Oberlandesgericht Köln:
Urteil vom 3. September 2010
Aktenzeichen: 6 U 196/09
(OLG Köln: Urteil v. 03.09.2010, Az.: 6 U 196/09)
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das am 22.10.2009 verkündete Urteil der 31. Zivilkammer des Landgerichts Köln (31 O 172/09) wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Urteilsformel zu Nr. 1 in ihrem ersten Teil (vor den eingeblendeten Bildschirmansichten des Internetauftritts auf den Seiten 3 bis 104 der Urteilsausfertigung) wie folgt lautet:
Unter Abweisung der Klage im Übrigen werden die Beklagten verurteilt, es unter Androhung eines vom Gericht für jeden Fall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu 250.000,00 € - ersatzweise Ordnungshaft - oder von Ordnungshaft bis zu sechs Monaten zu unterlassen, im geschäftlichen Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbs über das Internet in Deutschland befindlichen Personen die Möglichkeit anzubieten und/oder zu verschaffen, Sportwetten zu festen Gewinnquoten sowie Poker, Videopoker, Black Jack, Roulette, Baccara, Keno, Bingo und Spiele an virtuellen Slotmachines sowie Knobelduell und Blackjack-Duell gegen Entgelt einzugehen und/oder abzuschließen und/oder diese Möglichkeit zu bewerben, wie nachstehend wiedergegeben.
Von den Kosten des Rechtsstreits erster Instanz haben die Klägerin 2/5 und die Beklagten je 3/10 zu tragen. Die Kosten des Berufungsverfahrens werden der Klägerin zu 1/10 und den Beklagten zu je 9/20 auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagten können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung abwenden, die gegenüber dem Unter-lassungsanspruch je 300.000,00 €, dem Auskunftsanspruch je 3.000,00 € und im Übrigen 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Be-trages beträgt, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung des Unter-lassungs- und Auskunftsanspruchs Sicherheit in gleicher Höhe und im Übrigen Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Gründe
I.
Die Klägerin ist die staatliche Lotteriegesellschaft Nordrhein-Westfalens; sie bietet über Lottoannahmestellen die Teilnahme an Lotterien und Sportwetten an. Der Beklagten zu Nr. 1, deren gesetzlicher Vertreter der Beklagte zu Nr. 2 ist, wurden durch die Regierung von H: Lizenzen zur Veranstaltung von Spielen und Glücksspielen erteilt. Sie bietet über das Internet Spiele gegen Geldeinsatz an; ihr deutschsprachiges Internetangebot "E..com" - wie es dauerhaft in den Jahren 2008 bis 2010, konkret im September 2009 in Deutschland abrufbar war - zeigen die im angefochtenen Urteil eingeblendeten Bildschirmansichten.
Das Landgericht, auf dessen Urteil wegen aller weiteren tatsächlichen Feststellungen, der gestellten Anträge und des erstinstanzlichen Prozessergebnisses Bezug genommen wird, hat die Beklagten zur Unterlassung ihres näher bezeichneten Wett- und Spielangebots über das Internet und zur Auskunft über bestimmte seit dem 18.03.2008 erzielte Umsätze verurteilt und ihre Schadensersatzpflicht festgestellt. Die auf Klageabweisung gerichteten Berufungen beider Beklagten greifen dieses Urteil in prozessualer und materieller Hinsicht unter verschiedenen, schriftsätzlich näher ausgeführten rechtlichen Gesichtspunkten an; hilfsweise regen sie die Aussetzung des Rechtsstreits bis zur Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs in den Rechtssachen C-46/08 (D. N.) und C-316/07 (O. T.) an. Die Beklagten legen Gutachten und schriftliche Ausarbeitungen zur Funktionsweise des Internet, zu Erscheinungsformen und Gefahren des Glücksspiels und der Spielsucht sowie zu Rechtsfragen vor und bieten zu einigen Fragen ergänzend Sachverständigenbeweis an. Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil - wie erkannt - mit der Maßgabe, dass in der Urteilsformel zu Nr. 1 mehrere verallgemeinernde Begriffe entfallen und in Bezug auf Karten- und Brettspiele durch die Namen zweier Spiele ersetzt werden.
