Bundesverfassungsgericht:
Beschluss vom 17. April 2000
Aktenzeichen: 1 BvR 1331/99
(BVerfG: Beschluss v. 17.04.2000, Az.: 1 BvR 1331/99)
Tenor
1. Der Beschluss des Landgerichts Bielefeld vom 30. Oktober 1998 - Qs 559/98 I - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen.
Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
2. Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die Hälfte seiner notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Ausschließung eines Rechtsanwalts als Zeugenbeistand durch die Staatsanwaltschaft.
1. Der Beschwerdeführer ist Rechtsanwalt von Beruf. Er vertrat die Interessen einer Bank im Zusammenhang mit staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren gegen Bankmitarbeiter wegen des Verdachts der Beihilfe zur Steuerhinterziehung. Der Revisor der Bank fertigte Listen zur Identifizierung von Kunden, die anonym Gelder nach Luxemburg transferiert hatten. Die diesen so genannten Identitätslisten zugrunde liegenden Unterlagen weigerte sich die Bank auf Anraten des Beschwerdeführers an die Ermittlungsbehörden herauszugeben; die Belege wurden schließlich vernichtet.
Der Beschwerdeführer begleitete den Revisor als Zeugenbeistand, als dieser zur Klärung von Fragen im Zusammenhang mit den Listen zu einer staatsanwaltschaftlichen Vernehmung geladen war. Zu Beginn der Vernehmung machte der vernehmende Staatsanwalt den Zeugen und den Beschwerdeführer darauf aufmerksam, dass in der Person des Beschwerdeführers ein Interessenkonflikt auftreten könne, solange dieser von seinem Mandat gegenüber der Bank nicht entpflichtet werde, und wies den Beschwerdeführer als Zeugenbeistand zurück.
a) Gegen die Zurückweisung als Zeugenbeistand stellte der Beschwerdeführer Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach §§ 23 ff. des Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetz - EGGVG -, den das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 18. August 1998 als unzulässig verworfen hat. Das Verfahren nach §§ 23 ff. EGGVG diene nur der Überprüfung von Justiz- (und Vollzugs-)Verwaltungsakten, nicht aber der gerichtlichen Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Prozesshandlungen der Justizbehörden.
b) Den daraufhin von dem Beschwerdeführer entsprechend § 161 a Abs. 3 StPO gestellten Antrag hat das Landgericht mit Beschluss vom 30. Oktober 1998 als unbegründet zurückgewiesen. Bei der nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffenden Entscheidung der Staatsanwaltschaft sei zu berücksichtigen gewesen, dass konkrete Anhaltspunkte dafür bestanden hätten, dass der Zeuge in Anwesenheit des Beschwerdeführers nicht die Wahrheit gesagt hätte, was sich durch die Aussage des Zeugen bestätigt habe.
2. Mit der Verfassungsbeschwerde gegen die beiden Beschlüsse rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 und Art. 103 Abs. 1 GG.
a) Seine Zurückweisung als Zeugenbeistand sei als Justizverwaltungsakt zu behandeln; deshalb sei der Rechtsweg nach §§ 23 ff. EGGVG eröffnet. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts entzöge ihm seinen gesetzlichen Richter, versage ihm das rechtliche Gehör; zugleich sei die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG verletzt.
b) Die Entscheidung des Landgerichts verstoße gegen sein Recht auf ein faires Verfahren und sein Grundrecht auf Berufsfreiheit, gegen das Rechtsstaatsprinzip und gegen das Willkürverbot. Es gebe keine gesetzliche Grundlage für den Ausschluss des Zeugenbeistands.
3. Zu der Verfassungsbeschwerde hat der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof Stellung genommen.
Er meint, dass der Beschluss des Oberlandesgerichts nicht verfassungswidrig sei, da die Rechtsschutzgarantie des Grundgesetzes nur gewährleiste, dass das Rechtsschutzanliegen des Bürgers in einem gerichtlichen Verfahren der Prüfung zugeführt werde.
