Bundesgerichtshof:
Urteil vom 1. Dezember 2015
Aktenzeichen: X ZR 133/13
(BGH: Urteil v. 01.12.2015, Az.: X ZR 133/13)
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 25. Juni 2013 verkündete Urteil des 3. Senats (Nichtigkeitssenats) des Bundespatentgerichts abgeändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Die Beklagte ist Inhaberin des am 28. März 1988 unter Inanspruchnahme einer deutschen Priorität vom 2. April 1987 angemeldeten und mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 285 075 (Streitpatents), das ein Verfahren zum selbsttätigen Beschichten von Werkstücken betrifft. Das Streitpatent ist durch Zeitablauf erloschen. Es umfasst sechs Patentansprüche, die sämtlich angegriffen sind. Patentanspruch 1 lautet:
"Verfahren zum selbsttätigen Beschichten von Werkstücken, die von einer Fördereinrichtung einer relativ zu der Fördereinrichtung unter Steuerung durch ein gespeichertes Bearbeitungsprogramm bewegbaren Sprühvorrichtung, insbesondere einem Lackierroboter od. dgl., zugeführt werden, wobei die Möglichkeit besteht, dass die Beschichtung und die Bewegungen vor Beendigung des Bearbeitungsprogramms notfalls oder unprogrammgemäß unterbrochen werden, dadurch gekennzeichnet, dass bei der vorzeitigen Bewegungsunterbrechung der aktuelle Status des Bearbeitungsprogramms gespeichert wird und die örtlichen Positionen der Sprühvorrichtung und der Fördereinrichtung zur Zeit der Beschichtungsunterbrechung sowie nach Beendigung der Bewegungen festgestellt werden, dass die Sprühvorrichtung und/oder die Fördereinrichtung auf einer aufgrund der festgestellten örtlichen Positionen selbsttätig ermittelten Bewegungsbahn in die vorherige Position relativ zueinander bewegt werden, in der sie sich bei Unterbrechung der Beschichtung befunden hatten, und dass dann das Bearbeitungsprogramm von der unterbrochenen Stelle an ausgeführt wird."
Die Patentansprüche 2 bis 6 sind auf Anspruch 1 unmittelbar oder mittelbar rückbezogen.
Die Klägerin hat mangelnde Patentfähigkeit geltend gemacht. Der Gegenstand der Patentansprüche 1, 5 und 6 sei zudem nicht ausführbar offenbart. Die Beklagte hat das Streitpatent in der erteilten und hilfsweise mit geänderten Anspruchsfassungen verteidigt.
Das Patentgericht hat das Streitpatent in vollem Umfang für nichtig erklärt. Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten, mit der sie in erster Linie die Abweisung der Klage erstrebt; hilfsweise verteidigt sie das Patent mit geänderten Anspruchsfassungen. Die Klägerin tritt dem Rechtsmittel entgegen und verteidigt das angefochtene Urteil.
Gründe
Die Berufung hat Erfolg und führt zur Abweisung der Klage.
I. Das Streitpatent betrifft ein Verfahren zum selbsttätigen Beschichten von Werkstücken.
1. Nach den Ausführungen in der Patentbeschreibung werden bei solchen Verfahren serienweise zu beschichtende Werkstücke, wie z.B. Rohkarossen von Kraftfahrzeugen, von einer Fördereinrichtung einer Sprühvorrichtung zugeführt, die relativ zu der Fördereinrichtung bewegbar ist und durch ein gespeichertes Bearbeitungsprogramm gesteuert wird. Die Werkstücke würden dabei von Boden- oder Hängefördereinrichtungen durch eine Sprühkabine geführt. Dort befinde sich ein Lackierroboter, der durch ein gespeichertes Bearbeitungs- und Bewegungsprogramm gesteuert werde. Das Bewegungsprogramm könne durch eine Teach-In-Methode erstellt werden, bei der die Sprühvorrichtung nacheinander eine Vielzahl von zuvor festgelegten Farbauftreffpunkten der Karosse abfahre, während die Werkstücke in einer kontinuierlichen Bewegung durch die Sprühkabine befördert würden. Die Sprühvorrichtung werde dabei nicht nur relativ zum Werkstück, sondern auch parallel zur Bewegung der Fördereinrichtung bewegt.
