergangenheit in der Regel die Behandlungskosten ohne Rücksicht auf die fehlende Zulassung übernommen hätten.
Das Formular endet mit einer von dem Patienten zu unterschreibenden Erklärung, nach der er schriftlich und mündlich über die verschiedenen therapeutischen Möglichkeiten aufgeklärt worden sei. Für den Fall, dass sich der Patient für die Behandlung mit Avastin entscheide, sei er darüber aufgeklärt worden, dass es sich dabei um ein für diese Behandlung nicht zugelassenes Medikament handele. Die Einverständniserklärung des Patienten zur Therapie und den damit verbundenen Operationen enthält einen von ihm mit der gewählten Therapie ausfüllenden Leerraum.
Die Klägerin hat am 13.07.2007 Klage erhoben.
Sie trägt vor, der Vertrag verletze sie zivilrechtlich, wettbewerbsrechtlich und kartellrechtlich in ihrem Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb. Der von den Krankenkassen pauschal zu erstattende Betrag von 450,- EUR für jede Injektion decke sowohl das ärztliche Honorar als auch die Arzneimittelkosten ab. Allein die Kosten für Lucentis beliefen sich jedoch auf 1.523,26 EUR je Durchstechflasche. Sie seien damit nicht einmal zu einem Drittel gedeckt; eine weitergehende Leistung und damit eine vollständige Erstattung schließe der Vertrag ausdrücklich aus. Der behandelnde Arzt erleide daher bei jeder Anwendung von Lucentis (auch von Macugen) erhebliche finanzielle Nachteile und müsse auf ein Honorar für seine ärztliche Leistung verzichten, während beim Einsatz von Avastin sowohl Arzneimittel als auch ärztliche Leistung vergütet würden. Die Leistungskomplexpauschale beeinträchtige daher die Therapiefreiheit der Ärzte und verkürze rechtswidrig die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen. Im Ergebnis werde die Verordnung von Lucentis de facto ausgeschlossen und boykottiert.
Die nach dem Vertrag letztlich allein in Betracht kommende Therapie mit Avastin sei in mehrfacher Hinsicht unzulässig. Der Off-Label-Use setze nach der Rechtsprechung eine Versorgungslücke voraus. Eine solche bestehe jedoch nicht, da mit Lucentis ein für die Behandlung der feuchten AMD anerkanntes und zugelassenes Arzneimittel existiere, das zudem überragend wirksam sei. Demgegenüber sei Avastin nicht für diese Behandlung zugelassen und stelle insoweit keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung dar. Im Übrigen bestehe auch keine aufgrund der Datenlage begründete Aussicht, dass mit Avastin ein Behandlungserfolg für die Therapie der feuchten AMD erzielt werde, da weder eine Erweiterung der Zulassung von Avastin beantragt noch eine klinische Prüfung der Phase III erfolgt bzw. Erkenntnisse veröffentlicht worden seien, die zuverlässige, wissenschaftliche Aussagen über die Qualität und Wirksamkeit von Avastin zuließen. Darüber hinaus beruhe der in dem Vertrag vorgenommene Kostenvergleich darauf, dass bei Einsatz von Avastin eine zulassungswidrige - gegen Sterilitätsgrundsätze verstoßende - Verwendung der Durchstechflasche für mehrere Behandlungen zugrunde gelegt werde. Demzufolge führe der Vertrag bei hunderten von Patienten zu unvertretbaren Gesundheitsrisiken und bei den behandelnden Ärzten zu Haftungs- und Strafbarkeitsrisiken. Insofern seien die Patientenaufklärung und die vorgegebene Einwilligungserklärung bewusst unzureichend.
