Bundesverfassungsgericht:
Beschluss vom 29. November 2006
Aktenzeichen: 1 BvR 704/03

(BVerfG: Beschluss v. 29.11.2006, Az.: 1 BvR 704/03)

Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird, ohne dass über den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entschieden zu werden braucht, nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft im Anschluss an die Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 27. April 1999 (BVerfGE 100, 289 – DAT/Altana) die Frage, ob bei der Bemessung der Höhe der Abfindung für im Rahmen von Eingliederungsmaßnahmen nach §§ 319 ff. AktG ausscheidende Minderheitsaktionäre der zugrunde zu legende Börsenkurs auch noch nach Bekanntgabe oder Bekanntwerden der geplanten Maßnahme berücksichtigt werden darf, oder ob der von den Zivilgerichten zwecks Ermittlung eines Durchschnittskurses festzulegende Referenzzeitraum vor diesem Zeitpunkt liegen muss.

I.

1. Der Beschwerdeführer hielt 12.000 Vorzugsaktien der Firma Nixdorf Computer Aktiengesellschaft. Diese Gesellschaft – die spätere Siemens Nixdorf Informationssysteme Aktiengesellschaft (SNI) – wurde durch Beschlüsse der Hauptversammlungen der SNI vom 5. März 1992 und der Siemens Aktiengesellschaft vom 13. März 1992 in die Siemens AG eingegliedert. Den Aktionären der SNI wurde ein Umtauschverhältnis von sechs SNI-Aktien zu einer Siemens-Aktie und ein Spitzenausgleich von DM 156,50 pro Vorzugs- oder Stammaktie der SNI angeboten. Der Beschwerdeführer hielt dieses Angebot für unzureichend und begehrte in einem Spruchverfahren die gerichtliche Festsetzung einer angemessenen Abfindung durch die Gewährung von Aktien der Siemens AG sowie für Aktienspitzen einen angemessenen Spitzenausgleich.

2. Das Landgericht hielt auf Antrag des Beschwerdeführers und weiterer ausgeschiedener Aktionäre ein Umtauschverhältnis von drei zu eins bei Zahlung eines Spitzenausgleichs von DM 209,38 je SNI-Aktie für angemessen. Hinsichtlich der Bemessung der Höhe des zugrunde zu legenden Börsenkurses wählte es einen dreimonatigen Referenzzeitraum vom 10. Oktober 1991 bis 10. Januar 1992 für die Ermittlung eines Durchschnittsbörsenkurses. Die Wahl dieses Zeitraums begründete das Landgericht damit, dass am 11. Januar 1992 in den Medien über die im Zusammenhang mit der Eingliederung vorgesehenen Abfindungskonditionen berichtet worden und in der Folge der Börsenkurs gesunken sei.

3. Im Beschwerdeverfahren entschied das Oberlandesgericht, dass anstelle eines Umtauschverhältnisses von drei zu eins ein Umtauschverhältnis von 13 SNI-Aktien zu drei Siemens-Aktien angemessen sei (entsprechend 4,33 zu 1). Aktienspitzen seien durch bare Zuzahlung von € 76,90 (entsprechend DM 150,41) je Aktie der SNI auszugleichen. Ausgehend von dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 12. März 2001 (BGHZ 147, 108), wonach ein Referenzzeitraum von drei Monaten erforderlich, aber auch ausreichend sei, der unmittelbar vor der Hauptversammlung der beherrschten Aktiengesellschaft liege, legte das Oberlandesgericht einen Referenzzeitraum vom 6. Dezember 1991 bis zum 5. März 1992, dem Tag der Beschlussfassung der Hauptversammlung der SNI, zugrunde und gelangte in Folge des nach der Bekanntgabe der geplanten Eingliederungsmaßnahme gesunkenen Börsenkurses der SNI zu dem im Vergleich zum Beschluss des Landgerichts niedrigeren Abfindungsbetrag.