II.
Die zulässigen Berufungen haben, soweit die Klägerin das angefochtene Urteil verteidigt, in der Sache keinen Erfolg. Der Senat tritt den zutreffenden Erwägungen des Landgerichts im angefochtenen Urteil bei und nimmt darauf Bezug. Zu einigen der von den Parteien in zweiter Instanz behandelten Fragen hat der Senat auch bereits in seinem eine ähnliche Fallgestaltung betreffenden Urteil vom 12.05.2010 - 6 U 142/09 (veröffentlicht in juris) Stellung genommen, auf das ergänzend verwiesen wird. Darüber hinaus gibt das Berufungsvorbringen lediglich Anlass zu folgenden zusätzlichen Bemerkungen:
1. Zu Recht hat das Landgericht seine internationale Zuständigkeit am Gerichtsstand des inländischen Erfolgsorts angenommen (§ 5 Nr. 3 EuGVVO), weil sich das Internetangebot der Beklagten bestimmungsgemäß (auch) auf ganz Deutschland richtet, so dass hier die relevante Interessenkollision eingetreten sein kann (vgl. BGH, GRUR 2006, 513 [515] - Arzneimittelwerbung im Internet; dieses Kriterium hält auch der VI. Zivilsenat des BGH in seinem von der Berufung zitierten, Persönlichkeitsrechtsverletzungen durch Internet-Veröffentlichungen betreffenden Vorabentscheidungsersuchen GRUR 2010, 261 [263 f.] - www.S..at für maßgeblich). Bei dem in deutscher Sprache gehaltenen Auftritt unter "E..com" ist das der Fall, woran der Umstand nichts ändert, dass Deutsch auch in anderen Ländern der Welt, außer in Österreich und der Schweiz beispielsweise auch in Namibia und der Vatikanstadt, gesprochen und verstanden wird. Angesichts der von Teilnehmern ihres Spielangebots erhobenen Angaben (vgl. die Bildschirmansichten S. 14 und 27 der Ausfertigung des angefochtenen Urteils) ist nicht ersichtlich, dass die Beklagten eine Ausrichtung ihres deutschsprachigen Internetauftritts auf das gesamte Gebiet der Bundesrepublik Deutschland etwa ausschließen und dessen Nutzung durch in Deutschland befindliche Personen - wie im Unterlassungsausspruch formuliert - durch geeignete Maßnahmen verhindern; dass solche Maßnahmen unter den Bedingungen des Internet, wie sie in den bereits erstinstanzlich thematisierten Gutachten (Anlagen BB 13 und 14) dargestellt werden, ohne weiteres möglich sind, hat bereits das über hinreichende eigene Sachkunde verfügende Landgericht zutreffend festgestellt.
2. Die Klage ist mit den Anträgen in ihrer jetzt noch in Rede stehenden Fassung bestimmt genug (§§ 253 Abs. 2 Nr. 2, 525 ZPO), nachdem die Klägerin ihr Begehren auf die im Unterlassungsausspruch unter Bezugnahme auf Bildschirmansichten des Internetauftritts der Beklagten zu Nr. 1 konkret - nicht mehr nur beispielhaft - bezeichneten Spiele beschränkt hat.
3. Die Klägerin ist prozessführungsbefugt und für das auf lauterkeitsrechtliche Ansprüche gestützte Klagebegehren aktiv legitimiert; ihre Rechtsverfolgung ist entgegen der im vorgelegten Rechtsgutachten V. vom 10.03. 2010 (Bl. 960 ff. d.A.) vertretenen Ansicht weder missbräuchlich noch fehlt es dafür am Rechtsschutzbedürfnis.