Trete bei einem solchen Beschichtungsverfahren eine Störung auf, z.B. durch Stromausfall oder durch Betätigung eines Not-Aus-Schalters, werde die programmgemäße Beschichtung unterbrochen. Die Fördereinrichtung und die Sprühvorrichtung kämen zum Stillstand. Bei den im Stand der Technik bekannten Vorrichtungen sei es nicht möglich, nach Beseitigung der Ursache der Unterbrechung den Beschichtungsvorgang einfach fortzusetzen, weil sowohl die Fördereinrichtung als auch der Lackierroboter nach dem Abschalten aufgrund ihrer Eigenträgheit in undefinierten Positionen stehenblieben. Auch eine Repositionierung der Sprühvorrichtung von Hand habe eine ordnungsgemäße Beschichtung nicht ermöglicht, da der zuletzt angefahrene genaue Farbauftreffpunkt nicht bekannt gewesen sei. Die Werkstücke, deren Beschichtung unterbrochen worden sei, hätten demnach als Ausschuss behandelt werden müssen.
2. Vor diesem Hintergrund betrifft das Streitpatent das technische Problem, ein Verfahren anzugeben, das es ermöglicht, bei unplanmäßigen Unterbrechungen des Beschichtungsbetriebs das abgebrochene Bearbeitungsprogramm an der Unterbrechungsstelle fortzusetzen und das teilweise beschichtete Werkstück selbsttätig fertigzustellen.
3. Zur Lösung dieses Problems schlägt das Streitpatent ein Verfahren zum selbsttätigen Beschichten von Werkstücken [1] mit folgenden Merkmalen vor (Merkmalsbezeichnung des Patentgerichts in eckigen Klammern):
1. Es ist eine Fördereinrichtung für Werkstücke vorgesehen [2.1].
2. Die Werkstücke werden von der Fördereinrichtung einer Sprühvorrichtung, insbesondere einem Lackierroboter oder dergleichen, zugeführt [2.2, 2.2.1].
3. Die Sprühvorrichtung 3.1 ist relativ zu der Fördereinrichtung bewegbar [3.1] und 3.2 wird dabei durch ein gespeichertes Bearbeitungsprogramm gesteuert [3.2].
4. Die Beschichtung und die Bewegungen können vor Beendigung des Bearbeitungsprogramms im Notfall oder (sonst) unprogrammgemäß unterbrochen werden [4].
5. Bei der vorzeitigen Bewegungsunterbrechung werden 5.1 der aktuelle Status des Bearbeitungsprogramms gespeichert [5.1], 5.2 die örtlichen Positionen der Sprühvorrichtung und der Fördereinrichtung zur Zeit der Beschichtungsunterbrechung festgestellt [5.2.] und 5.3 die örtlichen Positionen der Sprühvorrichtung und der Fördereinrichtung nach Beendigung der Bewegungen festgestellt [5.3].
6. Die Sprühvorrichtung und/oder die Fördereinrichtung werden in die Position, in der sie sich bei Unterbrechung der Beschichtung befunden hatten, relativ zueinander bewegt [~ 6].
7. Die Relativbewegung erfolgt auf einer aufgrund der festgestellten örtlichen Positionen selbsttätig ermittelten Bewegungsbahn [~ 6.1].
8. Das Bearbeitungsprogramm wird von der Unterbrechungsstelle ("unterbrochenen Stelle") an (wieder) ausgeführt [6.2].
4. Das Patentgericht hat zum Verständnis dieser technischen Lehre ausgeführt: Der Fachmann, ein Ingenieur der Fachrichtung Maschinenbau oder der Elektrotechnik mit Hochschuldiplom, der aufgrund mehrjähriger Berufserfahrung über spezialisierte Kenntnisse der Fertigungsautomatisierung bzw. der Steuerungstechnik mit den erforderlichen Programmierfertigkeiten verfüge und insbesondere auch auf das in der Lackapplikationstechnologie relevante Materialwissen zurückgreifen könne, entnehme Patentanspruch 1 ein Verfahren, bei dem es nach einer Störung einen Beginn der Unterbrechung der Bewegungen und ein Ende der Nachlaufbewegungen gebe. Das Verfahren weise zudem einen Beginn der Unterbrechung der Beschichtung und ein Ende des Auftrags von Beschichtungsmitteln auf. Bewegungsunterbrechung und Beschichtungsunterbrechung seien jeweils als Zeitraum im Sinne eines Unterbrechungsereignisses mit einem Beginn und einem Ende zu verstehen; nach dem Wortlaut des Patentanspruchs bleibe offen, zu welchem Zeitpunkt sie erfolgten. Mit den beiden Begriffen werde nicht ausschließlich ein Beginn der Bewegungsunterbrechung beschrieben, der zeitlich vor dem Beginn der Beschichtungsunterbrechung liege. Lediglich ein Endpunkt, nämlich das Ende aller Bewegungen, auch der Nachlaufbewegungen, wenn die Anlage vollständig zum Stillstand gekommen sei, werde durch das Merkmal 5.3 definiert. Dementsprechend könne sich der Begriff "unterbrochene Stelle" in Merkmal 8 sowohl auf eine Stelle im Bearbeitungsprogramm beziehen als auch auf irgendeinen Bereich zwischen dem Not-Aus und dem Ende der Nachlaufbewegungen. Die Unterbrechungsstelle bezeichne lediglich irgendeinen Bereich, in dem der Farbauftrag nicht mehr programmgemäß erfolgt sei. Vor und nach der Unterbrechungsstelle befänden sich demzufolge programmgemäße Farbauftreffpunkte.