Der Pauschalbetrag von 450,- EUR könne schließlich auch nicht als "Mischkalkulation" unter dem Gesichtspunkt gerechtfertigt werden, dass es sich bei der intravitrealen operativen Medikamenteneinbringung (IVOM) um eine neue Untersuchungs- oder Behandlungsmethode im Sinne des § 135 Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) handele. Es werde lediglich das Arzneimittel verabreicht, weitere Behandlungsmaßnahmen seien nicht erforderlich, die therapeutische Wirkung werde allein durch das Arzneimittel erzielt. Selbst wenn § 135 SGB V Anwendung finden sollte, wäre es unzulässig, der Behandlung mit dem zugelassenen Lucentis eine Off-Label-Therapie mit Avastin an die Seite zu stellen. Daher könne auch eine im Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) etwa fehlende Gebührenordnungsposition für die ärztliche Leistung nicht den Ausschluss des Leistungsanspruchs der Versicherten auf eine Behandlung mit dem zugelassenen Arzneimittel Lucentis rechtfertigen.
Die Klägerin beantragt,
den Beklagten zu untersagen, den zwischen ihnen geschlossenen "Ver- trag zur Behandlung der feuchten Maculadegeneration mittels intravitrea- ler Eingabe von VEGF-Hemmern" vom 3. Mai 2007 durchzuführen und/oder zu vollziehen, insbesondere Vertragsärzten den Beitritt zu dem Vertrag und/oder Versicherten die Teilnahme an diesem zu ermöglichen
und/oder (Beklagte zu 3 bis 5)
Versicherte über vermeintliche Vorteile einer Versorgung nach dem Ver- trag zu informieren und/oder auf deren Teilnahme an einer solchen Ver- sorgung hinzuwirken
und/oder (Beklagte zu 3 bis 5)
Behandlungen der feuchten Maculadegeneration mit dem Arzneimittel Avastin gemäß dem Vertrag abzurechnen und/oder zu bezahlen.
Die Beklagten beantragen,
die Klage abzuweisen.
Der streitige Vertrag regele die Behandlung der AMD durch das Verfahren der sog. IVOM. Es gehe deshalb nicht um die Verordnung eines Medikamentes oder den isolierten Off-Label-Use eines Arzneimittels, sondern um die therapeutische Behandlungsmethode IVOM. Für dieses neue Behandlungsverfahren bestehe keine Zulassung für die ambulante vertragsärztliche Versorgung. Ange sichts der alternativlosen Behandlungsmöglichkeiten der AMD mit IVOM liege insofern ein Systemversagen vor. Diesem Zustand hätten die meisten Krankenkassen Rechnung getragen und ab Anfang 2006 die Behandlungskosten der IVOM mit Avastin im Wege der Kostenerstattung übernommen. Der nachfolgend geschlossene Vertrag diene dem Interesse einer patientenfreundlichen, einfachen, leicht praktikablen und standardmäßigen Abwicklung der Erstattung der IVOM. Durch die arzneimittelrechtliche Zulassung von Lucentis im Januar 2007 habe sich an der fehlenden Anerkennung der Behandlungsmethode der IVOM im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung nichts geändert. Der Vertrag ermögliche die Anwendung der drei in Betracht kommenden Arzneimittel und regele gleichzeitig die Vergütung aller vertraglichen Leistungen. Er ermögliche darüber hinaus, Avastin und Lucentis wegen der identischen Wirkprinzipien in wissenschaftlichen Studien zu vergleichen; die Therapiefreiheit verbleibe dabei dem behandelnden Arzt. Der pauschalen Vergütungshöhe liege wegen der Kostenunterschiede zwischen Avastin und Lucentis eine Mischkalkulation auf der Grundlage der tatsächlich bei Vertragsschluss gegebenen Versorgungssituation in Nordrhein zugrunde. Darüber hinaus sei eine Anpassung der Vergütung für den Fall vereinbart worden, dass sich das Verhältnis des Einsatzes von Lucentis zu Avastin ändere.