Dass die als private Handelsgesellschaft organisierte Klägerin zum Vermögen des Landes Nordrhein-Westfalen gehört und insoweit der öffentlichen Hand zuzuordnen ist, nimmt ihr im Verhältnis zu privaten Glücksspielanbietern weder die "lauterkeitsrechtliche Aktivlegitimation" noch die Prozessführungsbefugnis.
Die Sicherstellung eines ausreichenden Glücksspielangebots, um den natürlichen Spieltrieb in geordnete und überwachte Bahnen zu lenken und die Spieler vor kriminellen Machenschaften zu schützen, ist nach dem landesrechtlich in Kraft gesetzten Glücksspielstaatsvertrag (§§ 1, 10 Abs. 1 GlüStV i.V.m. Art. 1 d. G. v. 30.10.2007, GV.NRW S. 445, Art. 2) und den dazu ergangenen Ausführungsbestimmungen (§ 1 Abs. 2 GlüStV-AG NRW = Art. 2 d. G. v. 30.10.2007) allerdings eine öffentliche, ordnungsrechtliche Aufgabe. Bedient sich das Land zu deren Erfüllung wie vorgesehen einer privatrechtlichen Gesellschaft, an der juristische Personen des öffentlichen Rechts unmittelbar oder mittelbar maßgeblich beteiligt sind (§ 10 Abs. 2 GlüStV, § 3 Abs. 1 GlüStV-AG NRW), wird diese dadurch jedoch nicht selbst Träger ordnungsrechtlicher Gefahrenabwehr, sondern sie ist nur das Mittel, das vom Land unter anderem zu diesem Zweck eingesetzt wird (so ausdrücklich für die Lottogesellschaften des Deutschen Lotto- und Totoblocks: BGH [Kartellsenat], Beschl. v. 14.08.2008 - KVR 54/07 [Rn. 34], NJOZ 2008, 4318). Soweit sie Glücksspiele veranstaltet und damit Einnahmen erzielt, ist diese Tätigkeit kein hoheitliches Handeln, sondern unterliegt ihrerseits der Kontrolle der zuständigen Behörden (§§ 17, 18 GlüStV-AG NRW). Während die Aufsicht gerade nicht von der Finanz- und Beteiligungsverwaltung des Landes ausgeübt werden darf (§ 9 Abs. 1 und 6 GlüStV), nimmt die Klägerin wie andere private Glücksspielveranstalter am Marktgeschehen teil. Ihre Stellung entspricht insoweit der des Fiskus bei privatwirtschaftlicher Tätigkeit der öffentlichen Hand, der als Marktteilnehmer nicht nur denselben Regeln unterliegt wie private Anbieter, sondern auch selbst den Schutz des Lauterkeitsrechts in Anspruch nehmen kann (so schon BGHZ 37, 1 = GRUR 1962, 470 [474 f.] - AKI; vgl. Köhler / Bornkamm, UWG 28. Aufl., § 4 Rn. 13.5 m.w.N.; im Grundsatz ebenso V., Gutachten S. 5).
Nimmt die Klägerin die ihr vom Wettbewerbsrecht gebotenen Möglichkeiten wahr, um Mitbewerber auf dem streng regulierten Markt der Glücksspielangebote zivilprozessual zur Einhaltung der einschlägigen Marktverhaltensregeln anzuhalten, so stellt dies nach alledem weder eine die Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns in Frage stellende "Flucht ins Privatrecht" noch einen Rechtsmissbrauch im Sinne von § 8 Abs. 4 UWG dar. Ein Verzicht auf die Beschreitung des Zivilrechtsweges zu Gunsten einer Einschaltung der staatlichen Glücksspielaufsicht ist ihr nicht zuzumuten, denn einerseits handelt es sich dabei um keinen eindeutig einfacheren und effektiveren Weg zur Erlangung von Rechtsschutz und andererseits wären damit - zumal was die Möglichkeiten der Rechtsdurchsetzung gegenüber den im Ausland ansässigen Beklagten angeht - auch Nachteile gegenüber einem im Zivilprozess erstrittenen Vollstreckungstitel verbunden. Der Hinweis der Beklagten auf die begrenzte Befugnis berufsständischer Kammern zur Führung von Wettbewerbsprozessen gegen ihre Mitglieder verfängt nicht, weil die Klägerin eine damit vergleichbare Stellung im Verhältnis zu anderen auf dem allgemeinen Markt agierenden Glücksspielanbietern nicht innehat.