5. Dies hält der Nachprüfung in maßgeblichen Punkten nicht stand. Das Patentgericht hat den Sinnzusammenhang des Patentanspruchs, in dem die von ihm erörterten einzelnen Merkmale stehen, nicht hinreichend beachtet.
Das unter Schutz gestellte Verfahren zur selbsttätigen Beschichtung von Werkstücken soll bei einer nicht programmgemäßen - der Patentanspruch spricht von einer vorzeitigen - Unterbrechung von der Unterbrechungsstelle aus so fortgeführt werden können, dass die begonnene Beschichtung des Werkstücks selbsttätig fortgesetzt und ordnungsgemäß fertiggestellt werden kann.
Im Falle einer Störung wird der aktuelle Status des Bearbeitungsprogramms gespeichert (Merkmal 5.1). Das Bearbeitungsprogramm steuert sowohl die Bewegung der Fördereinrichtung, auf der sich das Werkstück befindet, als auch die Bewegung der Sprühvorrichtung und die Abgabe des Beschichtungsmittels, die durch die Sprühvorrichtung erfolgt, und bestimmt schließlich auch die relativen Positionen, die die Fördereinrichtung und die Sprühvorrichtung zueinander einnehmen (3.1, 3.2). Weiter werden die örtlichen Positionen der Sprühvorrichtung und der Fördereinrichtung zur Zeit der Beschichtungsunterbrechung (5.2) festgestellt. Dabei handelt es sich um den Zeitpunkt, in dem die Abgabe von Beschichtungsmaterial an das Werkstück wegen der Unterbrechung endet. In der Patentbeschreibung ist hierzu ausgeführt, dass bei einem unplanmäßigen Abschalten der Anlage der Sprühvorgang in der Regel nahezu sofort (Sp. 2, Z. 21 bis 25), d.h. ohne nennenswerten Nachlauf des Beschichtungsmaterials, unterbrochen wird. Entgegen der Auffassung des Patentgerichts handelt es sich bei der im Patentanspruch angegebenen "Zeit der Beschichtungsunterbrechung" um einen Zeitpunkt und nicht um einen Zeitraum.
Andernfalls könnten die genauen örtlichen Positionen der Sprühvorrichtung und der Fördereinrichtung, deren Festlegung nach Patentanspruch 1 Voraussetzung für eine exakte Repositionierung ist, nicht festgestellt werden. Das Gleiche gilt für die Unterbrechung der Bewegung, die ebenfalls als Zeitpunkt, der von dem Bearbeitungsprogramm erfasst werden kann, anzusehen ist. Schließlich werden die örtlichen Positionen der Sprühvorrichtung und der Fördereinrichtung nach Beendigung der Bewegungen festgestellt (5.3). Die Beendigung der Bewegungen der Sprühvorrichtung und der Fördereinrichtung tritt nach der Unterbrechung des Bearbeitungsprogramms ein. Der Förderer und der längs der Förderbahn bewegte Lackierroboter werden zwar sofort abgebremst, setzen aber ihre Bewegungen aufgrund ihrer eigenen Trägheit fort, bis sie an irgendwelchen nicht genau vorherbestimmbaren Positionen stehen bleiben (Sp. 2, Z. 25 bis 30); ebenso vergeht ein gewisser - wenn auch sehr kurzer - Zeitraum bis zur Schließung des Sprühventils und damit der Unterbrechung der Beschichtung. Die Durchführung des Verfahrensschrittes nach Merkmal 5.3 bildet die Grundlage für die Fortsetzung des Beschichtungsverfahrens von der Stelle der Unterbrechung an nach den Merkmalen 6, 7 und 8. Die in Merkmal 6 angesprochene Repositionierungsbewegung von Sprühvorrichtung und Fördereinrichtung muss in einer Position enden, die mit der Position der Beschichtungsunterbrechung übereinstimmt oder zumindest in deren - definierter - Nähe liegt. Nur dann ist gewährleistet, dass das Bearbeitungsprogramm "an der Unterbrechungsstelle" (Sp. 1, Z. 55) nahtlos fortgesetzt werden kann.