Der Marktzugang der Klägerin für ihr Medikament Lucentis werde durch den streitigen Vertrag weder durch die an ihm teilnehmenden noch durch die an ihm nicht teilnehmenden Ärzte und Patienten beschränkt. Die vor der Zulassung von Lucentis bereits bestehende alternative Therapie, die sich als Standardtherapie durchgesetzt habe, bleibe einsetzbar. Auch die Leistungspflicht der beklagten Krankenkassen könne durch den Vertrag weder eingeschränkt noch beschnitten werden. Jeder deutsche Augenarzt könne jederzeit Lucentis auf Kassenrezept verordnen. Die Verordnungskosten würden durch die beklagten Krankenkassen getragen. Der Vertrag regele die nach Qualitätskriterien durchzuführen de Therapie der IVOM mit allen von den Ärzten dabei genutzten Behandlungsalternativen. Entschlössen sich Ärzte, dem Vertrag beizutreten, erhielten sie für die gesamte Therapie eine Vergütungspauschale. Patienten seien hinsichtlich der ärztlichen Behandlung dann nicht mehr auf die Selbstleistung oder die Kostenerstattung angewiesen.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der Akte S 2 KA 104/07 ER Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Gründe
Die als Leistungsklage zulässige Unterlassungsklage ist unbegründet.
Materiellrechtliche Anspruchsgrundlage für das Begehren der Klägerin ist ein auf § 1004 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), § 8 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes gegen unlauteren Wettbewerb (UWG), §§ 3, 3a Heilmittelwerbegesetz (HWG) und §§ 19, 20, 21 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) beruhender Abwehranspruch. Die Klägerin sieht sich in ihrem Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb verletzt, weil durch den streitgegenständlichen Vertrag ihr Recht auf Teilhabe am Wettbewerb und auf fairen Wettbewerb verletzt sei. Hiermit dringt sie indes nicht durch.
Der beanstandete Vertrag ist zwischen zwei Verbänden operierender Augenärzte und drei Krankenkassen geschlossen worden. Er regelt nicht den Umfang und Inhalt der speziellen Behandlung der feuchten AMD in Bezug auf sämtliche Versicherten dieser Krankenkassen. Anspruch auf die Leistungen nach diesem Vertrag haben vielmehr ausschließlich Versicherte der Krankenkassen, die ihre freiwillige Teilnahme an der Versorgung nach diesem Vertrag schriftlich erklärt haben (§ 3 Nr. 1 des Vertrages).
Das bedeutet zunächst, dass die Verordnung von Lucentis außerhalb des Vertrages sowohl durch die dem Vertrag beigetretenen Augenärzte (§ 2 des Vertrages) als auch durch alle anderen niedergelassenen Augenärzte zu Lasten der drei vertragsschließenden Krankenkassen nicht ausgeschlossen ist. Die Verordnungskosten für Lucentis werden dann gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 SGB V von den Krankenkassen in voller Höhe getragen, jeweils abzüglich der vom Versicherten zu leistenden Zuzahlung und der Abschläge nach den §§ 130, 130a SGB V und dem Gesetz zur Einführung von Abschlägen der pharmazeutischen Großhändler. Insofern wird die Leistungspflicht der beklagten Krankenkassen durch den Vertrag nicht beschränkt.
Auch innerhalb des Vertrages ist die Verwendung von Lucentis rechtlich nicht ausgeschlossen. Der Vertrag gewährt die volle Therapiefreiheit der Ärzte und damit ihre Entscheidungsfreiheit zur Behandlung mit Lucentis, Macugen oder Avastin ohne wettbewerbsrechtlich zu beanstandenden Druck oder ähnliche Einflüsse. Der als Anlage 1a zum Vertrag verwendete Vordruck weist wahrheitsgemäß darauf hin, dass es sich bei Bevacizumab um ein für diese Behandlung nicht zugelassenes Medikament handelt. Die Einverständniserklärung des Patienten zur Therapie und den damit verbundenen Operationen enthält keine vorgedruckte Therapie mit einem bestimmten Präparat oder Wirkstoff, sondern einen individuell auszufüllenden Leerraum. Damit haben Arzt und Patient die Entscheidungsfreiheit für eines der drei Präparate.