4. Die Klägerin kann wettbewerbsrechtliche Ansprüche nicht nur in Bezug auf das Bundesland geltend machen, in dem sie selbst tätig ist. Die Beklagten stützen sich zu Unrecht auf das bereits vom Landgericht zutreffend eingeordnete Urteil des Bundesgerichtshofs vom 14.02.2008 - I ZR 207/05 (GRUR 2008, 438 - Oddset). Danach greift eine Ausnahme von dem Grundsatz ein, dass ein Wettbewerber die Unterlassung eines Wettbewerbsverstoßes bundesweit verlangen kann, wenn er nur regional tätig ist und in diesem regionalen Bereich kein Wettbewerbsverstoß vorliegt. Dagegen beanstandet die Klägerin - aus den nachfolgend dargestellten Gründen zu Recht - ein gerade auch in Nordrhein-Westfalen wettbewerbswidriges Verhalten der Beklagten.
5. Zwischen den Parteien besteht in Bezug auf alle streitbefangenen Glücksspielangebote ein konkretes Wettbewerbsverhältnis.
Im Bereich der Sportwetten bieten sie im Wesentlichen dem gleichen Abnehmerkreis gleichartige Leistungen an, auch wenn die Beklagten - was die Klägerin gerade beanstandet - das Internet als Vertriebsweg nutzen.
Hinsichtlich der übrigen in Rede stehenden Spiele stehen die Parteien ebenfalls zueinander in Konkurrenz. Allen vom Unterlassungsausspruch erfassten Spielen ist gemeinsam, dass sie ein Wettelement enthalten, nämlich dass ein Einsatz zu zahlen ist und der Gewinn vom Eintritt eines für den Spieler zum Zeitpunkt des Setzens nicht vorhersehbaren (sondern je nach Spielvariante allenfalls zu erahnenden) Ereignisses abhängt. Dank dieses aleatorischen Reizes folgen sie dem gleichen Prinzip und sind sie in gleicher Weise zur Befriedigung des natürlichen Spieltriebs (vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 2 GlüStV) geeignet wie das Angebot der Klägerin, bei dem sich der Spieler - wie beim Lotto - entweder ganz auf sein Glück oder auch - wie bei Sportwetten - auf seine zum Zufallselement hinzutretenden, dieses aber dennoch nicht aufhebenden Fähigkeiten und Kenntnisse verlässt. Insofern handelt es sich - wovon die Beklagten bei ihrer Forderung nach einer kohärenten Regulierung des gesamten Glücksspiel- und Wettsektors übrigens selbst ausgehen - um untereinander austauschbare und demselben relevanten Markt zuzuordnende Angebote.
Die mit der Regulierung angestrebte Kanalisierung des Spieltriebs der Bevölkerung steht diesem Substitutionswettbewerb nicht entgegen. Indem die Klägerin den Beklagten die Nutzung eines von ihr selbst inzwischen aufgegebenen, verbotenen Vertriebsweges auch für andere, ihr eigenes Angebot inhaltlich erweiternde Spielformen untersagen lassen will, macht sie zugleich eine wettbewerbswidrige Einwirkung auf ihre eigenen Abnehmerkreise geltend. Von grundsätzlich anders gelagerten Interessen der jeweils angesprochenen Verkehrskreise insbesondere bei den "Casino"-Spielen der Beklagten kann insoweit keine Rede sein, zumal der dem Ambiente geschuldete zusätzliche Reiz eines Kasinobesuchs dem Angebot der Beklagten wie dem der Klägerin fehlt.
