Oberlandesgericht Köln:
Beschluss vom 4. Juli 2000
Aktenzeichen: Ss 254/00 - 145

(OLG Köln: Beschluss v. 04.07.2000, Az.: Ss 254/00 - 145)

Tenor

Das angefochtene Urteil wird mit den getroffenen Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Bonn zurückverwiesen.

Gründe

Das Amtsgericht hat den Angeklagten wegen Verletzung von Privatgeheimnissen zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 150,00 DM verurteilt.

Das Landgericht hat die Berufung des Angeklagten verworfen.

Nach den Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen ist der Angeklagte seit 1974 als Rechtsanwalt zugelassen. Er befasst sich insbesondere mit Wirtschaftsrecht, Beratung von Verbänden und Fragen der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit, hat aber gelegentlich auch Strafverteidigungen übernommen.

Zum Schuldspruch hat das Landgericht im Wesentlichen folgendes festgestellt:

"Die Eheleute S. aus B. betreiben eine Yorkshire-Terrier-Zucht. Sie sind unter anderem Besitzer des preisgekrönten Rüden M.B. ... Dieser Rüde war zu Zuchtzwecken besonders begehrt. Zudem waren die Eheleute S. Mitglieder im ersten deutschen Yorkshire-Terrier-Club e.V. (DYC) mit Sitz in K. In diesem Verein war der Zeuge S. bis Mai 1999 u.a. zweiter Vorsitzender.

Im Jahr 1997 erstattete ein anderes Vereinsmitglied, Frau P., eine Strafanzeige gegen die Eheleute S., denen sie Zuchtbetrug verwarf. Dazu behauptete sie, vier ihrer Hündinnen seien in der Zeit von September 1994 bis September 1996 - entgegen der getroffenen Vereinbarung - nicht von dem Rüden M.B., sondern von anderen Rüden aus der Zucht der Zeugen S. belegt worden. Da die Zeugungsfähigkeit ihres preisgekrönten Rüden M.B. stark herabgesetzt gewesen sei, hätten sie die ihnen überlassenen Hündinnen der Frau P. durch andere Rüden aus der Zucht S. decken lassen. Ihnen sei es dabei nur darauf angekommen, sich die vereinbarte Deckgebühr von je 800,00 DM zu beschaffen. Daraufhin leitete die Staatsanwaltschaft Essen ein Ermittlungsverfahren gegen die Eheleute S. ein, worauf sich der Angeklagte als Verteidiger des Zeugen S. bestellte. Der Angeklagte war ebenfalls langjähriges Mitglied des DYC und damals sogar dessen Ehrenpräsident und mit dem Zeugen S. befreundet. Im Laufe des Ermittlungsverfahrens wurden in den Jahren 1997 und 1998 insgesamt 4 Gutachten - teils Privatgutachten - zur Frage der Abstammung der Frau P. gehörenden Hunde eingeholt. ... Nach Auswertung sämtlicher vorliegender Gutachten lehnte das Amtsgericht B. durch Beschluss vom 15.11.1999 die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen die Eheleute S. mit der Begründung ab, die Untersuchungsergebnisse der einzelnen Institute seien widersprüchlich und ließen keine eindeutigen Schlüsse zur Feststellung der Vaterschaft des Rüden M.B. zu. Deswegen sei die Einlassung der Eheleute S., die jeglichen Zuchtbetrug von Anfang an entschieden in Abrede gestellt hätten, mit diesen widersprüchlichen Gutachten nicht zu widerlegen.

Im Verlaufe des anhängigen Ermittlungsverfahrens nahm der Angeklagte als Verteidiger des Zeugen S. mehrfach Akteneinsicht. Im August 1998 nahm er auch in die zum obigen Verfahren beigezogene Akte 27 Js ..... StA Essen Einsicht. Dabei handelte es sich um ein Betrugsverfahren zu Lasten von Frau P., dass aufgrund einer Strafanzeige eines Rechtsanwaltes aus B. eingeleitet worden war, der Frau P. beschuldigte, seine anwaltliche Hilfe in Anspruch genommen zu haben, ohne zur Zahlung des Anwaltshonorars bereit zu sein. Dieser Akte lag ein Bundeszentralregisterauszug vom 17.07.1998 betreffend Frau P. bei, in dem folgende Eintragungen vermerkt waren:

1.