Allerdings verfolgt der Vertrag in wirtschaftlicher Hinsicht das Anliegen, die Willensbildung von Arzt und Patient zu steuern. Die Höhe der Pauschale von 450,- EUR für Arzthonorar und Arzneikosten reicht bei isolierter Betrachtung nicht einmal für ein Drittel der Kosten für eine Injektion mit Lucentis (1.523,26 EUR); ein Arzthonorar wird dabei gar nicht gewährt. Bei einer Mischkalkulation, wie sie die Beklagten anstellen, müsste durchschnittlich etwa neun Mal ausgeeinzeltes Avastin zur Anwendung gelangen, um Raum für eine Anwendung von Lucentis zu gewinnen, damit im Ergebnis sämtliche Sachkosten bestritten und die ärztlichen Leistungen angemessen honoriert werden. Ziel des Vertrages ist damit in wirtschaftlicher Hinsicht - allein darum geht es in diesem Rechtsstreit - der verstärkte Einsatz von Avastin. Deshalb werden nicht nur die Versicherten in dem Formularbogen "Aufklärung und Einverständniserklärung" individuell ausdrücklich auf die jeweils bei den einzelnen Präparaten anfallenden Kosten hingewiesen, auch die Öffentlichkeitsarbeit ist entsprechend ausgerichtet. Nach § 13 des Vertrages informieren die Krankenkassen und die teilnehmenden Leistungserbringer ihre Patienten über die Vorteile der Versorgung nach diesem Vertrag und wirken bei ihren versicherten Patienten bei entsprechender Indikation auf die Teilnahme an der Versorgung hin.
Soweit die Klägerin durch diesen beabsichtigten Effekt des Vertrages ihre Wettbewerbschancen bei der Vermarktung ihres arzneimittelrechtlich für die Behandlung der feuchten AMD zugelassenen Produktes Lucentis durch die Institutionalisierung eines Off-Label-Use des hierfür nicht zugelassenen Avastin in rechtswidriger Weise geschmälert sieht, tritt die Kammer dem nicht bei.
Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hat in seinem Beschluss vom 11.02.2008 - L 11 (10) B 17/07 KA ER - im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die Frage aufgeworfen, inwieweit die von der Klägerin in Bezug genommene Rechtsprechung zum Off-Label-Use überhaupt zur Anwendung gelangen könne. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundessozialgerichts seien Kosten eines Off-Label-Use von Arzneimitteln unter bestimmten Voraussetzungen von den Krankenkassen zu erstatten. Diese Entscheidungen beträfen ausschließlich die rechtlichen Beziehungen zwischen Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung und ihren Krankenkassen im Einzelfall nach dem SGB V unter Konkretisierung des Sachleistungs- oder Kostenerstattungsanspruchs gemäß § 13 Abs. 3 SGB V. Dass daraus gleichzeitig ein Abwehranspruch eines Pharmaunternehmens gegen die Übernahme der Kosten eines Off-Label-Use durch die Krankenkassen oder gegen die Verordnung bzw. Applikation eines Medikaments durch den Vertragsarzt resultiere, erscheine fernliegend.
Selbst wenn man aus Gründen des Wettbewerbsrechts einen solchen Abwehranspruch für statthaft erachten sollte, setzte dieser jedenfalls voraus, dass die von dem Vertrag vorrangig beabsichtigte Anwendung von Avastin zur Behandlung der feuchten AMD rechtswidrig wäre. Das ist hier nicht zu erkennen.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist die Kostentragungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung grundsätzlich auf Arzneimittel im Rahmen der arzneimittelrechtlich zugelassenen Indikationsgebiete beschränkt. Fertigarzneimittel sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 2 Abs 1 Satz 1, § 12 Abs. 1 SGB V) nicht von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 27 Abs 1 Satz 2 Nrn. 1 und 3, § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V umfasst, wenn ihnen die erforderliche arzneimittelrechtliche Zulassung (§ 21 Abs. 1 des Arzneimittelgesetzes (AMG)) fehlt (vgl. zuletzt BSG, Urteil vom 27.03.2007 - B 1 KR 17/06 R - m.w.N.). Eine arzneimittelrechtliche Zulassung in diesem Sinne liegt nur vor, wenn das Arzneimittel die Zulassung gerade für dasjenige Indikationsgebiet besitzt, in dem es im konkreten Fall eingesetzt werden soll. Das zulassungspflichtige Avastin hat weder in Deutschland noch EU-weit eine Arzneimittelzulassung für das Indikationsgebiet der feuchten AMD.