4. Der Beschwerdeführer rügt mit seiner Verfassungsbeschwerde unter anderem die Verletzung von Art. 14 Abs. 1 GG durch den Beschluss des Oberlandesgerichts. Dieser legitimiere eine unangemessen niedrige Umtauschrelation und einen zu niedrig angesetzten Barausgleich für Aktienspitzen unter Verstoß gegen die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 27. April 1999 (BVerfGE 100, 289). Nach dieser Entscheidung sei der Minderheitsaktionär so zu stellen, wie wenn er eine freie Deinvestitionsentscheidung getroffen hätte. Die zur Abfindung zwingende Maßnahme dürfe deshalb nicht selbst Einfluss auf die Höhe der Abfindung zum Nachteil des Ausscheidenden nehmen. Eine freie Deinvestitionsentscheidung liege aus Sicht des betroffenen Minderheitsaktionärs nicht vor, wenn unterhalb des Börsenkurses liegende Abfindungskonditionen bekannt geworden seien, weil die Entscheidung dann bereits durch die Konzernmaßnahme und deren Konditionen geprägt sei. Es dürfe nicht der zur Entschädigung für ihren Eigentumseingriff verpflichteten Obergesellschaft überlassen werden, mit einem unterhalb des Börsenkurses liegenden Abfindungsangebot den Referenzkurs für die Spruchentscheidung praktisch vorzugeben und damit die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts ins Leere laufen zu lassen. Das Oberlandesgericht hätte deshalb – wie das Landgericht – einen Referenzzeitraum vor Bekanntwerden der Eingliederungsabsicht wählen müssen.

II.

Gründe für die Annahme der Verfassungsbeschwerde im Sinne von § 93 a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor.

1. Grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung kommt der Verfassungsbeschwerde nicht zu (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG). Sie wirft keine Fragen auf, die sich nicht ohne weiteres aus dem Grundgesetz beantworten lassen oder die noch nicht durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung geklärt sind (vgl. BVerfGE 90, 22 <24 f.>). Insbesondere sind die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Berücksichtigung des Börsenkurses bei der Bemessung der Abfindung ausscheidender Aktionäre im Rahmen von Eingliederungsmaßnahmen gemäß §§ 319 ff. AktG in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hinreichend geklärt (vgl. BVerfGE 100, 289 <302 ff.>).

2. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung von in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechten des Beschwerdeführers angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg. Hinsichtlich der Festsetzung des Streitwerts für die Gebührenberechnung des Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig. Im Übrigen ist sie zulässig, aber unbegründet.

Der Beschwerdeführer wird durch den Beschluss des Oberlandesgerichts über die Höhe der Abfindung nicht in seinem Recht aus Art. 14 Abs. 1 GG verletzt.

a) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgt aus Art. 14 Abs. 1 GG, dass der Aktionär im Fall der Eingliederung "seiner" Aktiengesellschaft in eine andere wertmäßig voll für den Verlust seiner Aktionärsstellung zu entschädigen ist (vgl. BVerfGE 100, 289 <304 f.>). Zwar schützt ihn Art. 14 Abs. 1 GG – wie das Bundesverfassungsgericht bereits in der Feldmühle-Entscheidung (BVerfGE 14, 263 <278 ff.>) entschieden hat - nicht davor, dass er seine Stellung als Aktionär verliert, er ist jedoch wertmäßig für den Verlust seiner Aktionärsstellung voll zu entschädigen, und dabei ist hinsichtlich der Höhe der Entschädigung nach dem "wahren Wert" seiner Beteiligung zu fragen. Die von Art. 14 Abs. 1 GG geforderte "volle" Entschädigung darf jedenfalls nicht unter dem Verkehrswert liegen. Dieser kann bei börsennotierten Unternehmen nicht ohne Rücksicht auf den Börsenkurs festgesetzt werden (vgl. BVerfGE 100, 289 <305>). Die Abfindung muss so bemessen sein, dass die Minderheitsaktionäre den Gegenwert ihrer Gesellschaftsbeteiligung erhalten. Darüber hinaus muss die Abfindung so bemessen sein, dass die Minderheitsaktionäre jedenfalls nicht weniger erhalten, als sie bei einer freien Deinvestitionsentscheidung zum Zeitpunkt der Eingliederung erlangt hätten. Eine geringere Abfindung würde der Dispositionsfreiheit über den Eigentumsgegenstand nicht hinreichend Rechnung tragen (vgl. BVerfGE 100, 289 <306>).