6. Auf der Grundlage des unstreitigen Sachverhalts steht der Klägerin der vom Landgericht mit zutreffender Begründung bejahte Unterlassungsanspruch aus § 8 Abs. 1 S. 1 UWG i.V.m. §§ 3, 4 Nr. 11 UWG, 4 Abs. 4, 5 Abs. 3 GlüStV, § 284 Abs. 1, 2 und 4 StGB zu. Die Beurteilung hat von der 2008 geänderten Fassung des UWG als dem zum Zeitpunkt der Entscheidung geltenden Recht auszugehen; soweit die streitgegenständliche (Dauer-) Handlung teilweise schon vor Inkrafttreten der Gesetzesänderung begangen wurde, wirkt sich das nicht aus, zumal die für die wettbewerbsrechtliche Bewertung maßgebliche Vorschrift des § 4 Nr. 11 UWG durch die mit der Novelle erfolgte Umsetzung der (UGP-) Richtlinie 2005/29/EG, die keinen vergleichbaren Unlauterkeitstatbestand kennt, insoweit für den Glücksspielbereich keine Änderung erfahren hat (BGH, Urteile vom 02.12.2009 - I ZR 77/06 und I ZR 91/06 [jeweils Rn. 11]).
7. Das Verbot, Glücksspiele und Sportwetten im Internet anzubieten und dort für solche Angebote zu werben (§§ 4 Abs. 4, 5 Abs. 3 GlüStV), mit dem das Marktverhalten geregelt wird (so auch Gutachten V., S. 5), ist wirksam. Die betreffenden Normen verstoßen - wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat - nicht gegen höherrangiges Europa- oder Verfassungs-Recht.
a) Der Glücksspielstaatsvertrag verletzt insbesondere nicht das Prinzip der Dienstleistungsfreiheit innerhalb der Europäischen Union (Art. 49 EG). Der Sektor der über das Internet angebotenen Glücksspiele ist europarechtlich nicht harmonisiert. Beschränkende mitgliedsstaatliche Regelungen sind zulässig, wenn die Kontrolle des Glücksspielanbieters durch die Behörden eines anderen Mitgliedsstaates angesichts der Schwierigkeit bei der Beurteilung der Qualitäten und der Redlichkeit der Anbieter bei der Ausübung ihres Gewerbes und wegen der größeren Gefahren des Internet, wo es an einem unmittelbaren Kontakt zwischen Anbieter und Verbraucher fehlt, nicht als hinreichende Garantie für den Schutz der nationalen Verbraucher angesehen werden kann. Solche Regelungen müssen sich nur an primärem Gemeinschaftsrecht messen lassen, das Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses zulässt; die sittlichen, kulturellen und religiösen Besonderheiten und die sittlich und finanziell schädlichen Folgen für den Einzelnen wie für die Gesellschaft, die mit Spielen und Wetten einhergehen, sind dabei entsprechend der eigenen Wertordnung der Mitgliedstaaten zu berücksichtigen, soweit die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleibt (EuGH, Urt. v. 08.09.2009 - C 42/07 - Liga Portuguesa [Rn. 69 ff.]; Urt. v. 03.06.2010 - C 203/08 - betfair [Rn. 33 ff.], Urt. v. 03.06.2010 - C 258/08 - Ladbrokes [Rn. 54 ff.]; ebenso Urt. v. 08.07.2010 - C 447/08; 448/08 - Sjöberg/Gerdin [Rn. 35 ff.]).