Ausnahmsweise ist jedoch eine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung auch für die Anwendung von Arzneimitteln außerhalb der zugelassenen Indikation (Off-Label-Use) in den Fällen anerkannt, in denen einerseits ein unabweisbarer und anders nicht zu befriedigender Bedarf an der Arzneitherapie besteht und andererseits die therapeutische Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Behandlung hinreichend belegt sind. Die Verordnung eines Medikaments in einem von der Zulassung nicht umfassten Anwendungsgebiet kommt dabei wegen des Vorrangs des Arzneimittelrechts nur in Betracht, wenn es (1) um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn (2) keine andere Therapie verfügbar ist und wenn (3) aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann (grundlegend: BSG, Urteil vom 19.03.2002 - B 1 KR 37/00 R -).
Vor der Zulassung von Lucentis lagen diese Voraussetzungen für die Verwendung von Avastin vor, weil es sich bei der feuchten AMD um eine schwerwiegende, bis zur Blindheit führende und damit die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung handelt. Es bestand aufgrund der Datenlage auch die begründete Aussicht, dass mit Avastin Behandlungserfolge erzielt werden konnte. Nach unbestrittenen Angaben der Beklagten ist dieses Präparat in Deutschland im Jahre 2006 über 25.000-mal und im Jahre 2007 über 30.000-mal (weltweit mehrere 100.000-mal) erfolgreich eingesetzt worden, ohne dass im Übrigen Haftungsfälle bekannt geworden sind, die Zweifel an der Arzneimittelsicherheit von Avastin bei der Therapie der feuchten AMD begründen. Auch das Bundesversicherungsamt als zuständige Aufsichtsbehörde hat schließlich keine Veranlassung zur Beanstandung gesehen, dass die Krankenkassen die Kosten für die Behandlung mit Avastin übernehmen.
Die Zulassung von Lucentis im Januar 2007 ändert nach Ansicht der Kammer an der Statthaftigkeit des Off-Label-Use von Avastin nichts. Zwar ist nunmehr eine spezifisch für die Behandlung der feuchten AMD zugelassene Arzneimitteltherapie verfügbar. Gleichwohl besteht vor dem Hintergrund beschränkter finanzieller Ressourcen der gesetzlichen Krankenversicherung unverändert ein Bedürfnis nach dem Einsatz von Avastin. Nach Angaben von Experten ist die feuchte AMD in Deutschland die häufigste Erblindungsursache im Alter. Der Hersteller O rechne mit jährlich rund 25.000 zu behandelnden Patienten. Realistischere Schätzungen beliefen sich auf über 400.000, die grundsätzlich für die Therapie in Frage kämen. In diesem Falle drohten zusätzliche Kosten von bis zu sieben Milliarden Euro jährlich. Zum Vergleich: die gesetzlichen Krankenkassen gäben im Jahr derzeit rund 25 Milliarden Euro für alle Arzneimittel aus (Arzneiverordnungsreport 2007).
Der in dem streitbefangenen Vertrag vorrangig angestrebte Einsatz von Avastin ist daher ein legitimes Anliegen der Vertragspartner, das von der Rechtsordnung gestützt wird. Die Erhaltung der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung ist ein Gemeinwohlbelang von hohem Rang (BVerfGE 68, 193, 218; 82, 201, 230; 103, 172, 185; BVerfG DVGl. 1991, 205; NJW 1992, 735 f.; NJW 1998, 1776 f.; NJW 1999, 2730 f.; NJW 2000, 1781 f: NJW 2000, 3413; NJW 2001, 883 f.; BSG, Urteil vom 09.12.2004 - B 6 KA 44/03 R -; aus der Literatur z.B. Joachim Burmeister, Grundrechtsverständnis, S. 21 ff, 97 ff.; Ernst Rudolf Huber, Rechtsstaat, S. 589, 610 f.; Jörg Müller-Vollbehr, ZRP 1984, S. 262, 266; Werner Weber, Der Staat 4 (1965), S. 409, 416; Michael Quaas/Rüdiger Zuck, Medizinrecht, § 81 Rn. 17; Hans-Jürgen Papier, Sozialrechtshandbuch, § 3 Rn. 77; Stephan Rixen, Sozialrecht, S. 309). Dabei ist es ein besonderes Anliegen des Gesetzgebers, die Arzneimittelausgaben zu steuern.