Art. 14 Abs. 1 GG verlangt jedoch nicht, dass gerade der Börsenkurs zum Bewertungsstichtag gemäß § 320 b Abs. 1 Satz 5 AktG zur Untergrenze der Barabfindung gemacht wird. Da die Eingliederungskonditionen den Marktteilnehmern vor diesem Stichtag jedenfalls während der mindestens einmonatigen Einberufungsfrist zur Hauptversammlung, auf der über die Eingliederung abgestimmt wird, bekannt sind, hätten Interessenten sonst die Möglichkeit, den Börsenkurs während dieser Zeit auf Kosten des Mehrheitsaktionärs in die Höhe zu treiben. Wie der Stichtag festzusetzen ist, gibt die Verfassung nicht vor. Entscheidend ist allein, dass die Zivilgerichte durch die Wahl eines entsprechenden Referenzkurses einem Missbrauch beider Seiten begegnen. Sie können insoweit etwa auf einen Durchschnittskurs im Vorfeld der Bekanntgabe des Unternehmensvertrags zurückgreifen. Zwar muss die angemessene Barabfindung die Verhältnisse der Gesellschaft "im Zeitpunkt der Beschlussfassung ihrer Hauptversammlung" über die Eingliederung (§ 320 b Abs. 1 Satz 5 AktG) berücksichtigen. Zu den im Berücksichtigungszeitpunkt maßgeblichen Verhältnissen gehört aber nicht nur der Tageskurs, sondern auch ein auf diesen Tag bezogener Durchschnittswert (vgl. BVerfGE 100, 289 <309 f.>).

b) Der Bundesgerichtshof hat auf der Grundlage der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts mit Beschluss vom 12. März 2001 (BGHZ 147, 108) entschieden, dass für die Festsetzung der angemessenen Barabfindung sowohl der Börsenkurs zum Stichtag der Hauptversammlung als auch ein auf den Stichtag bezogener Durchschnittskurs in Betracht kämen, der aus den für einen bestimmten Zeitraum festgestellten Kursen gebildet wird. Aus Gründen der Rechtssicherheit sei auf einen auf den Stichtag im Sinne des § 320 b Abs. 1 Satz 5 AktG bezogenen Durchschnittskurs abzustellen. Dabei sei ein Referenzzeitraum von drei Monaten, der unmittelbar vor der Hauptversammlung der beherrschten Aktiengesellschaft liege, erforderlich, aber auch ausreichend, um den vom Bundesverfassungsgericht angesprochenen Missbrauchsgefahren wirksam begegnen zu können.

c) Die Instanzgerichte sind der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs weitgehend gefolgt (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 31. Juli 2001 – 11 W 29/94 -, NZG 2002, S. 189; OLG Hamburg, Beschluss vom 7. August 2002 – 11 W 14/94 -, NZG 2003, S. 89 <90>; OLG Stuttgart, Beschluss vom 1. Oktober 2003 - 4 W 34/93 -, DB 2003, S. 2429; abweichend OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 9. Januar 2003 – 20 W 434/93, 20 W 425/93 -, AG 2003, S. 581 <582>), im aktienrechtlichen Schrifttum ist sie dagegen überwiegend auf Kritik gestoßen. Danach sollen Kurse nach Bekanntwerden der Maßnahme außer Betracht bleiben (vgl. nur Behnke, NZG 1999, S. 934; Wilm, NZG 2000, S. 234 <239>; Wilm, NZG 2000, S. 1070 <1071>; Bungert/Eckert, BB 2000, S. 1845 <1849>; Puszkajler, BB 2003, S. 1692 <1694>; Krieger, in: Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Band 4, Aktiengesellschaft, 2. Aufl. 1999, § 70 Rn. 106). Begründet wird dies unter anderem damit, dass diese Ansicht in § 5 Abs. 1 der Verordnung über den Inhalt der Angebotsunterlage, die Gegenleistung bei Übernahmeangeboten und Pflichtangeboten und die Befreiung von der Verpflichtung zur Veröffentlichung und zur Abgabe eines Angebots (WpÜG-Angebotsverordnung) vom 27. Dezember 2001 (BGBl I S. 4263) eine normative Stütze gefunden habe. Nach dieser Vorschrift muss bei einem Übernahmeangebot die Gegenleistung für die Aktien der Zielgesellschaft mindestens dem gewichteten durchschnittlichen inländischen Börsenkurs dieser Aktien während der letzten drei Monate vor der Veröffentlichung des Übernahmeangebots entsprechen. Zudem sei es nicht auszuschließen, sondern eher naheliegend, dass Börsenkurse nach Bekanntgabe der abfindungspflichtigen Maßnahme von Abfindungsspekulationen geprägt, in Einzelfällen auch von Aufkäufen des herrschenden Unternehmens beeinflusst seien. Das entspreche nicht dem maßgeblichen Leitbild einer Bewertung des Unternehmens (vgl. nur Hüffer, Aktiengesetz, 7. Aufl. 2006, § 305 Rn. 24 e m.w.N.; Meilicke/Heidel, DB 2001, S. 973 <974 f.>; Bungert, BB 2001, S. 1163 <1164 ff.>).