Dieser Prüfung halten der Glückspielstaatsvertrag und § 284 StGB stand. Der Senat teilt insofern die Auffassung des Generalanwalts P. gemäß seinen Schlussanträgen vor dem Europäischen Gerichtshof vom 04.03.2010 in den Verfahren C-316/07, C-358/07 bis 360/07, C-409/07 und C-410/07. Insbesondere ist die deutsche Regelung im Glücksspielstaatsvertrag kohärent und nicht diskriminierend im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs (Urt. v. 06.03.2007 - C 338/04; 359/04; 360/04 - Placanica [Rn. 49]; vgl. zusammenfassend OVG Münster, Beschl. v. 14.06.2010 - 4 B 1840/08; Beschl. v. 02.07.2010 - 4 B 581/10 m.w.N.). Die im Hinblick auf die frühere Werbung der staatlichen Anbieter vom Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 115, 276 = GRUR 2006, 688 [Rn. 119 ff.]) festgestellte Widersprüchlichkeit, die europarechtlich als Inkohärenz gedeutet werden musste, ist durch den am 01.01.2008 in Kraft getretenen Glücksspielstaatsvertrag beseitigt worden. Die dadurch eingeführten weitgehenden Werbebeschränkungen haben zu einer grundlegenden Veränderung der Werbung der staatlichen Anbieter von Glücksspielen und Sportwetten geführt. Die noch zugelassene Werbung, mit der die große Nachfrage nach Glücksspielen nur auf das bestehende, reglementierte legale Angebot konzentriert wird, ordnet sich den mit dem Glücksspielstaatsvertrag verfolgten, europarechtlich legitimen Zielen der Bekämpfung der Spielsucht, des Jugend- und Spielerschutzes und des Schutzes vor betrügerischen Machenschaften (§ 1 GlüStV) unter.
Mit dem Landgericht, auf Grund seines eigenen aus früheren gleichgelagerten Verfahren gewonnenen Erfahrungswissens und in Übereinstimmung mit der Auffassung einer Vielzahl anderer mit dieser Frage befasster Gerichte (vgl. nur OVG Münster, a.a.O., m.w.N.) ist der Senat unter Würdigung des gesamten Akteninhalts, insbesondere der von beiden Seiten vorgelegten Untersuchungen zu den Gefahren nicht nur der Spielsucht, sondern des Glücksspiels insgesamt davon überzeugt, dass das Verbot der Veranstaltung, Vermittlung und Bewerbung von Glücksspielen im Internet eine geeignete und verhältnismäßige Maßnahme zum Schutz der Bevölkerung darstellt. Soweit die Berufungen unter Hinweis auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 13.11.2003 - C-42/02 - M. die Auffassung vertreten, dass keine wissenschaftlich gesicherten emprischen Erkenntnisse über die tatsächlichen Gefahren des Glücksspiels dargelegt seien, welche die Gesetzgeber des Bundes und der Länder ihren Regelungen hätten zu Grunde legen können, folgt der Senat der damit suggerierten Abhängigkeit demokratischer Parlamentsentscheidungen von Expertenmeinungen schon im Ansatz nicht; Anhaltspunkte dafür, dass dem Glücksspielstaatsvertrag und der darauf berufenden Gesetzgebung der Länder, insbesondere aber der Regelung in §§ 4 Abs. 4, 5 Abs. 3 GlüStV kein legitimes Allgemeininteresse zu Grunde gelegen habe, hat der Senat nicht.
Der Kohärenz der Regelung steht nicht entgegen, dass bestimmte andere Formen von privaten Glücksspielangeboten - insbesondere das Aufstellen von Münzspielautomaten und die Veranstaltung von Pferdewetten - hinsichtlich ihrer Zulässigkeit und Begrenzung vom Glücksspielstaatsvertrag abweichenden eigenständigen Regelungen unterliegen. Zum einen ist mit den Schlussanträgen des Generalanwalts P. zu betonen, dass Spielangebote im Internet besondere Gefahren mit sich bringen, die eine gesonderte und strengere Behandlung rechtfertigen. So wäre eine Begrenzung des Glücksspielangebots praktisch nicht möglich, wenn Glücksspiele im Internet angeboten würden, da dieses eine jederzeitige, inzwischen sogar mobile Verfügbarkeit von Glücksspielen ermöglicht. Zudem spricht ein Internetangebot wie das der Beklagten weitaus größere Bevölkerungskreise an als Spielautomaten in Spielhallen und Gaststätten oder Pferdewetten.