Der Beschluss des Landgerichts sei hingegen mit Art. 12 Abs. 1 GG nicht vereinbar. Es bestehe für den Ausschluss des Zeugenbeistands keine ausdrückliche gesetzliche Grundlage. Eine Anwendung des § 176 des Gerichtsverfassungsgesetzes - GVG - oder des § 164 StPO scheide vorliegend aus, da eine Störung des äußeren Ablaufs der Vernehmung durch den Beschwerdeführer nicht in Frage gestanden habe. Eine analoge Anwendung des § 146 StPO komme nicht in Betracht, da diese Vorschrift im Hinblick auf die bestehenden strukturellen Unterschiede zwischen einem Zeugenbeistand und einem Verteidiger nicht analogiefähig sei. Eine analoge Anwendung der Bestimmungen über die Ausschließung eines Verteidigers (§ 138 a Abs. 1, §§ 138 c, 138 d StPO) scheitere jedenfalls schon daran, dass vorliegend das für den Verteidigerausschluss vorgesehene Verfahren (s. §§ 138 c, 138 d StPO) auch für den Ausschluss eines Zeugenbeistands zu beobachten gewesen wäre.
Grundsätzlich könne allerdings die Verantwortung des vernehmenden Staatsanwalts für Justizförmigkeit und Rechtmäßigkeit des Verfahrens den Ausschluss rechtfertigen. Hier komme das jedoch nicht in Betracht, weil das Landgericht nicht hinreichend geprüft habe, ob tatsächlich der dringende Verdacht bestanden habe, dass mit der Beistandsleistung des Beschwerdeführers bei der Vernehmung die Begehung einer Straftat angestanden habe.
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des Landgerichts zur Entscheidung an (§ 93 b BVerfGG), weil es zur Durchsetzung des in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).
1. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts richtet, ist sie unzulässig, da ihre Begründung die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung nicht erkennen lässt.
Die Verfassungsbeschwerde ist dagegen zulässig, soweit sie sich gegen den Beschluss des Landgerichts richtet. Ihr fehlt nicht das Rechtsschutzbedürfnis, obwohl sich das Begehren inzwischen erledigt hat. Die Ausschließung des Beschwerdeführers war für diesen eine einschneidende Maßnahme, die angesichts der hierfür gegebenen Begründung auch bleibend zur Minderung seines Ansehens und zur Beeinträchtigung seiner beruflichen Tätigkeit führen kann. Zudem macht der Beschluss deutlich, dass das Landgericht die Bedeutung des Gesetzesvorbehalts in Art. 12 Abs. 1 GG grundlegend verkennt, so dass die Gefahr einer Wiederholung in zukünftigen Verfahren nicht auszuschließen ist.
2. Die Verfassungsbeschwerde führt zur Aufhebung der Entscheidung des Landgerichts. Diese verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG. Die Voraussetzungen des § 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor.
a) Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung gemäß § 93 a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG zu. Die mit ihr aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragen sind hinreichend geklärt. Sie lassen sich mit Hilfe der in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten Maßstäbe ohne weiteres beantworten.
Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Oktober 1974 (BVerfGE 38, 105) ist für den Ausschluss des Zeugenbeistands eine ausdrückliche formelle gesetzliche Grundlage erforderlich. Das Gericht hat in dieser Entscheidung, die den Ausschluss eines Zeugenbeistands durch ein Gericht betraf, auf die §§ 176 ff. GVG als mögliche Rechtsgrundlage hingewiesen und im Übrigen "den Gesetzgeber mangels sonstiger gesetzlicher Zurückweisungsgründe aufgerufen, entsprechende Regelungen unter Berücksichtigung der vom Bundesverfassungsgericht zur Entziehung der Verteidigungsbefugnis ausgesprochenen Grundsätze zu treffen" (BVerfGE 38, 105 <120>). Seitdem hat das Bundesverfassungsgericht seine Anforderungen an die hinreichende Bestimmtheit gesetzlicher Eingriffsgrundlagen verstärkt (vgl. zuletzt BVerfGE 98, 49 <59 f.>).
b) Die Entscheidung des Landgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG.
Auslegung und Anwendung des Gesetzesrechts können vom Bundesverfassungsgericht - abgesehen von Verstößen gegen das Willkürverbot - nur darauf überprüft werden, ob sie Auslegungsfehler enthalten, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des betroffenen Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen. Das ist der Fall, wenn die von den Fachgerichten vorgenommene Auslegung der Normen die Tragweite des Grundrechts nicht hinreichend berücksichtigt oder im Ergebnis zu einer unverhältnismäßigen Beschränkung der grundrechtlichen Freiheit führt (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f., 96>; 85, 248 <257 f.>; 87, 287 <323>).
So liegt es hier. Die der angegriffenen Entscheidung zugrunde liegende Annahme, der Beschwerdeführer könne als Zeugenbeistand nach pflichtgemäßem Ermessen durch die Staatsanwaltschaft ausgeschlossen werden, beruht auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der Berufsfreiheit der Rechtsanwälte und den verfassungsrechtlichen Anforderungen an gesetzliche Grundlagen, die Einschränkungen der freien Advokatur zulassen.