06.12.1984 Amtsgericht Lampertsheim ...

Rechtskräftig seit 01.02.1985

Tatbezeichnung: fortgesetzte teilweise gemeinschaftliche Beleidigung...

18 Tagessätze zu je 40,00 DM Geldstrafe,

2.

28.10.1985 Amtsgericht Wolfach

Rechtskräftig seit 28.11.1995

Tatbezeichnung: Amtsanmaßung...

30 Tagessätze zu je 40,00 DM Geldstrafe

3.

03.06.1986 Amtsgericht K.

Rechtskräftig seit 28.06.1986

Tatbezeichnung: Betrug...

40 Tagessätze zu je 25,00 DM Geldstrafe

4. (nachträglich durch Beschluss gebildete Gesamtstrafe)

5.

21.07.1988 Amtsgericht Ettlingen - 1 Ds 58/87 -

Rechtskräftig seit 23.12.1988

Tatbezeichnung: falsche Versicherung an Eides Statt...

4 Monate Freiheitsstrafe, 3 Jahre Bewährungszeit, Strafe erlassen mit Wirkung vom 09.01.1992

Der Angeklagte notierte sich den genauen Inhalt der Eintragungen mit den jeweiligen Aktenzeichen.

Außerdem erstattete er seinerseits eine Strafanzeige gegen Frau P. wegen falscher Anschuldigung seines Mandanten S.. Diese wurde .... dann vorläufig gemäß § 154 e StPO eingestellt. Darüber hinaus entzündeten sich an der Frage des Zuchtbetruges heftige vereinsinterne Streitigkeiten, an denen sich auch andere Vereinsmitglieder - aus unterschiedlichen Gründen - beteiligten. Außerdem wurden die Vorwürfe und Gegenvorwürfe auch im Rahmen mehrerer Fernsehsendungen unter Kundgabe wechselseitiger Beleidigungen (§ 199 StGB) in die breite Öffentlichkeit getragen.

Parallel zum Ermittlungsverfahren versuchten Frau P. und andere - aus unterschiedlichen Gründen -, den Ausschluss des Zeugen S. aus dem Yorkshire-Terrier-Club zu erreichen. Für die auf den 24.01.1999 anberaumte außerordentliche Mitgliederversammlung hatte der 1. Vorsitzende des Vereins einen Antrag gestellt, durch den der Zeuge S. - unter Berufung auf zwei neuere Gutachten - aus dem Verein ausgeschlossen werden sollte. In dieser Situation sandte der Angeklagte unter dem 20.01.1999 an den Vorstand, die Vorsitzenden und Mitglieder des 1. DYC ein 14 Seiten langes Schriftstück, dass er mit der Überschrift "Das Ende eines Schurkenstücks" versah. Dieses Schriftstück wurde an ca. 40 Delegierte des Vereins mit der Bitte um Weitergabe verteilt. Darin setzte er sich ausführlich mit der Frage des behaupteten Zuchtbetruges durch den Zeugen S. und mit der Rolle der Anzeigenerstatterin und angeblichen Geschädigten Frau P. auseinander. U.a. führte er aus, Frau P. habe im Verlaufe des Ermittlungsverfahrens unwahre Angaben gemacht, sie habe versucht, dem Club das Recht zur eigenen Untersuchung zu bestreiten und habe auch bei einzelnen Personen in der Clubführung Gehör gefunden. Zudem habe sie auf der Mitgliederversammlung im Mai 1997 nicht nur dem Zeugen S., sondern dem ganzen Club Rache geschworen und habe alles getan, um den Club zu diskreditieren. Sodann heißt es weiter auf S. 11 des Schreibens:

"Von großer Bedeutung war schließlich die Frage der Glaubwürdigkeit von Frau P.. Wann immer ich mit Clubmitgliedern aus Baden-Württemberg sprach, versicherten mir diese, dass sie eine sehr schlimme Person sei mit einem übersteigerten Geltungsbedürfnis, die durch ihre Intrigen schon eine Ortsgruppe kaputt gemacht habe. Ihr sei nicht zu trauen. Die Eheleute P. hätten geradezu fluchtartig den Süden verlassen müssen und man habe schon damals gesagt, dass man in NRW bald bemerken werde, was man an ihnen habe. Auch von Vorstrafen wurde gesprochen. Die Staatsanwaltschaft hat natürlich wie immer in derartigen Fällen eine Auskunft aus dem Bundeszentralregister über die S.s eingeholt. Ergebnis: keine Eintragungen. Wer nach der strafrechtlichen Vergangenheit von Frau P., geborene P. forscht, stößt u.a. auf folgende Verurteilungen:

06.12.1984, AG Lampertsheim, 55 Js 604/84 (fortgesetzte gemeinschaftliche Beleidigung), 28.10.1985, AG Wolfach, Cs 12/85 (Amtsanmaßung, § 132 StGB, 2. Alt.),

03.06.1986, AG K., 10 Cs 176/86 (Betrug),

21.07.1988, AG Ettlingen, 1 Ds 58/87 (falsche Versicherung an Eides statt).

Man wird einwenden, dass diese Sachen über 10 Jahre zurückliegen. Sie sind aber für diesen Fall "einschlägig" und für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Frau P. von entscheidender Bedeutung. Denn: "Die Katze lässt das Mausen nicht".

Dabei hat der Angeklagte billigend in Kauf genommen, dass er Geheimnisse der Frau P. unbefugt offenbarte. Daraufhin erstattete Frau P. unter dem 04.02.1999 Strafanzeige gegen den Angeklagten, u.a. wegen Verstoßes gegen § 203 StGB. Mit Schreiben vom 24.02.1999 stellte sie ausdrücklich einen Strafantrag. ... Auf der außerordentlichen Mitgliederversammlung am 24.01.1999 zog der erste Vorsitzende des DYC seinen Antrag auf Ausschluss der Zeugen S. zurück und begnügte sich mit einem Misstrauensantrag gegen ihn. Dieser Misstrauensantrag wurde jedoch abgelehnt. Daraufhin trat der erste Vorsitzende von seinem Amt zurück. Seit Mai 1999 ist auch der Zeuge S. nicht mehr Vorsitzender des DYC."

Zur Einlassung des Angeklagten heißt es im Berufungsurteil:

"Der Angeklagte bestreitet den äußeren Tathergang nicht. Er ist jedoch der Meinung, sein Verhalten sei nicht strafbar, da zwischen der Betroffenen Frau P. und dem Angeklagten keine auf Vertrauen beruhende Sonderbeziehung und damit auch keine Geheimhaltungspflicht für ihn bestanden habe. Zudem habe er in Wahrnehmung berechtigter Interessen gemäß § 193 StGB gehandelt. Er habe sich auch im Notstand im Sinne von § 34 StGB befunden. ... Für die außerordentliche Mitgliederversammlung vom 24.01.1999 habe der 1. Vorsitzende zunächst den Antrag auf Ausschluss des Zeugen S. gestellt. Diese Mitgliederversammlung sei für S. nicht nur als Züchter entscheidend gewesen, vielmehr habe auch die Gefahr bestanden, dass Frau P. unter Berufung auf die "Verurteilung" durch den Verein die Öffentlichkeit mobilisiert und dem Ruf des Zeugen S. als Unternehmer geschadet hätte. In dieser Situation, in der gewisse Leute, die handfeste wirtschaftliche Interessen im Verein verfolgten, sich hinter Frau P. gestellt hätten, sei ihm die Bekanntgabe der Vorstrafen von Frau P. als das einzige Mittel erschienen, die Delegierten, die neutral gewesen seien, auf die Seite des Zeugen S. zu ziehen. Weiter ist er der Meinung, im übrigen habe er sich zur Tatzeit im Verbotsirrtum befunden, der für ihn nicht vermeidbar gewesen sei."

Zur rechtlichen Würdigung hat das Landgericht unter näherer Darlegung ausgeführt, der Angeklagte habe ein fremdes Geheimnis, die früheren Verurteilungen der Frau P., das ihm im Rahmen seiner Berufsausübung bekannt geworden sei, unbefugt offenbart. Er habe zumindest mit bedingtem Vorsatz gehandelt und habe sich nicht in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum befunden. Zur Begründung der Annahme, der Angeklagte habe unbefugt gehandelt, hat das Landgericht ausgeführt:

"Der Angeklagte handelte weder in Wahrnehmung berechtigter Interessen gemäß § 193 StGB noch war er dazu aufgrund gesetzlicher Vorschriften oder allgemeiner Rechtfertigungsgründe befugt.