Hinzu kommt, dass die Regelung der vorgenannten Bereiche in die Kompetenz des Bundes fällt. Die verfassungsrechtliche bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes kann aber eo ipso keine Inkohärenz der auf diese Weise getroffenen Regelungen begründen. Es ist nicht ersichtlich, dass der Europäische Gerichtshof die Anforderungen an die Kohärenz staatlicher Regelungen derart weitreichend verstanden wissen will, dass die in Art. 79 Abs. 3 GG festgelegte Verfassungsidentität des Grundgesetzes - hier die Bundesstaatlichkeit gemäß Art. 20 Abs. 1 GG - in Frage gestellt würde (vgl. BVerfG, NJW 2009, 2267 [Rn. 218]; OVG Münster, a.a.O.).
Erst recht tragen die Sonderprobleme der - wenigen - fortbestehenden Erlaubnisse für private Glücksspielanbieter aus der Zeit vor der Wiedervereinigung Deutschlands zur Frage der Kohärenz der hier in Rede stehenden Regelung nichts bei.
b) Die einschlägigen Regelungen sind auch verfassungsgemäß, denn sie dienen in geeigneter und verhältnismäßiger Weise den in § 1 GlüStV niedergelegten legitimen Zwecken. Durch den Glücksspielstaatsvertrag sind - wie ausgeführt - die Vorgaben des Sportwettenurteils des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 115, 276 = GRUR 2006, 688) umgesetzt worden. Dabei verlangt dieses Urteil nicht eine "Kohärenz und Systematik” des gesamten Glücksspielsektors einschließlich des gewerberechtlich zugelassenen Automatenspiels für die Vereinbarkeit eines staatlichen Wettmonopols mit Art. 12 Abs. 1 GG, sondern lässt es aus verfassungsrechtlicher Sicht genügen, dass das beim Staat aus ordnungsrechtlichen Gründen monopolisierte Sportwettangebot konsequent und konsistent ausgestaltet ist (vgl. BVerfG NVwZ 2009, 1221 [Rn. 17]).
8. Die von der Beklagten zu Nr. 1 über ihre Internetpräsenz angebotenen, in der Urteilsformel näher bezeichneten Spiele sind Glückspiele im Sinne der Definition des § 3 Abs. 1 GlüStV. Entgegen der Auffassung der Beklagten gilt dies auch für Poker in der Version "Texas hold ’em" sowie für Glücksspiele mit einem im Cent-Bereich liegenden Einsatz für das einzelne Spiel.
a) Bei den letztgenannten Glücksspielen fehlt es nicht an dem Erfordernis, dass der Einsatz nicht ganz unerheblich ist. Es kann für die Beurteilung der Glücksspieleigenschaft nicht davon ausgegangen werden, dass ein Spieler sich auf ein einzelnes Spiel beschränkt. Vielmehr liegt den Regulierungen des Glücksspielrechts die empirisch gestützte Einschätzung zugrunde, dass ein Spielteilnehmer typischerweise gerade nicht geringfügige Verluste hinnimmt und daraus die Lehre zieht, das Spiel zu beenden, sondern sich erhofft, durch eine Fortsetzung des Spiels den Verlust nicht nur wieder auszugleichen, sondern darüber hinaus dann endlich auch den von Anfang an erhofften Gewinn zu erzielen.