Insofern findet der Wille des Gesetzgebers besonderen Ausdruck in der zum 08.11.2006 in Kraft getretenen Bestimmung des § 35b Abs. 3 SGB V. Danach beruft das Bundesministerium für Gesundheit Expertengruppen beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) für die Abgabe von Bewertungen zum Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis über die Anwendung von zugelassenen Arzneimitteln für Indikationen und Indikationsbereiche, für die sie nach dem AMG nicht zugelassen sind. Die Bewertungen werden dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) als Empfehlung zur Beschlussfassung nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 (gemeint: Arzneimittelrichtlinien) zugeleitet.
In diesem zweistufig ausgestalteten Verfahren stellt zunächst die Expertengruppe fest, ob eine bestimmte Anwendung dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis entspricht. Die Expertengruppe kann und soll dabei nicht zugelassene Anwendungsbereiche von Arzneimitteln auch dann bewerten, wenn bereits eine Standardtherapie zur Behandlung der Indikation vorhanden ist. Der Gesetzgeber hat somit die Voraussetzungen für eine entsprechende fachliche Bewertung ausdrücklich nur auf die Feststellung zum Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis ausgerichtet, nicht jedoch darauf, ob bereits ein anderes für die entsprechende Indikation zugelassenes Arzneimittel verfügbar ist. Die Rechtsprechung zum Off-Label-Use für die Leistungsgewährung im Einzelfall gilt für die Bewertung der Expertengruppe insoweit nicht. Kommt die Expertengruppe zu dem Ergebnis, dass die Anwendung dem anerkannten Stand der Wissenschaft entspricht, regelt der G-BA im Rahmen der Arzneimittelrichtlinien das Nähere zur Verordnungsfähigkeit zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung. Hierbei berücksichtigt der G-BA auch die Vorgaben des § 12 Abs. 1 SGB V (Wirtschaftlichkeitsgebot), nach der die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein müssen und das Maß des Notwendigen nicht überschreiten dürfen. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen. Hat der G-BA danach eine Regelung in den Arzneimittelrichtlinien getroffen, erfolgt die Verordnung des Arztes im Rahmen der Richtlinien als Sachleistung, so dass kein Antrag auf Kostenerstattung notwendig ist.
Zu einer solchen Bewertung der Expertengruppe wird es vorliegend allerdings kaum kommen. Denn eine entsprechende Bewertung soll gemäß § 35b Abs. 3 Satz 3 SGB V nur mit Zustimmung des pharmazeutischen Herstellers erstellt werden. Die Fa. S als Herstellerin von Avastin lehnt jedoch den Einsatz dieses Arzneimittels für die Therapie der feuchten AMD ausdrücklich ab und dürfte eine Zustimmung daher nicht erteilen.
Dem Willen des Gesetzgebers ist gleichwohl mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen, dass das in Deutschland geltende Recht der freien Preisbildung für neue Arzneimittel nicht zwangsläufig dazu führen muss, dass die leistungspflichtigen Krankenkassen stets die Kosten nur für solche Arzneimittel zu tragen haben, die im Rahmen ihrer arzneimittelrechtlich zugelassenen Indikation eingesetzt werden. Vielmehr sieht es der Gesetzgeber grundsätzlich als zulässig an, zur Erschließung von Wirtschaftlichkeitsreserven der gesetzlichen Krankenversicherung alternative Präparate auch außerhalb ihrer arzneimittelrechtlichen Indikationsbereiche - und damit im Off-Label-Use - zu verwenden. Dieser Gesichtspunkt muss gerade in Fällen einer Monopolposition besondere Bedeutung entfalten. Eine Quasi-Monopolposition liegt hier vor, da das Präparat Macugen der Fa. Q Pharma GmbH auf dem Markt nur eine untergeordnete Rolle spielt.