Zunächst gilt die Vorschrift über die Wahrnehmung berechtigter Interessen ausdrücklich nur im Falle von Beleidigungen. Auf andere strafbare Handlungen findet § 193 keine Anwendung ... Darüber hinaus stand dem Angeklagten auch kein rechtfertigender Notstand im Sinne von § 34 StGB zur Seite. ... Vorliegend drohte dem Mandanten des Angeklagten, dem Zeugen S., der Ausschluss aus dem Verein oder der Ausspruch des Misstrauens wegen Zuchtbetruges. Beides hätte einen Angriff auf seine Ehre dargestellt und wäre möglicherweise mit erheblichen negativen Auswirkungen auf sein berufliches und gesellschaftliches Leben verbunden gewesen. Wenn der Streit zwischen den Eheleuten S. und Frau P. auch schon seit langem andauerte, so bestand doch kurz vor der außerordentlichen Mitgliederversammlung eine gegenwärtige Gefahr für die Ehre des Zeugen S..

Es ist aber nicht davon auszugehen, dass diese Gefahr nicht anders als durch Preisgabe der genauen, mehr als 10 Jahre alten Vorstrafen der Zeugin P. abgewendet werden konnte. Wie sich aus dem 14 Seiten umfassenden Rundschreiben des Angeklagten ergibt, hatte dieser eine Vielzahl von Argumenten gegen den befürchteten Ausschluss des Zeugen S.. Es ist nicht ersichtlich, dass es dazu auch noch der Bekanntgabe der lange zurückliegenden Verurteilungen bedurft hätte. Dies gilt umso mehr, als es letztlich für die Frage des Zuchtbetruges und damit für die Frage des Vereinsausschlusses auch nicht auf die Glaubwürdigkeit der Frau P. ankam. Das zeigt auch der Umstand, dass die Eröffnung des parallel laufenden Strafverfahrens nur unter Hinweis auf die sich widersprechenden Ergebnisse der Gutachten abgelehnt worden ist, ohne dass es auf Bekundungen oder Aktivitäten der Frau P. angekommen wäre.

Schließlich führt die erforderliche Interessenabwägung auch nicht zu dem Ergebnis, dass das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. In beiden Fällen ging es um Ehre und Persönlichkeitsrechte des Zeugen S. und seiner Widersacherin, der Frau P.. Während der Grad der drohenden Gefahr der Abwahl des Zeugen S. schwer zu erfassen war, zumal der Angeklagte augenscheinlich über eine Vielzahl von Gegenargumenten verfügte, stand die Verletzung des Persönlichkeitsrechts von Frau P. im Falle der Preisgabe der Eintragungen aus dem Bundeszentralregisterauszug fest. Schließlich erscheint die Bekanntgabe alter, löschungsfähiger Registereintragungen im vorliegenden Fall nicht als angemessenes Mittel zur Gefahrabwehr im Sinne von § 34 StGB."

Die Revision des Angeklagten rügt Verletzung materiellen Rechts.

Die Revision hat (vorläufigen) Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.

Die Ausführungen der Strafkammer zur Frage der - bejahten - Rechtswidrigkeit der Geheimnisoffenbarung (Merkmal "unbefugt", § 203 Abs. 1 StGB) halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.

Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB hat das Landgericht dagegen rechtsfehlerfrei als erfüllt angesehen.

§ 203 Abs. 1 StGB setzt die Offenbarung eines fremden Geheimnisses voraus, das dem Täter als Angehörigen einer der in den Nummern 1-6 dieser Vorschrift aufgeführten Berufsgruppen anvertraut oder sonst bekannt geworden ist.