Aus Merkmal 8 lässt sich dabei, wie das Patentgericht zutreffend ausgeführt hat, nicht entnehmen, dass Patentanspruch 1 (zwingend) zwischen der Fortsetzung des Bearbeitungsprogramms und der Wiederaufnahme der Beschichtung unterscheidet. Nach dem in Patentanspruch 1 offenbarten Verfahren werden Werkstücke einer Sprühvorrichtung zugeführt, die durch ein gespeichertes Bearbeitungsprogramm bewegbar ist. Der Fachmann entnimmt diesen Angaben, dass das Bearbeitungsprogramm sowohl die Fördereinrichtung als auch die Sprühvorrichtung steuert. Daraus folgt, dass die Fortsetzung des Bearbeitungsprogramms auch die Fortsetzung des Sprüh- oder Beschichtungsvorgangs umfasst. Der auf eine Unterscheidung von Fortsetzung des Bearbeitungsprogramms und Wiederaufnahme der Beschichtung gestützte Vortrag der Klägerin zu einer mangelnden Ausführbarkeit der Patentansprüche 1, 5 und 6, den sie im Berufungsverfahren nicht mehr aufgegriffen hat, hat schon deshalb zu Recht nicht zum Erfolg geführt.
II. Das Patentgericht hat die Verneinung der Patentfähigkeit der erfindungsgemäßen Lehre im Wesentlichen wie folgt begründet:
Es könne dahinstehen, ob der Gegenstand des Streitpatents gegenüber der deutschen Offenlegungsschrift 26 33 695 (K3) neu sei. Jedenfalls beruhe er nicht auf erfinderischer Tätigkeit. Bei der Vorrichtung nach K3 könne das Schneidwerkzeug entlang der X- und Z-Achse eines Koordinatensystems bewegt werden: das Werkstück bewege sich entlang der Y-Achse. Die Zuführung des Werkstücks zum Schneidwerkzeug sei als Bewegung des Werkstücks entlang der Y-Achse offenbart; dies entspreche den Merkmalen 2.1 und 2.2. Bei einer Störung der Steuervorrichtung und der Bewegung des Schneidwerkzeugs werde die örtliche Position von Werkstück und Schneidwerkzeug zum Zeitpunkt der Unterbrechung festgestellt. Zwar weise die in K3 beispielhaft gezeigte Vorrichtung im Vergleich zu der Vorrichtung nach dem Streitpatent geringere Massen auf, wodurch die Trägheitskräfte eine eher untergeordnete Rolle spielten. Die Vorrichtung werde aber vom Haltepunkt zu einem beliebigen anderen Punkt bewegt, um zum Beispiel das Bearbeitungswerkzeug oder das Werkstück zu prüfen. Die Koordinaten der Bahn zwischen dem Haltepunkt und einem beliebigen anderen Punkt würden aufgezeichnet. Damit werde entsprechend Merkmal 5.3 eine örtliche Position des Werkstücks und des Schneidwerkzeugs am Ende einer manuellen Bewegung ausgehend vom Haltepunkt festgestellt. Vor dem Wiederstart werde das Schneidwerkzeug selbsttätig zum Haltepunkt zurückgeführt. Dabei könne dahinstehen, ob die vorherigen Positionen absolut oder relativ zueinander eingenommen würden; der Fachmann sei in der Lage, durch einfache Koordinatentransformation die absolute in die für ihn maßgebliche relative Position zu überführen. Anschließend würden das Bearbeitungsprogramm und damit die Bearbeitung an der Stelle fortgesetzt, an der vorher eine Unterbrechung erfolgt sei.
Die japanische Offenlegungsschrift Sho 58-180258 (K4, Übers. K4-2) offenbare ein Verfahren zur Steuerung eines Lackierroboters, der größere Werkstücke wie Autokarosserien automatisch lackiere. Die Autokarosserie werde auf ein Förderband platziert und der Lackierroboter werde in die gleiche Richtung wie das zu lackierende Werkstück bewegt. Die Oberfläche des Werkstücks werde in als Anstrichblocks bezeichnete Sektionen unterteilt, die getrennt voneinander lackiert werden könnten. Der Lackierroboter bewege sich mit der gleichen Geschwindigkeit wie das Werkstück und erfahre, wenn er sich von Anstrichblock zu Anstrichblock bewege, eine relative Verschiebung. Die in K4 beschriebene Unterbrechung beziehe sich dabei einzig auf die unplanmäßige Unterbrechung der Bewegung des Förderbandes. In diesem Fall werde die Relativposition des Lackierroboters in Bezug auf das zu lackierende Werkstück aufrechterhalten. Die Lackierarbeiten beim betreffenden Anstrichblock würden beendet und die weitere Lackierung solange unterbrochen, bis das Förderband wieder angetrieben werde.