d) Der Beschluss des Oberlandesgerichts hält den durch den Bundesgerichtshof konkretisierten Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts stand. Die Kritik des aktienrechtlichen Schrifttums an der Rechtsprechung der Fachgerichte hat – ungeachtet der Frage ihrer Berechtigung auf der Ebene des einfachen Rechts - keinen verfassungsrechtlichen Gehalt.

Aus der Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 27. April 1999 (BVerfGE 100, 289) folgt für die Bestimmung des Referenzzeitraums, dass auch die Zeit nach Bekanntgabe oder Bekanntwerden der Maßnahme in diesen einfließen darf. Der Referenzzeitraum muss also nicht auf einen Zeitraum vor Bekanntgabe oder Bekanntwerden der geplanten Maßnahme beschränkt werden.

Die Berücksichtigung eines Zeitraums nach Bekanntwerden der Maßnahme widerspricht insbesondere nicht der Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, wonach der Aktionär so gestellt werden muss, wie er bei einer freien Deinvestitionsentscheidung stünde. Denn auch nach Bekanntwerden der Maßnahme kann er noch eine freie Deinvestitionsentscheidung treffen. Dadurch, dass nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Abfindungshöhe nach unten durch das Mittel des Börsenkurses während der letzten drei Monate vor der Beschlussfassung der Hauptversammlung begrenzt ist, muss der Minderheitsaktionär - selbst wenn durch das Bekanntwerden der geplanten Eingliederung der Börsenkurs bereits gesunken ist - nicht ein weiteres durch die Eingliederung bedingtes Absinken des Kurses befürchten. Er ist damit bis zum Wirksamwerden der Maßnahme (mit der Eintragung der Eingliederung im Handelsregister) frei, seine Aktien über den Markt zu veräußern, oder dies zu unterlassen. Allein dadurch, dass der Wert seiner Aktien unter Umständen durch das Bekanntwerden der geplanten Maßnahme zuvor erheblich gesunken ist, wird diese Entscheidung nicht unfrei. Er erhält lediglich das, was seine Beteiligung objektiv auch zuvor bereits wert war. Insofern stellt der Börsenkurs das Ergebnis eines tatsächlich stattfindenden Preisbildungsprozesses am Markt dar und beruht auf einer Beurteilung des Unternehmens durch die Anleger aufgrund möglichst umfassender Informationen. Demnach ist die bloße Bekanntgabe der Eingliederungsabsicht mit möglicherweise negativen Folgen für den Börsenkurs kein Eingriff in das Aktieneigentum, vor dem Art. 14 Abs. 1 GG schützen will, sondern ein Umstand, der dem Kapitalmarkt eine wahrheitsgetreue Bewertung ermöglicht. Die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, den Minderheitsaktionär wertmäßig wie bei einer freien Deinvestitionsentscheidung zu stellen, bedeutet daher nicht – wie eine Parallele zum Schadensersatz nach den §§ 249 ff. BGB nahe legen könnte –, ihn so zu stellen, wie er ohne die Eingliederungsabsicht der herrschenden Gesellschaft (als "schädigende Maßnahme") stünde. Er ist vielmehr lediglich für den durch den Eingliederungsvorgang selbst bedingten Verlust seiner Aktionärsstellung zu entschädigen, die wiederum schon geprägt war von der Fähigkeit der mit entsprechender Aktienmehrheit ausgestatteten Obergesellschaft, einen Eingliederungsbeschluss auch gegen den Willen des Minderheitsaktionärs zu treffen.