Fremde Geheimnisse sind Tatsachen, die nur einem beschränkten Personenkreis bekannt sind und nach dem verständlichen Interesse des Geheimnisträgers nicht weiter bekannt werden soll (Lackner/Kühl, StGB, 23. Aufl., § 203 Rdnr. 14). Es liegt auf der Hand, dass Frau P. hinsichtlich ihrer - vom Angeklagten mit Schreiben vom 20.01.1999 offenbarten - Vorstrafen ein anerkennenswertes Geheimhaltungsinteresse hatte. Hinsichtlich des Gesichtspunktes "Tatsachen, die nur einem beschränkten Personenkreis bekannt sind" weist die Revision zutreffend darauf hin, dass die im Schreiben des Angeklagten genannte Verurteilung vom 21.07.1988 in öffentlicher Verhandlung erfolgt sein muss, weil dieses Verfahren ein Ds-Aktenzeichen (= Strafverfahren vor dem Einzelrichter) trägt, und dass es sich bei den übrigen vom Angeklagten bezeichneten Vorstrafen der Frau P. um solche handelt, die in jener öffentlichen Verhandlung erörtert worden sein müssen, sei es anhand der jeweiligen Verfahrensakten oder eines Strafregisterauszugs. Auch trifft es zu, dass eine Tatsache kein Geheimnis darstellt, wenn sie in einer öffentlichen Gerichtsverhandlung bekannt geworden ist (OLG Düsseldorf JMBl. NW 1990, 153; vgl. OLG Koblenz OLG St § 203 S. 5; Tröndle/Fischer, StGB, 49. Aufl., § 203 Rdnr. 4), wobei es nicht darauf ankommt, ob Zuhörer vorhanden waren (Jähnke in Leipziger Kommentar, 10. Aufl., § 203 Rdnr. 23). Andererseits kann aber eine öffentlich bekannt gewesene Tatsache in Vergessenheit geraten und so durch Zeitablauf zu einem Geheimnis werden (OLG Düsseldorf a.a.O.; Lenckner in Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl., § 203 Rdnr. 6; vgl. Jähnke in LK a.a.O., § 203 Rdnr. 23). Zu Letzterem hat das Landgericht keine Feststellungen getroffen. Dessen bedurfte es aber auch nicht. Nach einem Ablauf von mehr als 10 Jahren (letzte Hauptverhandlung gegen Frau P.: 21.07.1988; Schreiben des Angeklagten: 20.01.1999) kann bei Vorstrafen der hier in Rede stehenden Art ohne weiteres davon ausgegangen werden, das sie außerhalb eines beschränkten Personenkreises (vgl. die oben wiedergegebene Definition des Begriffs "fremdes Geheimnis") in Vergessenheit geraten sind.

Diese Vorstellung liegt offensichtlich auch der Regelung in § 46 Abs. 1 Nr. 2 b BZRG zugrunde, wonach die Tilgungsfrist bei Verurteilungen wie der vom 21.07.1988 10 Jahre beträgt. Die Vorschriften über die Tilgung (§§ 45 ff. BZRG) und die Rechtswirkungen der Tilgung (§§ 51, 52 BZRG) tragen dem Rehabilitierungsgedanken Rechnung (vgl. Rebmann/Uhlig, BZRG, § 51 Rdnr. 26), dessen gesetzliche Verankerung nur in dem Umfange sinnvoll ist, wie sie den tatsächlich vermuteten Verhältnissen in Bezug auf ein Vergessen einer Verurteilung entspricht.

Hinsichtlich der ebenfalls für den Tatbestand relevanten Frage, auf welche Weise der Angeklagte von dem Geheimnis Kenntnis erlangt hat, ist das Landgericht zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, dass nicht das Tatbestandsmerkmal "anvertraut", sondern das Merkmal "sonst bekanntgeworden", erfüllt ist.

"Anvertrauen" bedeutet, dass Einweihen in ein Geheimnis unter ausdrücklicher Auflage des Geheimhaltens oder doch unter Umständen, aus denen sich eine Verpflichtung zur Verschwiegenheit ergibt, d.h. es muss ein Vertrauensakt vorlegen (OLG Köln, 3. Strafsenat, NStZ 1983, 412 m.N., mit - insoweit - zutreffender Anmerkung Rogall; Samson in SK StGB, § 203 Rdnr. 29). Wer das Geheimnis mitteilt - der Betroffene selbst oder ein Dritter - ist unerheblich (OLG Hamburg NJW 1962, 689, 691; Samson in SK StGB a.a.O.). Nach den Feststellungen hat der Angeklagte durch Akteneinsicht (§ 147 StPO) von den Vorstrafen der Frau P. Kenntnis erlangt. Einer solchen Akteneinsicht liegt kein Vertrauensakt der Behörde zugrunde, sondern ein Rechtsanspruch des Verteidigers.