Dem Fachmann sei aus der K4 die Verwendung von Lackierrobotern bei der selbsttätigen Beschichtung von Fahrzeugkarossen ebenso wie das Problem der unprogrammgemäßen Unterbrechung bekannt gewesen. Darüber hinaus sei dem Fachmann bewusst gewesen, dass auch der Lackierroboter selbst, ebenso wie die gesamte Beschichtungsanlage, ausfallen könne. Es entspreche der üblichen Lebenserfahrung und dem allgemeinen fachmännischen Wissen, dass sich zwei oder mehrere Objekte unterschiedlicher Masse und mit unterschiedlichen Antriebsartaggregaten, die sich auf verschiedenen Positionen im Raum in Bewegung befinden, bei einer plötzlichen Störung nach Beendigung der Bewegungen trägheitsbedingt an Positionen befänden, die nicht den Relativpositionen zu Beginn der Störung entsprächen. Das Auffinden des Problems der trägheitsbedingten Nachlaufstrecken begründe sonach keine erfinderische Tätigkeit. Aus fachmännischer Sicht sei bei einer Bewegungsunterbrechung zweier Objekte, die miteinander in einer Arbeitsverbindung stehen, die Bearbeitung an der Stelle der Unterbrechung fortzusetzen. Im Falle eines Förderbandes und eines Lackierroboters bedeute dies, dass beide Vorrichtungen in die gleichen Relativpositionen wie vor der Unterbrechung zurückgebracht werden müssten. Der Farbauftrag werde dann dort fortgesetzt, wo wegen der Unterbrechung kein Farbauftrag mehr erfolgt sei. Der Fachmann habe ohne weiteres erkannt, dass die in der K3 beschriebene manuelle Verlagerung der programmierten Bahn in ihrer Wirkung vergleichbar sei mit der Verlagerung der programmierten Bahn aufgrund von Trägheitskräften entsprechend dem Streitpatent. In beiden Fällen werde nach dem Zeitpunkt der Unterbrechung der Bearbeitung die programmierte Bahn verlassen und Werkstück und Werkzeug blieben an einer nicht vorhersehbaren Position außerhalb der programmierten Bahn stehen. Folglich übertrage der Fachmann die in der K3 beschriebenen Maßnahmen auf eine beispielsweise in der K4 beschriebene Beschichtungsanlage und gelange so ohne erfinderisches Zutun zu dem Verfahren nach dem Streitpatent.
III. Diese Beurteilung hält den Angriffen der Berufung nicht stand. Der Gegenstand des Streitpatents beruht aus der Sicht des Fachmanns, den das Patentgericht zutreffend bestimmt hat, auf erfinderischer Tätigkeit (Art. 56 EPÜ).
1. Entgegen der Auffassung des Patentgerichts legt die Entgegenhaltung K4 dem Fachmann die erfindungsgemäße Lehre nicht nahe.
a) Die japanische Schrift betrifft ein Verfahren zur Steuerung eines Lackierroboters, unter dessen Einsatz größere Werkstücke wie Autokarosserien automatisch lackiert werden sollen. Diese befinden sich, so die Beschreibung der K4, auf einem Förderband und werden durch einen in die Förderrichtung bewegten Lackierroboter beschichtet. K4 schildert das Problem, dass bei Auftreten einer Störung das Förderband angehalten werden müsse. Dadurch trete eine Trennungslinie zwischen der vor dem Stillstand und der nach Wiederinbetriebnahme lackierten Partie des Werkstücks auf, was zu einer ungleichmäßigen Lackschicht führe und eine wesentliche Verschlechterung der Lackqualität mit sich bringe. Zur Lösung des Problems sieht K4 vor, mehrere Anstrichblöcke zu bilden, die getrennt voneinander lackiert werden können. Bei einer Unterbrechung der Bewegung des Förderbandes wird der gerade bearbeitete Anstrichblock fertig lackiert. Erst danach werden die Lackierarbeiten so lange unterbrochen, bis das Förderband erneut in Betrieb genommen wird und der Lackierroboter mit der Lackierung des darauf folgenden Anstrichblocks beginnen kann. Dies bedeutet, dass die Betriebsunterbrechung nicht den Lackierroboter selbst, der weiter arbeiten kann, sondern nur das Förderband betrifft (K4-2, S. 4 unten, 5 oben; vgl. das von der Klägerin vorgelegte Gutachten D. , S. 15). Von Nachlaufbewegungen, die die Fördereinrichtung und die Sprühvorrichtung beim Streitpatent nach dem Abschalten der gesamten Anlage durchführen, ist in K4 nicht die Rede, ebenso wenig davon, dass beide Vorrichtungen in die Relativposition zueinander gebracht werden müssen, die sie zum Zeitpunkt der Unterbrechung eingenommen haben. Dadurch, dass bei einer Störung nur das Förderband und nicht der Lackierroboter abgeschaltet wird, entsteht auch nicht die im Streitpatent offenbarte Zeitverzögerung zwischen der Unterbrechung und dem Ende der Beschichtung.