b) Poker in der Variante "Texas hold ’em" ist ein Glückspiel (vgl. OVG Münster, Beschl. v. 03.12.2009 - 13 B 775/09 [Rn. 41]; OVG Lüneburg, NVwZ-RR 2010, 104; Senat, Urteil vom 12.05.2010 - 6 U 142/09). Ein Glücksspiel liegt vor, wenn im Rahmen eines Spiels für den Erwerb einer Gewinnchance ein Entgelt verlangt wird und die Entscheidung über den Gewinn ganz oder überwiegend vom Zufall abhängt. Die Entscheidung über den Gewinn hängt in jedem Fall vom Zufall ab, wenn dafür der ungewisse Eintritt oder Ausgang zukünftiger Ereignisse maßgeblich ist (§ 3 Abs. 1 Satz 1 und 2 GlüStV). Dies ist hier der Fall, denn der Gewinn eines Spielers richtet sich danach, ob seine Mitspieler früher als er aussteigen oder - falls sie dies nicht tun - welche Karten sie letztlich offenlegen. Der Pflichteinsatz und die Einsätze der dann folgenden ersten drei Bietrunden sind verloren, wenn der Spieler aussteigt. Ob er dies tut, steht zwar in seiner Entscheidung und unterliegt damit seinem Geschick. Dieses Geschick bezieht sich aber darauf, die Gewinnchancen abhängig von der Einschätzung der eigenen und der gegnerischen Karten richtig zu bewerten. Das für den Gewinn maßgebliche Ereignis liegt insoweit in dem Aufdecken der Karten und damit in der Zukunft. Dagegen spricht nicht, dass die aufzudeckenden Karten bereits feststehen. Denn ob ein Ereignis zukünftig ist, muss aus der Sicht und auf der Grundlage des Kenntnisstandes des Spielteilnehmers zum Zeitpunkt seines Einsatzes (Zahlung des Entgelts für den Erwerb einer Gewinnchance) bewertet werden. Der Spieler wettet gewissermaßen auf die Güte seines Blattes.
9. Zur Unterlassung des Internet-Spielangebots der Beklagten zu Nr. 1, für das Wiederholungsgefahr besteht, ist auch der Beklagte zu Nr. 2 als deren Geschäftsführer verpflichtet; für die persönliche Zurechnung genügt seine Stellung als Organwalter und die sich daraus ergebende Möglichkeit zur Organisation des Betriebs der Beklagten zu Nr. 1.
10. Durchgreifende Einwendungen gegen die vom Landgericht zuerkannten Annexansprüche bringen die Berufungen nicht vor.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1, 269 Abs. 3 S. 2, 525 ZPO.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO. Für eine Schutzanordnung nach § 712 ZPO besteht kein Anlass, weil nicht ersichtlich ist, dass die Vollstreckung den Beklagten einen nicht zu ersetzenden Nachteil bringen würde.
Anlass, das Verfahren auszusetzen oder eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs herbeizuführen, bestand - wie in der mündlichen Verhandlung erörtert - im Hinblick auf die europarechtlichen Fragen nicht. Der Senat vermag - wie dargelegt - keine ernsthaften Anhaltspunkte für eine Europarechtswidrigkeit des Glücksspielstaatsvertrags zu erkennen; zudem erscheint es angesichts der bisher stets nur schrittweise fortschreitenden Entwicklung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu nationalen Regelungen des Glücksspielrechts auch nicht als hinreichend wahrscheinlich, dass durch die nun anstehenden Entscheidungen eine endgültige Klärung der europarechtlichen Rechtsfragen herbeigeführt wird.
Der Senat hat gleichwohl (wie mit Urteil vom 12.05.2010 - 6 U 142/09) die Revision zugelassen, weil die Wirksamkeit der Neuregelung des Glücksspielrechts bisher noch nicht Gegenstand höchstrichterlicher Überprüfung gewesen ist.
OLG Köln:
Urteil v. 03.09.2010
Az: 6 U 196/09
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