"Sonst bekanntgeworden" ist ein Geheimnis dem Täter, wenn er es auf andere Weise, insbesondere aufgrund eigener Tätigkeit erfahren hat (Schmitz JA 1996, 772, 776). Umstritten ist, ob es dafür genügt, dass der Täter das Geheimnis in Ausübung einer Sondereigenschaft erfährt oder ob dieses Merkmal auch voraussetzt, dass die Kenntniserlangung im Rahmen einer auf Vertrauen beruhenden Sonderbeziehung zwischen Täter und Betroffenen erfolgt ist (vgl. zum Meinungsstreit: OLG Köln, 3. Strafsenat, a.a.O., mit Anmerkung Rogall; Schmitz a.a.O.; Lenckner in Schönke/Schröder a.a.O., § 203 Rdnr. 15). Der Senat folgt der Auffassung, dass es nur darauf ankommt, ob der Täter von dem Geheimnis kraft Berufsausübung Kenntnis erlangt hat, mithin eine Sonderbeziehung im oben angegebenen Sinne nicht erforderlich ist (so u.a. Jähnke in LK a.a.O., § 203 Rdnr. 31 ff.; Tröndle/Fischer a.a.O., § 203 Rdnr. 8; Lackner/Kühl a.a.O., § 203 Rdnr. 16; Rogall a.a.O.; vgl. auch OLG Hamburg a.a.O.; a.A.: u.a. Samson in SK StGB, § 203 Rdnr. 30; Lenckner in Schönke/Schröder a.a.O., § 203 Rdnr. 15 - differenzierend). Für die Richtigkeit dieser Auffassung spricht bereits der Gesetzeswortlaut (vgl. Jähnke in LK a.a.O., § 203 Rdnr. 36). Dieser hebt allein auf den Zusammenhang der Erlangung des Geheimnisses mit der Berufstätigkeit ab (Jähnke in LK a.a.O.). Das Tatbestandsmerkmal "oder sonst bekannt geworden" hat ersichtlich Auffangcharakter (Rogall NStZ 1983, 413 m.N.).

Nach allem hat die Strafkammer das in Rede stehende Verhalten des Angeklagten zu Recht als tatbestandsmäßig angesehen.

Ebenfalls zutreffend ist die Strafkammer davon ausgegangen, dass das Merkmal "unbefugt" die Frage der Rechtswidrigkeit des tatbestandsmäßigen Verhaltens betrifft (vgl. Tröndle/Fischer a.a.O., § 203 Rdnr. 27 m.N.). Ihre Ausführungen dazu begegnen indes durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

Die Strafkammer hat angenommen, als Rechtfertigungsgrund komme hier ausschließlich § 34 StGB in Betracht. Selbst wenn die Richtigkeit dieses Ausgangspunktes unterstellt wird, halten ihre Erwägungen rechtlicher Überprüfung nicht stand. Sie sind für den Senat nicht hinreichend nachvollziehbar, weil die Tatsachen, auf denen sie beruhen, im Urteil nur unvollständig mitgeteilt werden. Die Strafkammer verneint das Vorliegen eines rechtfertigenden Notstandes (§ 34 StGB) maßgeblich mit der Begründung, aus dem 14 Seiten umfassenden Rundschreiben des Angeklagten ergebe sich, dass dieser "eine Vielzahl von Argumenten gegen den befürchteten Ausschluss des Zeugen S." gehabt habe, sodass nicht ersichtlich sei, "dass es auch noch der Bekanntgabe der lange zurückliegenden Verurteilungen bedurft hätte". Um welche "Argumente" es sich dabei im Einzelnen gehandelt hat, ergibt sich aus den Gründen des angefochtenen Urteils nicht. Die zum Inhalt des Schreibens des Angeklagten vom 20.01.1999 getroffenen Feststellungen (UA S. 7/8) sind ersichtlich unvollständig. Jedenfalls lässt sich ihnen das Gewicht die (etwaige) Stichhaltigkeit der Argumente nicht hinreichend entnehmen.

Diese Unvollständigkeit beeinträchtigt auch die Nachprüfung der vom Berufungsgericht vorgenommenen Interessenabwägung. Denn zur Begründung dafür, dass "der Grad der drohenden Gefahr der Abwahl des Zeugen S. schwer zu erfassen war", verweist die Strafkammer ebenfalls auf die "Vielzahl der Gegenargumente", über die der Angeklagte "augenscheinlich" verfügte.