b) Entgegen der Auffassung der Klägerin erhielt der Fachmann durch den Umstand, dass K4 lediglich eine Teillösung für den Fall einer Störung des Betriebs der Fördereinrichtung lehrt, hingegen keine Lösung für den Fall anbietet, dass die Arbeit des Lackierroboters unterbrochen wird, nicht die Anregung, auf dem Weg des Streitpatents eine Lösung auch für diesen Fall zu suchen. Die Schrift schildert zwar ebenso wie das Streitpatent das Problem, dass nach einer Unterbrechung der Bewegung des Förderbandes eine ungleichmäßige Lackschicht auftreten kann. Eine Unterbrechung der Beschichtung ist aber nicht vorgesehen und soll durch das Fertiglackieren des jeweiligen Anstrichblocks gerade vermieden werden. Dass die Entgegenhaltung den Fachmann damit zugleich auf ein ungelöstes Problem aufmerksam machen mag, kann nicht mit einer Anregung zu dessen Bewältigung gleichgesetzt werden. Selbst wenn der Fachmann bei Lektüre der K4 die Überlegung anstellte, auch die Bewegung des Sprühroboters könne unterbrochen werden, und er sich deswegen Gedanken über die Fortsetzung des Beschichtungsverfahrens bei Unterbrechung auch des Lackiervorgangs machte, bietet K4 hierfür keinen Lösungsansatz.
2. Der Gegenstand des Streitpatents war auch durch die Entgegenhaltung K3 nicht nahegelegt.
a) K3 bezieht sich allgemein auf numerische Steuervorrichtungen, insbesondere Bahnsteuervorrichtungen, die es ermöglichen, ein Bauteil längs zweier oder mehrerer Achsen nach einem sich aus Befehlssignalen zusammensetzenden Programm zu bewegen. Solche Steuervorrichtungen können Werkzeugmaschinen steuern; eine Anwendung ist aber auch bei anderen Einrichtungen, unter anderem bei Anstrichmaschinen, möglich (K3, S. 1, 1. Absatz). Der Betrieb der Steuervorrichtung kann unterbrochen werden, z.B. um das zu steuernde Bauteil zu Prüfungszwecken bewegen zu können. Nach einer Unterbrechung muss das Bauteil zu seinem Haltepunkt auf der programmierten Bahn zurückgeführt werden, bevor die Vorrichtung erneut in Betrieb gesetzt wird, um weiter in der vorgesehenen Weise nach dem Programm zu arbeiten (K3, S. 2, 1. Absatz). Die Wiederaufnahme des normalen Betriebs wird verhindert, bis das Bauteil, das unter manueller Betätigung gegebenenfalls aus der Bahn entfernt wurde, wieder zu seinem Haltepunkt auf der Bahn zurückgeführt worden ist (K3, S. 3, 4, 2. Absatz).
b) Die Offenbarung der K3 bezieht sich nicht unmittelbar auf die im Streitpatent genannte Sprühvorrichtung. Die Schrift enthält zwar den allgemeinen Hinweis, dass die Steuervorrichtung bei einer Vielzahl von Maschinen und so auch bei Anstrichmaschinen angewandt werden kann. Der Anwendungsbereich der Erfindung wird jedoch dahingehend präzisiert, dass sie Verbesserungen bei numerischen Steuervorrichtungen für die Formgebung von Werkstücken betrifft (K3, S. 1). Die Erfindung ist ausdrücklich anhand einer Fräsmaschine dargestellt. Konkrete Ausführungen zum Betrieb der Fördereinrichtung im Zusammenwirken mit einer Anstrichmaschine oder gar einer Sprühvorrichtung enthält K3 nicht.