Zu begegnen ist nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in der Entscheidung vom 27. April 1999 (BVerfGE 100, 289 <310>) lediglich Missbrauchsgefahren. Ein solcher Missbrauch liegt allerdings nicht allein in der Bekanntgabe der Eingliederungsmaßnahme. Das folgt schon daraus, dass die Obergesellschaft aktienrechtlich verpflichtet ist, die Eingliederungsmaßnahme mindestens einen Monat vor der Hauptversammlung, auf der über diese abgestimmt werden soll, bekannt zu machen (vgl. § 319 Abs. 3 i.V.m. § 123 Abs. 1 AktG). Ein Missbrauch kommt aber etwa dann in Betracht, wenn die Obergesellschaft die Information über die beabsichtigte Maßnahme gezielt zur Einflussnahme auf den Aktienkurs im Referenzzeitraum nutzt. Hierfür müssen allerdings konkrete Anhaltspunkte bestehen, die von dem ausscheidenden Minderheitsaktionär vor den Zivilgerichten darzulegen und zu beweisen sind. Sofern das Oberlandesgericht dagegen davon ausgegangen ist, dass Spekulationen über die Höhe der Abfindung nicht zu den auszuschließenden Umständen gehören, verstößt dies nicht gegen Art. 14 Abs. 1 GG, da nicht ersichtlich ist, dass die eingliedernde Obergesellschaft Einfluss auf derartige Spekulationen genommen hat. Die Gefahr, dass die herrschende Gesellschaft durch frühzeitige Bekanntgabe der Eingliederungsabsicht und eines zu niedrigen Abfindungsangebots gezielt Einfluss auf den Referenzkurs nehmen kann, besteht nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 12. März 2001 (BGHZ 147, 108) nicht mehr, weil danach die Höhe der Abfindung nicht von der herrschenden Gesellschaft vorgegeben werden kann, sondern der Durchschnittskurs während der letzten drei Monate vor dem Hauptversammlungstag jedenfalls die Untergrenze der Abfindung bestimmt. Auch Anhaltspunkte dafür, dass einer der vom Bundesverfassungsgericht genannten Tatbestände vorliegt, bei deren Vorliegen der Börsenkurs ausnahmsweise nicht geeignet ist, den Unternehmenswert wahrheitsgetreu anzugeben, wie etwa das Vorliegen einer Marktenge (vgl. BVerfGE 100, 289 <309>), hat der Beschwerdeführer nicht vorgetragen.

Aus der in § 5 Abs. 1 der WpÜG-Angebotsverordnung zum Ausdruck kommenden gesetzgeberischen Wertung folgt in verfassungsrechtlicher Hinsicht keine andere Beurteilung. Zwar mögen auf der Ebene des einfachen Rechts gute Gründe für die im Schrifttum geäußerte Ansicht sprechen, wonach auf einen Durchschnittskurs im Vorfeld der Bekanntgabe der Eingliederungsmaßnahme zurückzugreifen ist. Dies würde auch verfassungsrechtlich keinen Bedenken begegnen, worauf das Bundesverfassungsgericht in seiner Grundsatzentscheidung vom 27. April 1999 ausdrücklich hingewiesen hat (vgl. BVerfGE 100, 289 <310>). Daraus folgt jedoch nicht umgekehrt, dass die im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs stehende Ansicht des Oberlandesgerichts, der Tag der Hauptversammlung sei als Rückrechnungszeitpunkt für die Referenzperiode zu wählen, nicht mit der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG und den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts vereinbar ist. Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, dass die Verfassung nicht vorgibt, wie der Stichtag oder die Referenzperiode festzusetzen ist. Es hat insoweit lediglich gefordert, dass die angemessene Barabfindung die Verhältnisse der Gesellschaft "im Zeitpunkt der Beschlussfassung ihrer Hauptversammlung" über die Eingliederung (§ 320 b Abs. 1 Satz 5 AktG) berücksichtigen muss. Soweit die Fachgerichte hieraus ableiten, dass zum Zwecke des Ausschlusses von Missbrauchsgefahren ein von diesem Tag zurückgerechneter dreimonatiger Referenzzeitraum zu wählen ist, mag es im Hinblick auf den intendierten Schutz der Minderheitsaktionäre besser sein, auf eine Referenzperiode im Vorfeld der Bekanntgabe der Maßnahme abzustellen, einen Verstoß gegen die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG stellt diese Rechtsprechung gleichwohl nicht dar.

III.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93 d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).






BVerfG:
Beschluss v. 29.11.2006
Az: 1 BvR 704/03


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