Darüber hinaus ist aber auch schon der rechtliche Ausgangspunkt der Strafkammer, als Rechtfertigungsgrund komme hier nur § 34 StGB in Betracht, unzutreffend. Denn die Befugnis zur Offenbarung fremder Geheimnisse im Sinne des § 203 StGB kann sich auch aus dem - die Rechtsordnung allgemein beherrschenden - Grundsätzen über die Abwägung widerstreitender Pflichten oder Interessen ergeben (BGHSt 1, 366, 368; BGH-Z-NJW 1968, 2288, 2290; OLG K. NJW 1984, 676; KG NJW 1994, 462; Tröndle/Fischer a.a.O., § 203 Rdnr. 31; Rogall NStZ 1983, 1, 6). So kann der Träger eines fremden Geheimnisses berechtigt sein, die Schweigepflicht zu brechen, wenn das zur Wahrung eines höherwertigen Rechtsguts erforderlich ist und der Widerstreit der rechtlich geschützten Güter nur durch die Preisgabe des einen und nicht auf andere Weise gelöst werden kann (BGH-Z-a.a.O., für den Arzt; vgl. auch KG a.a.O.). Das gilt auch für den Rechtsanwalt, der zwar einerseits schon nach § 43 a Abs. 1 BRAO zur Verschwiegenheit verpflichtet ist, andererseits als Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO) sich der Aufgabe stellen darf, Unrecht zu verhindern, z.B. durch Offenbarung eines fremden Geheimnisses (vgl. zu Letzterem: Henssler NJW 1994, 1817, 1823 rechte Spalte).

Soweit in der Literatur - abweichend von der Rechtsprechung, vgl. oben - die Auffassung vertreten wird, eine Befugnis zur Offenbarung fremder Interessen bei Vorliegen und zur Lösung eines Interessenkonflikts könne sich (nur) unter den Voraussetzungen des § 34 StGB, nicht aber nach den allgemeinen Grundsätzen der Interessenabwägung (vgl. oben) ergeben (vgl. Schmitz JA 1996, 949, 953 mit zahlreichen Nachweisen), vermag der Senat dem nicht zu folgen. Insbesondere durch das Erfordernis des wesentlichen Überwiegens des geschützten Interesses in § 34 StGB wird der Bereich strafloser Offenbarungsmöglichkeiten zu weit eingeschränkt (vgl. Rogall NStZ 1983, 1, 6).

Es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht die Frage der Befugnis zur Offenbarung der Vorstrafen der Frau P. anders beurteilt hätte, wenn es das Verhalten des Angeklagten nicht an § 34 StGB, sondern an den allgemeinen Grundsätzen der Güter- und Interessenabwägung gemessen hätte. Jedenfalls wegen der oben beschriebenen Unvollständigkeit der Feststellungen kommt eine eigene Sachentscheidung des Senats nicht in Betracht.

Gesichtspunkte außerhalb der unvollständigen Tatsachengrundlage des angefochtenen Urteils, die bei rechtsfehlerfreier rechtlicher Würdigung entweder zur Bejahung oder Verneinung des Merkmals "unbefugt" führen müssten, sind nicht ersichtlich. Das gilt auch für den Umstand, dass die vom Angeklagten im Schreiben vom 20.01.1999 offenbarten Vorstrafen der Frau P. schon tilgungsreif waren (vgl. oben). Das Verwertungsverbot nach § 51 Abs. 1 BZRG gilt nicht uneingeschränkt, wie sich schon aus dem Abs. 2 dieser Bestimmung ergibt (vgl. z.B. § 190, StGB; Rebmann/Uhlig, a.a.O., § 51 Rdnr. 50; Tröndle/Fischer a.a.O., § 190 Rdnr. 3).

Für die neue Hauptverhandlung wird angemerkt:

Auf der Grundlage der neu zu treffenden Feststellungen stellt sich gegebenenfalls die Frage eines Verbotsirrtums (§ 17 StGB) erneut (zu den Anforderungen an die Gewissensanspannung eines Rechtskundigen, vgl. Senatsentscheidung vom 25.07.1995 - Ss 340/95 = NJW 1996, 472, 473 rechte Spalte).






OLG Köln:
Beschluss v. 04.07.2000
Az: Ss 254/00 - 145


Link zum Urteil:
https://www.admody.com/urteilsdatenbank/7a6a85b8dc81/OLG-Koeln_Beschluss_vom_4-Juli-2000_Az_Ss-254-00---145




Diese Seite teilen (soziale Medien):

LinkedIn+ Social Share Twitter Social Share Facebook Social Share