c) Dies schließt freilich nicht aus, dass ein Fachmann, der mit einer Fortentwicklung eines automatischen Beschichtungsprogramms im Hinblick auf unprogrammgemäße Unterbrechungen der Bewegungen sowie der Beschichtung des Werkstücks befasst war, die Entgegenhaltung auf für ihn nutzbare Erkenntnisse über die Potentiale numerischer Steuervorrichtungen überprüft hätte. Die Schrift gab ihm jedoch keine Anregung, ein Verfahren entsprechend dem Streitpatent vorzusehen. Bei der Vorrichtung der K3 steht ein Bauteil oder Werkstück mit der Werkzeugmaschine (wie der beschriebenen Fräsmaschine) in Eingriff und bewegt sich gleichzeitig längs zweier oder mehrerer Achsen. Wenn das Werkzeug aufgrund einer Störung zum Stillstand kommt, wird das Werkstück wieder zu seinem Haltepunkt auf der Bahn zurückgeführt, und zwar möglichst durch entsprechende abschnittsweise Bewegungen in entgegengesetzter Reihenfolge und Richtung, so dass es genau dem Weg folgt, auf dem es zuvor verlagert wurde (K3, S. 4, 2. Absatz). Anschließend wird das Verfahren fortgesetzt.
Demgegenüber besteht beim Streitpatent zwischen dem Werkstück und der Sprühvorrichtung, die bei einer Unterbrechung unkontrollierten Nachbewegungen unterliegt, keine unmittelbare Verbindung. Im Gegensatz zur K3 kann beim Streitpatent bei Eintritt der Unterbrechung nicht ohne weiteres das Werkstück zurückgeführt und das Beschichtungsverfahren fortgesetzt werden. Wenn bei dem Verfahren nach dem Streitpatent der Betrieb der Fördereinrichtung, mit der mehrere Werkstücke transportiert und gleichzeitig von der Sprühvorrichtung beschichtet werden, unterbrochen wird, treten die bereits geschilderten unkontrollierten Nachlaufbewegungen auf, wobei die Fördereinrichtung und die Sprühvorrichtung unterschiedliche Bewegungen ausführen und unterschiedliche Wegstrecken zurücklegen. Angesichts dessen ist es für die Fortsetzung des Beschichtungsvorgangs erforderlich, die Fördereinrichtung und die Sprühvorrichtung relativ zueinander in die Position zu bewegen, in der sie sich zum Zeitpunkt der Unterbrechung der Beschichtung befunden haben (Merkmal 6). Demgegenüber behandelt die K3, wie ausgeführt, nicht das Problem, dass sich das Werkzeug nach dem Abschalten der Maschine noch weiterbewegt. Die Klägerin weist zwar zutreffend darauf hin, dass auch die K3 mit dem Hinweis auf das Abbremsen und den nachfolgenden Stillstand den trägheitsbedingten Nachlauf der Werkzeugmaschine der Sache nach erwähnt. Dieses für die erfindungsgemäße Lehre zentrale Problem spielt in der K3 jedoch keine Rolle und wird demgemäß auch nicht in den Blick genommen. Der Ort des unterbrechungsbedingten Stillstands ist vielmehr der Ort, an dem die weitere Bewegung der Werkzeugmaschine auch wiederaufgenommen wird. Die Auswirkungen einer Unterbrechung des Betriebs der beiden Anlagen sind sonach unterschiedlich. Das Streitpatent verfolgt das Ziel, die richtige relative Position der Fördereinrichtung und der Sprühvorrichtung zueinander wiederherzustellen, um die Beschichtung ordnungsgemäß fortsetzen zu können, und löst diese Aufgabe mit den Maßnahmen der Merkmale 5 bis 8. K3 spricht dieses Problem nicht an und kann deshalb nicht als konkrete Anregung für die Lösung nach dem Streitpatent dienen.