(aa) Das Auftreten des Beschwerdeführers als Zeugenbeistand ist Teil der Berufsausübung des Rechtsanwalts. Die umfassende Beratung in Rechtsangelegenheiten aller Art gehört zu den wesentlichen Berufsaufgaben des Rechtsanwalts. Dieses Recht findet in § 3 Abs. 1 und 2 BRAO seinen Ausdruck, wonach der Rechtsanwalt als der berufene unabhängige Berater und Vertreter in allen Rechtsangelegenheiten vor Gerichten, Schiedsgerichten oder Behörden auftreten kann (vgl. BVerfGE 34, 293 <299 f.>).
(bb) Eine den Ausschluss des Beschwerdeführers tragende formell-gesetzliche Grundlage besteht nicht. Sie ist nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG jedoch erforderlich; hierauf hat das Bundesverfassungsgericht bereits ausdrücklich hingewiesen (vgl. BVerfGE 38, 105 <120>).
Eine solche gesetzliche Ausschlussmöglichkeit für den Zeugenbeistand hat der Gesetzgeber trotz der gesetzlichen Anerkennung des anwaltlichen Zeugenbeistands in § 68 b StPO nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Oktober 1974 (BVerfGE 38, 105 ff.) bis heute nicht geschaffen, wenn man von der eng umgrenzten Ausnahme des § 406 g Abs. 2 Satz 2 StPO für den Beistand des nebenklageberechtigten Verletzten absieht. Sie ist angesichts der Tragweite des Eingriffs und der unterschiedlichen Gestaltungsmöglichkeiten aber unverzichtbar. Für den Zeugenbeistand lassen sich keine Normen aus dem Regelungszusammenhang des Rechtsanwaltsrechts oder aus übergreifenden Prinzipien der Strafprozessordnung gewinnen. Die Gesamtschau der gesetzlichen Vorschriften ermöglicht kein Leitbild des Zeugenbeistands und der ihm zugewiesenen Verfahrensrolle. Welche Vorkommnisse als Ausschlussgründe in Betracht kommen, mit welchem Grad des Verdachts ein Vorkommnis zur Überzeugung der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts feststehen muss und wem die Kompetenz zum Ausschluss als Beistand zustehen soll, ist ungeklärt. Solche Unklarheiten lassen sich weder durch Auslegung noch durch Rechtsanalogien oder Fortentwicklung des Prozessrechts beseitigen. Die Rechtslage ist derjenigen vergleichbar, über die das Bundesverfassungsgericht am 14. Februar 1973 bereits entschieden hat (BVerfGE 34, 293 <301>). Ein derart intensiver und für den betroffenen Anwalt auch endgültiger Eingriff in seine Beistandsrolle bedarf von Verfassungs wegen einer Begründung, die ihre Rechtfertigung unzweideutig, verlässlich und sicher in dem erklärten, objektivierten Willen des Gesetzgebers findet.
Mit dem Generalbundesanwalt ist davon auszugehen, dass sich aus den §§ 138 a ff., § 406 f Abs. 2 Satz 1 oder § 146 StPO keine verlässlichen Erkenntnisse für die Rechtsstellung des Zeugenbeistands gewinnen lassen. Auch auf § 164 StPO, der die Staatsanwaltschaft ermächtigt, Störer zu entfernen, kann der Ausschluss des Beschwerdeführers vorliegend nicht gestützt werden; dies wird in der angegriffenen Entscheidung auch nicht verkannt. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer die ordnungsgemäße Durchführung der Vernehmung des Zeugen behindert, erschwert oder gar unmöglich gemacht hätte. Soweit der Generalbundesanwalt eine Grundlage für den Ausschluss des Zeugenbeistands in der Verantwortung des vernehmenden Staatsanwalts für die Justizförmigkeit und Rechtmäßigkeit des Verfahrens für denkbar hält, ist dem nicht beizutreten; auch diese Rechtsfigur scheitert an den verfassungsrechtlich gebotenen Grenzen für eine Rechtsfortbildung außerhalb gesetzlich legitimierter Eingriffsbefugnisse.
c) Da die angegriffene Entscheidung bereits wegen des Verstoßes gegen Art. 12 Abs. 1 GG aufzuheben ist, bedarf es keiner Entscheidung, ob der Beschluss des Landgerichts mit Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG vereinbar ist.
3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.
BVerfG:
Beschluss v. 17.04.2000
Az: 1 BvR 1331/99
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