Vor diesem Hintergrund sieht die Kammer keine rechtlichen Bedenken gegen den streitbefangenen Vertrag, die zu Unterlassungsansprüchen der Klägerin führen könnten. Die Entscheidung über den Leistungsanspruch der IVOM ist eine Einzelfallentscheidung, die aufgrund eines Kostenübernahmeantrages des Versicherten durch die Krankenkasse getroffen wird. Für diese Leistungsentscheidung gelten verallgemeinerungsfähige Voraussetzungen insbesondere zu der Feststellung, ob die Anwendung von Avastin zur Behandlung der feuchten AMD dem Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht. Hieraus ergibt sich für die Krankenkassen eine Verpflichtung zu einer den Grundsätzen der Gleich behandlung (Art. 3 Abs. 1 GG) entsprechenden Verwaltungspraxis.
Die Vertragspartner gehen insofern davon aus, dass Avastin im Verhältnis zu Lucentis bei der Behandlung der feuchten AMD vergleichbar in Wirksamkeit und Risiko ist. Diese Einschätzung stützt sich auf Beobachtungen aus der Zeit vor der Zulassung von Lucentis und wird wissenschaftlich von einem breiten Konsens getragen. Nach Ansicht der Kammer hat die Klägerin diese Bewertung der Leistungserbringer und Kostenträger solange hinzunehmen, wie keine gegenteiligen Erkenntnisse bekannt geworden sind. Aufschlussreich dürfte insofern eine vom Kompetenzzentrum für Klinische Studien Bremen am Klinikum Bremen-Mitte finanzierte und unter Leitung von N auf etwa zwei Jahre prospektiv angelegte, randomisierte, doppelverblindete Vergleichsstudie zu Avastin und Lucentis (VIBERA, Prevention of Vision Loss in Patients with AMD by Intravitreal Injection of Bevacizumab and Ranibizumab) sein, die gegenwärtig angelaufen ist. In dieser unabhängigen wissenschaftlichen Headto-Head-Studie ohne Unterstützung der Herstellerfirmen soll die Gleichwertigkeit der beiden Substanzen bzw. die Nichtunterlegenheit von Bevacizumab geprüft werden. Erst wenn diese Studie - ggf. auch die weltweit anderen drei Vergleichsstudien in den USA (CATT), Großbritannien (IVAN) und Österreich - wissenschaftlich konsentiert ergeben sollten, dass Bevacizumab für die Behandlung der feuchten AMD auszuscheiden hat, kann Raum für wettbewerbsrechtliche Unterlassungsansprüche der Klägerin sein.
Soweit die Klägerin in diesem Zusammenhang bei den Patienten zu befürchtende unvertretbare Gesundheitsrisiken und bei den behandelnden Ärzten Haftungs- und Strafbarkeitsrisiken durch die Behandlung mit Avastin anführt, nimmt sie im Sinne einer Popularklage die Rolle einer Sachwalterin fremder Interessen ein. Auch im Wettbewerbsrecht ist sie jedoch auf die Wahrnehmung eigener Rechts beschränkt und kann die möglicherweise drohende Verletzung von Rechten Dritter nicht geltend machen.
Im Ergebnis wird mit dem vorliegenden Vertrag in nicht zu beanstandender Weise für alle Beteiligten Rechtssicherheit hergestellt: Der dem Vertrag beigetretene Arzt erhält für die gesamte Therapie eine Vergütungspauschale einschließlich Honorar, der Patient ist hinsichtlich der Kosten für die ärztliche Behandlung und die Arzneimittel nicht mehr auf Selbstleistung oder Kostenerstattung angewiesen.
Die Klage war daher abzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in Verbindung mit §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
SG Düsseldorf:
Urteil v. 02.07.2008
Az: S 2 KA 181/07
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