3. Auch eine Zusammenschau von K4 und K3 führt nicht zum Gegenstand des Streitpatents.
Ausgehend von K4 hat der Fachmann beim Eintreten einer Störung die Möglichkeit, Personal zur Fehlerkorrektur einzusetzen oder den Lackierroboter bis zum Blockende weiterarbeiten zu lassen, um den Fortgang des Beschichtungsvorgangs bis zu einem beherrschbaren Unterbrechungspunkt sicherzustellen. Gegen eine Übertragung der in der K3 beschriebenen automatisierten Zurücksetzung des Werkstücks auf die Relativposition des Lackierroboters, dessen Tätigkeit etwa durch einen Stromausfall unterbrochen worden ist, zur Fördereinrichtung durch Rückführung in die Position, in der sich die beiden Elemente bei Unterbrechung der Beschichtung befanden (Merkmal 6), spricht, dass die K3 das Problem des unkontrollierten trägheitsbedingten Nachlaufs, das eben diese Maßnahme einer schlichten Rückkehr in die Position vor der Störung bislang verhindert hat, wie ausgeführt nicht thematisiert. Die Entgegenhaltung betrachtet vielmehr den - wiederum den von K4 ausgehenden Fachmann nicht interessierenden - Fall eines automatisiert auszugleichenden menschlichen Eingriffs in den Bearbeitungsprozess. Die Übertragung der für diesen Fall gelehrten Maßnahme auf jenen Störfall erfordert eine Abstraktion der Lehre der K3, die den trägheitsbedingten Nachlauf der Fördereinrichtung des Lackierroboters und des zu versprühenden Beschichtungsmaterials wie den gezielten Eingriff als "zu protokollierende Positionsveränderungen" betrachtet, die bei der automatisierten Wiederaufnahme des Bearbeitungsvorgangs zu berücksichtigen sind. Eine solche Abstraktion bildet die gedankliche Grundlage der Übertragung der technischen Lösungsmittel und bedarf wie diese grundsätzlich einer Veranlassung oder eines Anstoßes hierzu in dem mit dem Wissen und Können des Fachmanns verarbeiteten Stand der Technik; andernfalls wird die Anregung unzulässig durch die Logik der fertigen technischen Lehre ersetzt (vgl. BGH, Urteil vom 30. April 2009 - Xa ZR 92/05, BGHZ 182, 1 Rn. 20 - Betrieb einer Sicherheitseinrichtung). Eine solche Anregung ist im Streitfall nicht aufgezeigt und kann auch nicht durch die - für sich genommen zutreffende - Erwägung des Patentgerichts ersetzt werden, das "Auffinden des Problems der trägheitsbedingten Nachlaufstrecken" könne keine erfinderische Tätigkeit begründen. Demgegenüber wirken beim Streitpatent die in der Merkmalsgruppe 5 offenbarten Maßnahmen, nämlich das Speichern des aktuellen Status des Bearbeitungsprogramms, die Feststellung der örtlichen Positionen der Fördereinrichtung und der Sprühvorrichtung zu den Zeitpunkten der Unterbrechung und des Endes der Beschichtung so zusammen, dass sich an sie die in den Merkmalen 6 und 7 offenbarte Relativbewegung zwischen Sprühvorrichtung und Fördereinrichtung anschließen kann, die schließlich eine Fortsetzung des Beschichtungsverfahrens ermöglicht. Hinweise oder Anregungen, ein Beschichtungsverfahren auf diese Weise auszugestalten, sind der K3 nicht zu entnehmen.
4. Das Verfahren nach dem Streitpatent war auch durch die deutsche Offenlegungsschrift 24 31 441 (K5) nicht nahegelegt.
a) K5 betrifft eine Anordnung zur numerischen Steuerung der Werkzeug- oder Werktischbewegung in einer Arbeitsmaschine nach einem Bearbeitungsprogramm, das wahlweise durch Umschaltung in eine andere Betriebsart unterbrechbar ist (K5, S. 1, 1. Absatz). Ziel der Erfindung ist es, eine derartige Anordnung so weiterzuentwickeln, dass nach einer Programmunterbrechung unabhängig von den im Anschluss an die Unterbrechung ablaufenden Verschiebebewegungen des Werkzeugs oder Werktisches ohne aufwendige manuelle Eingriffe in die Steuerung eine Fortsetzung des Programms möglich ist (K5, S. 2, 1. Absatz). Die in K5 aufgezeigte Lösung besteht darin, dass der Verfahrweg des Werkzeugs bzw. Werktisches aus der zum Zeitpunkt der Programmunterbrechung eingenommenen Lage mess- und speicherbar ist. Nach dem Zurückschalten in das unterbrochene Bearbeitungsprogramm kann das Werkzeug oder der Werktisch um das Maß des gespeicherten Werts in die bei der Programmunterbrechung eingenommene Lage selbsttätig zurückbewegt und das Bearbeitungsprogramm im Anschluss an die unterbrochene Stelle freigegeben werden.
b) Die Entgegenhaltung offenbart sonach keine Sprühvorrichtung und gibt insbesondere, wie auch die Technische Beschwerdekammer 3.2.3 des Europäischen Patentamts im Einspruchsbeschwerdeverfahren betreffend das Streitpatent ausgeführt hat (Entsch. vom 21. März 1995 - T 0570/93), keinen Hinweis auf die Berücksichtigung von Nachlaufbewegungen. K5 zeigt eine dem Gegenstand der K3 vergleichbare Bearbeitungseinrichtung, so dass die zu K3 dargelegten Überlegungen auch hier gelten.
IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 121 Abs. 2 Satz 2 PatG und § 91 Abs. 1 ZPO.
Meier-Beck Grabinski Bacher Hoffmann Schuster Vorinstanz:
Bundespatentgericht, Entscheidung vom 25.06.2013 - 3 Ni 30/11 (EP) -
BGH:
Urteil v. 01.12.2015
Az: X ZR 133/13
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